„Handbuch Kindheit, Ökologie und Nachhaltigkeit“ von Rita Braches-Chyrek, Charlotte Röhner, Heinz Sünker und Jo Moran-Ellis (Hrsg.): Leseprobe

Leseprobe Handbuch Kindheit Ökologie und Nachhaltigkeit

Eine Leseprobe aus Handbuch Kindheit, Ökologie und Nachhaltigkeit von Rita Braches-Chyrek, Charlotte Röhner, Heinz Sünker und Jo Moran-Ellis (Hrsg.), Kapitel „Kindheit, Nachhaltigkeit und Ökologie“.

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Kindheit, Nachhaltigkeit und Ökologie

Rita Braches-Chyrek/Charlotte Röhner/Jo Moran-Ellis/Heinz Sünker

Das Abschmelzen der Gletscher, Flutkatastrophen, Dürren im weltweiten Maßstab und nun auch europaweite Waldbrände sind die unübersehbaren Folgen der Klimakrise. Infolge der CO₂-Emissionen, der industriellen Produktionsweise sowie der nicht nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen hat sie ein Ausmaß angenommen, das ein Wegdenken der Ursachen und Konsequenzen der globalen Umweltkrise nicht mehr zulässt. Der Fortbestand des Planeten und somit der Menschheit wird nach dem internationalen Kenntnisstand der Klimaforschung deutlich in Frage gestellt (IPCC-Bericht). Die Grenzen des industriellen Wachstums, die der Club of Rome bereits in den 1970er Jahren aufgezeigt hat, wurden von den westlichen Gesellschaften, die maßgeblich für den natürlichen Ressourcenverbrauch verantwortlich sind, über Dekaden ignoriert und blieben im politischen Handeln der führenden europäischen und nordamerikanischen Staaten unberücksichtigt. Die ökologischen Folgen einer auf ökonomische Wachstums- und kapitalistische Verwertungsstrategien ausgerichteten Politik waren offenkundig und ihre Auswirkungen auf die Länder des globalen Südens erkennbar. Diese Länder sind von den Folgen des Klimawandels ungleich stärker betroffen als die Verursacher der Klimakrise im globalen Norden. Mittlerweile liegen eine Reihe interdisziplinärer Analysen vor, die die strukturellen Faktoren des globalen Wohlstandsgefälles aus ungleichheitstheoretischen Perspektiven untersuchen und dem generationenübergreifenden Anspruch der nachhaltigen Nutzung von Ressourcen Rechnung tragen (Lessenich 2020; Reitemeier/ Schanbacher/Scherr 2019; Göbl 2019; Barth/Henkel 2020; Blühdorn 2020; Brocci 2019; Kluwick/Zemanek 2019). Als Ansatzpunkte eines nachhaltigen Wandels werden insbesondere der „Umbau reicher Volkswirtschaften in Postwachstumsökonomien bis hin zu einem globalen Sozialvertrag zur Begrenzung des Klimawandels bzw. der egalitären Bewältigung seiner Folgen“ (Lessenich 2020: 200) postuliert sowie eine transnationale Rechtspolitik, „die weltweit sich vollziehende Berechtigungskampfe unterstützt und globale soziale Rechte wirkungsvoll verankert“ (ebd.: 200f.). Dieser Argumentationslogik, welche die Klimakrise als Krise des fossilen Kapitalismus und als fundamentale Gerechtigkeitskrise versteht, folgt die wirkmächtige Kinder- und Jugendbewegung Fridays for Future, die im weltweiten Maßstab Generationengerechtigkeit für sich und nachfolgende Generationen fordert (Neubauer/Repenning 2019/2020) und ihre politische Handlungsmacht ansatzweise ausbauen konnte (Wagner/Hennicke; Deckert-Peaceman; Rohner, C. i. d. Bd.). „Dadurch stieg zwar das ökologische Bewusstsein weitester Bevölkerungsschichten in diesen Ländern merklich an, aber die daraus resultierenden Einschränkungen erweisen sich letztlich als ein Tropfen auf den heißen Stein. Trotz alledem stieg die Temperatur weiterhin an, trotz alledem nahm der Fleischbedarf weiterhin zu, trotz alledem vergrößerte sich der Massenumsatz technologischer Gebrauchsartikel und die damit verbundene Abnahme natürlicher Ressourcen, trotz alledem nahm die Elektrifizierung weiterhin zu, trotz alldem kam es zu einer fortschreitenden Besiedlungsausweitung und dem sich daraus ergebenden Rückgang landwirtschaftlicher Nutzflachen. Mit zwar wohlgemeinten, aber bisher ineffektiven Maßhalteparolen oder Reformen ist diese Entwicklung, wie viele der mit den diesbezüglichen Fakten und Statistiken Vertrauten wissen, nicht aufzuhalten“ (Hermand 2020: 8).

Daher stellt sich die Frage, wie die Debatten um den Zusammenhang von Ökologie, Nachhaltigkeit, Post-Wachstum und sozialer Gerechtigkeit mit dem Leben von Kindern und Formen von Kindheiten zu verknüpfen sind, in sehr dringlicher Weise. Sie ist in der Erziehungswissenschaft bisher kaum gestellt, geschweige denn angemessen diskutiert worden. Ein kritisches Engagement in öffentlichen Debatten wäre aber entscheidend, um zu klären, welche Mittel notwendig sind, um eine menschliche, demokratische Zukunft zu entwickeln – und dies auf der Basis eines fundierten gesellschaftstheoretischen, gesellschafts- wie sozialpolitischen, pädagogischen, soziologischen und naturwissenschaftlichen Wissens.

In diesem Handbuch geht es uns darum, jene Kontexte und Konstellationen wie Orte, die für das Leben von Kindern, ihre Erfahrungen, Perspektiven und Interessen wie Besorgnisse als auch die diversifizierten Gestaltungen ihrer Kindheiten relevant sind, mit gegenwärtigen Problemstellungen und Interventionsperspektiven zu vermitteln, die durch einen neuen denkerischen Umgang mit Fragen von Nachhaltigkeit, Ökologie und Umwelt insgesamt bestimmt sind. Sinnvoll ist es sich daran zu erinnern, dass „Elemente“ sowie „Vorläufer“ für ökologisches und nachhaltig orientiertes Handeln „per se als historische Konzepte“ eingeordnet werden können und immer auch schon „generationenübergreifend“ angelegt waren (Reitemeier et al. 2019: 3; 12). Daran anknüpfend gab es konkrete Einsichten hinsichtlich der Folgen der immer weiter zunehmenden Industrialisierung, Verstädterung, marktwirtschaftlich orientierter Profitgesellschaften und des „wohlstandsteigernden Konsums“ (Hermand 2020: 9) normative Modelle, die bereits in einem gewissen Ausmaß auf Fragen einer fairen Verteilung von Lebenschancen und Ressourcen im Kontext der Frage nach „künftigen Generationen“ gestellt wurden. Um dies weiterzuführen und zu einer hinreichenden Nuancierung wie effektiven Herausforderung des Status quo zu gelangen, braucht es die Erkenntnis, dass es hier um notwendige politische, ethische, technische, kulturelle und soziale (im Sinne eines prosozialen Handelns) Bedingungen geht, die einem Konzept von intra- und internationaler Gerechtigkeit unterlegt sind, das auf der Regulierung einer konkreten Verteilung von gesellschaftlichen und natürlichen Ressourcen im globalen Maßstab basieren muss. Dies bildet den grundsätzlichen Ausgangspunkt für eine kritische Einschätzung wie für die Klärung der Frage, wie ökonomische Systeme und Gesellschaftsformen – mit Naturressourcen verbunden – für die Unterstützung nachhaltiger Lebensstile und ökonomischer Methoden, die ein gutes Leben aller ermöglichen, auszusehen haben. Normative Beiträge bezüglich der Frage nach dem Platz und der Rolle von Kindern bei dieser Art von Bemühungen tendieren dazu, sich auf Kinder als Zukunft oder Kinder als Retter dieses Planeten zu zentrieren. Um über diesen Stand hinaus zu gelangen, müssen wir uns auf gegenwärtige Forschung beziehen, die untersucht, wie und wann Akteur:innen Bewusstsein und Wissen gewinnen, was die Implikationen sind, wenn es darum geht, Akteur:innen und soziale Institutionen zu schaffen, die einen bedeutsamen Beitrag zum richtigen Umgang mit unterschiedlichen Interessen und sozio-kulturellen Verstehensweisen leisten – auch um zu klären, wo Konflikte und Barrieren für dieses Bemühen aufkommen (Groh 2003; Folkers 1987; Ponting 2009; Wright 2017). Hinzu kommt, dass es eine große Notwendigkeit für ein Bewusstsein und ein Verstehen jener Topoi gibt, die für das Leben der Kinder im Hier und Jetzt äußerst relevant sind, aber auch für eine Zukunft, wie diese sie sich vorstellen, eine Erkenntnis ihrer Erlebnisse und Erfahrungen. Nicht zuletzt geht es um eine Klärung von dem, was Kinder motiviert, sich aktiv an Prozessen gesellschaftlichen Wandels zu beteiligen – kurzgefasst geht es um die Frage, wie sie ihre Besorgnisse um Natur und ihre Mitmenschen erleben und zum Ausdruck bringen.

Mit dem Fokus auf Orte und Kontexte des Lebens von Kindern bringt dieses Handbuch Beiträge zusammen, die unterschiedlichste soziale Konstellationen, die für kindliches Leben und Erleben wichtig sind, untersuchen und in den Kontext der Fragen von Ökologie und Nachhaltigkeit stellen. Dies schließt Beiträge ein, die sich mit erwachsenenzentrierten Entwicklungen für Kinder wie Draußenschulen, ökologischem Lernen oder organisierten Begegnungen mit „Natur“ befassen, geht über Beiträge, die die Bedeutung intergenerationaler Beziehungen für Fragen von Nachhaltigkeit thematisieren, bis zu Beiträgen, die die Agency von Kindern betonen, wenn es darum geht, Druck für gesellschaftlichen Wandel anzuführen. Zur Verortung der Beiträge, die auf Konzepte und Praxen ausgerichtet sind, geht es um Fragen nach gegenwärtigen konzeptuellen Ansätzen, die sich mit Nachhaltigkeit, Ökologie und Umwelt insgesamt aus gesellschaftsanalytischer Perspektive beschäftigen.

Zudem ist es wichtig und deutlich zu machen, wie Kindheit insgesamt zu einem Interventionselement geworden ist, mit dem Kinder als „Rohmaterial“ zur Produktion von gesellschaftlichem Wandel betrachtet werden, wobei häufig die Sichtweisen von Kindern, die sich im Kontext ihrer Alltagsleben ergeben, übersehen oder negiert werden. Darüber hinaus geht es uns darum, Arbeiten zusammenzubringen, in denen die aktuellen Auswirkungen des Nachhaltigkeitsdiskurses auf das Leben von Kindern untersucht werden – dies auch durch einen Einbezug ihrer eigenen Sichtweisen, Erlebnisse und Erfahrungen sowie Interpretationen von Problemstellungen, die bis heute vor allem von Erwachsenen bestimmt worden sind.

Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) ist in der Kindheitsforschung und Kindheitspädagogik mittlerweile zu einem starken Leitbegriff geworden, der vielfältige Konzepte und Projekte angeregt und die Veränderung von gesellschaftlichen und institutionellen Strukturen zum Ziel hat. Zentral stellt sich jedoch die Frage, welche Themen Kindern wichtig sind, welche Erfahrungen sie machen, welche Motivationen sie entwickeln, um sich an den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen aktiv zu beteiligen, und wie sie ihre Sorge für Natur und Mitmenschen zum Ausdruck bringen. In diesem Zusammenhang muss konstatiert werden, dass das empirische Wissen um das Naturerleben, die Naturerfahrungen und das Natur- und Umweltbewusstsein junger Kinder bislang wenig untersucht und zum Gegenstand erziehungs- und sozialwissenschaftlicher Studien gemacht wurde und wir noch wenig über die politische Agency von Kindern im Kontext einer BNE wissen. Insofern nimmt dieses Handbuch den Diskurs um Kindheit, Ökologie und Nachhaltigkeit in einem gesellschaftstheoretisch fundierten Rahmen erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung auf und fragt nach den normativen Ansprüchen und praktischen Ansätzen einer ökologisch nachhaltigen Erziehung und Bildung, die im Spannungsfeld der Kinder- und Jugendbewegung für Klima- und Generationengerechtigkeit verortet ist.

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Handbuch Kindheit, Ökologie und Nachhaltigkeit

 

 

 

 

Über das Buch

Mit dem Fokus auf Orte und Kontexte des Lebens von Kindern bringt dieses Handbuch Beiträge zusammen, die unterschiedlichste soziale Konstellationen, die für kindliches Leben und Erleben wichtig sind, untersuchen. Diese werden analog zu aktuellen Fragen von Ökologie, Nachhaltigkeit und Naturbezug diskutiert, da Kinder nicht nur die Zukunft verkörpern, sondern stetig die Folgen ökologischer Probleme erleben und von diesen besonders betroffen sind.

 

Die Herausgeber*innen

Prof. Dr. Rita Braches-Chyrek, Institut für Erziehungswissenschaft, Lehrstuhl Sozialpädagogik, Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Prof. Dr. Charlotte Röhner, Pädagogik der frühen Kindheit und der Primarstufe, Bergische Universität Wuppertal
Prof. Jo Moran-Ellis, Head of School of Law, Politics and Sociology, Freeman Centre, University of Sussex, Brighton, UK
Prof. Dr. Heinz Sünker, Sozialpädagogik und Sozialpolitik, Bergische Universität Wuppertal

 

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