„Das noch nicht Gesagte sichtbar machen“. Die Bundesverfassungsrichterin a.D. Susanne Baer im Interview
Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, Heft 1-2024, S. 28-40.
Femina Politica (FP): Im Interview, das wir 2012 mit dir führten (Baer 2012), hattest du den Anspruch formuliert, dem Amt als Bundesverfassungsrichterin gerecht zu werden – gerade auch aus dem Grund, weil es ein Amt ist, das die Demokratie so wenigen Menschen für eine Zeit von zwölf Jahren eine so große Macht gibt. Wie schätzt du es heute und im Rückblick auf deine Tätigkeit als Bundesverfassungsrichterin ein: Ist es dir aus deiner Sicht gelungen, dem Amt gerecht zu werden?1
Susanne Baer (SB): Die Antwort auf die Frage, ob mir das gelungen ist, obliegt wohl letztlich anderen. Das wären zum einen meine Kollegen und Kolleginnen, die alles gesehen haben, was hinter den Kulissen stattfindet. Denn vieles, was das Verfassungsgericht macht, wird nach außen ja nicht sichtbar, aber trägt trotzdem die Institution. Zum anderen wären das – letztlich für mich entscheidender – die Bürgerinnen und Bürger, die Politik, die Institutionen, die Anwaltschaft, die Gerichte, also das Publikum und die von den Entscheidungen Adressierten. Sie alle haben hoffentlich den Eindruck gewonnen, dass wir mit dem, was wir gemacht haben, überzeugt haben. Und ich falle da sofort ins Wir, weil die Mühe, dem Amt gerecht zu werden, ein Bemühen darum war und ist, sich in einem Wir zu platzieren, also gemeinsam wirksam zu werden. Das ist eine sehr spezielle Konstellation, in der so ein Amt gefüllt wird.
FP: Konntest du bestimmte Vorstellungen und Erwartungen in Zusammenarbeit mit anderen umsetzen, aber auch eigene Perspektiven, Ideen und Vorstellungen einbringen?
SB: Als ich zu meiner eigenen und der Überraschung vieler anderer gewählt wurde – und auchFemina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft Heft 1-2024: „Das noch nicht Gesagte sichtbar machen“. Die Bundesverfassungsrichterin a.D. Susanne Baer im Interviewschon, als ich gefragt wurde, ob ich mich zur Wahl vorschlagen lassen würde – hatte ich kein Programm. Aber ich hatte das Grundgesetz in der Hand. Und das Grundgesetz ist eine tolle Verfassung. Das genügt als Arbeitsauftrag. Im Laufe der Zeit wurde mir dann klar, dass ich an dieses Gericht als eine zutiefst feministisch kritische Rechtswissenschaftlerin gekommen war – und das bedeutet, die juristischen Probleme vom Leben her zu denken. Das unterscheidet sich fundamental von Menschen, die lange professionell trainiert haben und auch darin sozialisiert sind, Probleme von der Norm her zu begreifen. Insofern gab es durchgängig die Erfahrung, dass mein Bemühen, dem Amt gerecht zu werden, daran hing, von der Lebensrealität her zu denken. Und das bedeutet, Lebensrealitäten immer als ungleiche, vermachtete Verhältnisse zu sehen, und in dubio Erfahrungen vor Gericht auch als Verhältnisse der Ungerechtigkeitserfahrungen zu betrachten.
Dazu kommt natürlich, dass man juristisch auf der Höhe der Zeit sein muss. Das bedeutet nicht nur, wirklich sehr viel zu arbeiten, um das Verfassungsrecht und auch das Völkerrecht zu verstehen, denn die gehören in Deutschland zusammen. Man muss insofern das Normative im Griff haben. Aber diesem Amt wirklich gerecht werden, konnte ich nur über die Perspektivierung eines juristischen Problems eben vom Leben aus, von den Menschen und ihren Erfahrungen aus, also mit der sozialen Realität, die an das Gericht herangetragen wurde.
FP: Verstehe ich es richtig, dass kein anderes justizielles Amt es ermöglicht, dieses normative Wissen oder dieses Wissen um die Norm, welches Du als Rechtsprofessorin und Wissenschaftlerin erarbeitet hast, im Verhältnis zum Leben oder zu den realen gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu denken?
SB: Nein, das ist in jedem Justizamt gefordert. Alle Richterinnen und Richter haben die Aufgabe, die unterschiedlichen Perspektiven, Bedürfnisse, Erfahrungen der Menschen, die zu ihnen kommen und nach Recht suchen, ernst zu nehmen, zu begreifen und wirklich zu erfassen. Ich bin nur auch rechtssoziologisch trainiert, weiß also um methodische Ansprüche, und als feministische Wissenschaftlerin ist mir die Ambivalenz von Erfahrungen und die Begrenztheit subjektiver Deutung bewusst. Das sind Grundsteine für eine Reflektion dessen, was an das Gericht herangetragen wird, und sie sind nicht selbstverständlicher Teil einer juristischen Ausbildung. Ich glaube, es war wichtig, dieses interdisziplinäre Wissen zu haben. Aber die Fähigkeit, das Leben wirklich zu sehen, ist in jedem justiziellen Amt gefordert. Es gibt ja auch viele Richter und Richterinnen, die sich insofern über Fortbildung oder Supervision engagieren, weil ihnen bewusst ist, dass sie beispielsweise Konfliktdynamiken, Altersunterschiede, Wahrnehmungsunterschiede oder Sozialisation verstehen müssen. Das ist im Familiengericht oder im Sozialgericht besonders deutlich, und da gibt es viel Bemühen.
Das Verfassungsgericht hat dann nur die Besonderheit, letzte Instanz zu sein und mit einer breiten Wirkung für die gesamte Gesellschaft zu entscheiden. Die Fälle sind jeweils konkret, aber das Grundgesetz wird maßstäblich ausgedeutet und was entschieden wird, gilt als normative Orientierung, als Rahmen für die Politik und für die Zukunft. Deshalb geht die Arbeit des Verfassungsgerichts immer deutlich über den Einzelfall hinaus. Diese Verantwortung macht den Versuch, der Sache wirklich gerecht zu werden, wohl noch anspruchsvoller.
Wenn ich hoffentlich begriffen habe, was die Menschen umtreibt, muss ich als Verfassungsrichterin auch noch begreifen, was eine Entscheidung bewirken wird. Also: Wenn wir die Menschenwürde zu einem Ankerpunkt für soziale Grundsicherung machen oder wenn im Demokratieprinzip etwas Resilienz gegen die Feinde des Demokratischen eingebaut wird – dann ist das mehr als der eine Fall. Es ist schon anspruchsvoll, diese Entscheidungen normativ konsequent und eingebettet in die internationale Ordnung zu denken. Darüber hinaus muss ein Verfassungsgericht aber auch das politische Gefüge, die Governance-Strukturen und nicht nur Folgen, sondern auch Effekte begreifen, mitdenken, ‚einpreisen‘. Es formuliert für einen langen Zeitraum Maßgaben für politisches Handeln, und für viele politische und wirtschaftliche Akteure.
Für mich war jedenfalls das Bemühen, dem Amt gerecht zu werden, ein Doppeltes: erstens zu verstehen, was die Leute umtreibt, die zu uns kommen und was für sie damit verbunden ist; und zweitens zu verstehen, was unsere Intervention in einer demokratischen Gesellschaft und in Bezug auf soziale Verhältnisse bewirkt. Es war für mich eine dauernd präsente Herausforderung. Durch meine spezifische wissenschaftliche Prägung war sie mir noch dazu sehr nah.
FP: Gibt es Punkte, an denen sich deine Erwartungen nicht erfüllt haben oder die besonders schwierig in der Umsetzung waren?
SB: Das ist schwer zu sagen. Ich habe mich zumindest bemüht, die feministische Brille nicht abzusetzen, also das Noch-Nicht-Gesagte, das Noch-Nicht-Thematisierte und das Nicht-Präsente (oder Nicht-Sichtbare) zu erkennen. Also Fragen zu dem, was nicht auf der Hand liegt, zu stellen. Angesichts dessen, dass aber immer schon sehr viel auf dem Tisch liegt, ist dies allerdings nicht leicht. Daher bin ich nicht sicher, ob ich wirklich jedes Mal gefragt habe: Wie ist das mit den Frauen? Hat das eine Geschlechterdimension? Gibt es eine geschlechtsspezifische Benachteiligung oder Folgen? Das wäre im Steuerrecht, im Sozialrecht, im Arbeitsrecht und auch anderen Rechtsgebieten je eigentlich gefordert, vertieft und systematisch zu fragen und nach den Antworten sehr gründlich zu suchen. Ich habe das von mir verlangt und hatte auch den Eindruck, dass Leute das von mir erwarten, als ‚radikale Feministin‘ im Amt. Das war und das blieb eine Aufgabe. Aber ich bin mir eben nicht sicher, ob das – angesichts der Fülle der Arbeit und der Verantwortung in so vieler Hinsicht – immer perfekt gelungen ist.
Ein Thema war natürlich auch eine geschlechtergerechte Sprache. Das ist für mich immer auch verständliche Sprache, als Gericht auch als Teil des Sprechens zu einer Welt, die sich gehört fühlen muss. Das Bemühen darum, oft sehr komplexe Verhältnisse einfacher, gradliniger und nachvollziehbarer zu formulieren, hat meine Arbeit sehr geprägt. Und das hat die Kolleginnen und Kollegen an bestimmten Stellen wohl auch gefordert. Ich war nicht immer erfolgreich, aber ein Teil dessen, worum ich mich bemüht habe.
Und dann gibt es die Geschlechterfragen im Recht. Sie sind heute als intersektionale Fragen zu stellen. Die Mehrdimensionalität von Benachteiligung lag in einigen Fällen deutlich auf der Hand – das ließ sich dann einbringen und auch einfordern, wie in der zweiten Kopftuchentscheidung des Verfassungsgerichts. Aber es gibt andere Problemlagen, in denen nicht die Möglichkeit bestand, diese Mehrdimensionalität auszuleuchten. Die Arbeit als Verfassungsrichterin ist wohl eher eine intensive Suche und ein Alles-Tun, um möglichst viel zu begreifen. Aber es wäre vermutlich naiv zu meinen, dass das je komplett gelingt.
FP: Wie hat sich insgesamt innerhalb der Gruppe der Verfassungsrichter*innen oder am Verfassungsgericht selbst der Erkenntnisstand zur Bedeutung von Geschlecht und der Geschlechterperspektive entwickelt? Konntest du in den letzten Jahren eine Entwicklung hin zu einer größeren Relevanz von Geschlechteraspekten feststellen?
SB: Karlsruhe hat eine sehr schöne und lange Geschichte, insbesondere die Gleichberechtigung von Frauen und Männern intensiv zu reflektieren. Es sind ziemlich viele Fälle an die Verfassungsrichterinnen und -richter herangetragen worden und sie haben meist progressiv entschieden, wohl mit Ausnahme der Urteile zur Abtreibung (siehe auch Berghahn in diesem Heft, Red.). Das geschah lange vor meiner Zeit und betraf auch nicht nur im Hinblick auf Geschlechterverhältnisse im engeren Sinne, sondern zum Beispiel auch im Hinblick auf die Rechte von Transsexuellen.2 Ein jüngeres Beispiel ist dann die Entscheidung zur dritten Option von Intersexuellen. Insofern werden auch verfassungsrechtlich diverse Geschlechterkonstellationen und -fragen behandelt.
Als Verfassungsrichterin ist dann die Aufgabe, einerseits einen frischen Blick auf die Dinge zu werfen, aber andererseits auch nicht unberechenbar zu werden. Die Vorläufer, die Präjudizien, die Präzedenzfälle müssen ernstgenommen und zur Grundlage werden. Hier ging das eben guten Gewissens, da musste niemand viel hinzuerfinden. Zudem gehörte zum Glück meiner Amtszeit, dass ich nicht die Einzige war, die dort feministische Perspektiven einbrachte. Insofern war ich nicht allein. Das ist in einer Gruppe von acht Personen wichtig. Meine Kollegen und Kolleginnen habe ich zudem als aufgeschlossen erlebt. Manchmal waren sie skeptisch, manchmal brachten sie ein völlig anderes Vorverständnis mit, aber ich habe keine kognitive Renitenz erlebt. Das war schon eine besondere Konstellation.
Anmerkungen
1 Die Schwerpunktherausgeberinnen danken Laura Jachmich herzlich für die Transkription des Interviews. Die Literaturhinweise in diesem Interview stammen von den Schwerpunktherausgeberinnen.
2 1 BvR 2019/16, vgl. https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2017/bvg17-095.html (26.1.2024)
* * *
Sie möchten gerne weiterlesen? Dieser Beitrag ist in Heft 1-2024 unserer Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft erschienen.
Mehr Leseproben …
… finden Sie auf unserem Blog.
© Unsplash 2024, Foto: Yves Cedric Schulze