Familiäre Mehrsprachigkeit und sprachlicher Input in Bezug auf frühkindliche Bildungsprozesse

Zeitschrift für erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung (ZeM) 2-2022: „Schon als sie im Mutterbauch war, sprach ich mit ihr“ – Displaying ‚Good‘ Parenthood im Kontext familiärer Mehrsprachigkeit

„Schon als sie im Mutterbauch war, sprach ich mit ihr“ – Displaying ‚Good‘ Parenthood im Kontext familiärer Mehrsprachigkeit

Yasemin Uçan

Zeitschrift für erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung (ZeM), Heft 2-2022, S. 151-166.

 

Zusammenfassung: In Anbetracht des Leitbildes einer aktiven Elternschaft ist für Familien im Kontext von Migration eine Kontinuität defizitorientierter Perspektiven hinsichtlich ihrer Erziehungsleistung festzuhalten, in denen u. a. Sprachdefizite und hieraus resultierende Risiken für die Bildungslaufbahn des Kindes problematisiert werden. Vor diesem Hintergrund wird in dem Beitrag ein Displaying ‚Good‘ Parenthood von Eltern im Kontext ihrer familiären Mehrsprachigkeit in den Blick genommen. Das Interviewgeschehen wird in diesem Zusammenhang als Teil einer multiple audiences (Seymour/Walsh 2013) verstanden, vor dem sich Eltern mit einer ‚guten‘ Elternschaft positionieren (müssen). Herausgearbeitet wird, wie Eltern die familiäre Mehrsprachigkeit und ihren sprachlichen Input als sprachpädagogisch relevant für frühkindliche Bildungsprozesse darlegen und legitimieren. Mit dieser Analyseperspektive können Erzählungen der Eltern zu ihren Erziehungsvorstellungen und -praktiken auch als Positionierung im Diskurs um ‚gute‘ Elternschaft gedeutet werden.

Schlüsselwörter: Mehrsprachigkeit, Familie, Eltern, Erziehung, Migration, Doing und Displaying Family

 

Title: “Even when she was in the womb, I spoke to her” – Displaying ’Good’ Parenthood in the Context of Family Multilingualism

Summary: Against the background of an active parenthood as a guiding societal principle, families in the context of migration are faced with the continuity of deficit-oriented perspectives concerning their parenting performance, which inter alia implies the problematization of supposed language deficits and related risks for the educational attainments of their children. On the basis of methodological reflections on the contextuality of qualitative interviews, the interviewing process itself is understood in this article as part of multiple audiences (Seymour/Walsh 2015) in front of whom parents position themselves in the context of displaying ‘good’ parenthood with an active parenthood. The article shows how parents present and legitimize their language input and familial multilingualism as pedagogically relevant for early-childhood educational processes. With this perspective of analysis, parents’ narratives about their parental beliefs and practices can also be interpreted as a positioning in the discourse about ’good’ parenting.

Keywords: Multilingualism, Family, Parents, Parenting, Migration, Doing and Displaying Family

 

1 Einleitung

Die Erziehungsleistung von Eltern steht seit den 2000er Jahren vor dem Hintergrund einer Re-Familialisierung unter einer besonderen öffentlichen Aufmerksamkeit. Kennzeichnend für diese Re-Familialisierung ist, dass die Verantwortlichkeit für Erziehungsaufgaben, wie z. B. die frühkindliche Förderung sowie schulischer Erfolg, von staatlicher Seite (wieder) zunehmend in die Familie verlagert und Eltern in ihrer Eigenverantwortung aufgerufen werden (Oelkers/Richter 2009; Betz/de Moll/Bischoff 2013): In politischen Dokumenten, wie z. B. in Familienberichten, Kinder- und Jugendberichten, wird hierbei das Leitbild1 einer aktiven und verantworteten Elternschaft etabliert; demnach werden Eltern als Akteur:innen der Bildung ihrer Kinder adressiert (vgl. z. B. BMFSFJ 2005: 252), wonach sie dem Kind stets Lern- und Entwicklungsanlässe bieten und zu Bildungsexpert:innen werden sollen (vgl. Lange/Thiessen 2018). Familien im Kontext von Migration stehen in diesem Zusammenhang unter einer besonderen öffentlichen Beobachtung; sie werden spezifisch durch Bildungs- und Integrationspolitik adressiert und entlang von bildungs- und integrationsbezogenen Indikatorensets bewertet (vgl. Krüger-Potratz 2013; Westphal/Otyakmaz/Uçan 2020). Beobachtbar ist hier eine Kontinuität defizitorientierter Perspektiven: Eltern ‚mit Migrationshintergrund‘ werden – neben jenen unter Armutsbedingungen – als diejenigen betrachtet, die den Vorstellungen ‚guter‘ Elternschaft nicht entsprechen (vgl. Betz/de Moll/Bischoff 2013) und folglich als Adressat:innen kompensatorischer früher Förderung angesprochen werden (vgl. Gomolla/ Kollender 2019; Otyakmaz/Westphal 2018, Diehm 2016).

Qualitative Interviewstudien mit Eltern konstatieren, dass sich politisch verbreitete Leitbilder ‚guter‘ Elternschaft in den Aushandlungen der Eltern über Elternschaft niederschlagen, als Bezugsrahmen für die Bewertung der eigenen elterlichen Erziehungsleistung gelten und z. T. konflikthaft mit den eigenen Vorstellungen erlebt werden können (Betz/ Bischoff/Kayser 2017; Westphal/Motzek/Otyakmaz 2017).

Im Zuge dieser bildungs- und integrationspolitischen Adressierungen lässt sich ferner eine Verschränkung von Erziehungs- und Sprachbildungsprogrammen erkennen: Eine Reihe von Elternbildungsprogrammen adressiert explizit Eltern in ‚Migrationsfamilien‘, um die elterliche Erziehungskompetenz und gleichzeitig die sprachliche Entwicklung des Kindes zu stärken (vgl. dazu Springer 2011). Erziehung und Elternschaft sind somit gerahmt durch normative Fragen darüber, was eine ‚gute‘ und ‚richtige‘ Erziehung des Kindes ausmacht, wobei sich eine Verknüpfung von einem ‚richtigen‘ Spracherwerb des Kindes mit Vorstellungen ‚guter‘ Elternschaft erkennen lässt.

Für familiäre Mehrsprachigkeit lässt sich in der pädagogischen Praxis eine widersprüchliche Situation festhalten: Auf der einen Seite wird in pädagogischen Kontexten und auf bildungsprogrammatischer Ebene die ‚Muttersprache‘ als wichtige Ressource und bedeutend für die Identitätsentwicklung (vgl. Dirim/Heinemann 2016) bzw. mit einer Forderung nach Anerkennung und Förderung der kindlichen Mehrsprachigkeit diskutiert (vgl. Zettl 2019). Doch finden diese wertschätzenden Perspektiven in Einrichtungen der Frühpädagogik der Frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) kaum Berücksichtigung (Lengyel 2017); stattdessen dominieren monolinguale Normvorstellungen (Roth 2013; Gogolin 1994) und die kindliche Mehrsprachigkeit unterliegt vielfach Abwertungs- und Normierungspraktiken (vgl. Braband 2019; Zettl 2019; Panagiotopoulou 2017; Thomauske 2017).

Vor diesem skizzierten Hintergrund geht der vorliegende Beitrag auf Grundlage einer qualitativen Interviewstudie der Frage nach, inwiefern und auf welche Weise Eltern mit einer familiären Migrationsbiografie aus der Türkei eine aktive Elternschaft in Verbindung mit einer ‚guten‘ Mehrsprachigkeit herstellen. Ich beziehe mich theoretisch auf das Konzept des Displaying ‚Good‘ Parenthood als Teil eines Displaying Family (Finch 2007), die mit methodologischen Reflexionen hinsichtlich qualitativer Interviews zusammengebracht werden. Der Beitrag knüpft an Ergebnisse meiner Dissertationsstudie „Erziehungsziel Mehrsprachigkeit – Eine qualitative Studie zu Erziehung und Elternschaft im Kontext von Migration“ (Uçan 2022) an, in der elterliche Erziehungsvorstellungen zum frühkindlichen Mehrsprachenerwerb (de Houwer 1999) sowie Erwartungen an Einrichtungen der FBBE hinsichtlich sprachlicher Bildung untersucht wurden2. Die Ausführungen der Eltern über ihre Erziehungsvorstellungen werden in diesem Beitrag als eine Herstellung ‚guter‘ Elternschaft in der Interviewsituation gedeutet.

2 Forschungstand zu Elternperspektiven auf familiäre und kindliche Mehrsprachigkeit

Untersuchungen, die sich mit den Perspektiven von Eltern hinsichtlich familiärer Mehrsprachigkeit beschäftigen, sind in Deutschland noch marginal vorhanden.

Im Rahmen einer frühen qualitativen Untersuchung halten Neumann und Popp (1993)3 fest, dass die nichtdeutsche Familiensprache von mehrsprachigen Eltern als „unhinterfragte Selbstverständlichkeit“ (ebd.: 42) dargelegt wird, doch ihre an der Mehrsprachigkeit orientierte Perspektive dem monolingualen Habitus der Schule in Deutschland entgegensteht. Gleichzeitig weisen sie jedoch einen Konsens mit dem Leitbild der öffentlichen Einsprachigkeit auf und die einsprachige Ausrichtung der Schule wird von ihnen kaum in Frage gestellt (ebd.: 48). Dies wird von den Autorinnen mit Blick auf die soziale Position und einem fehlenden Anspruchsbewusstsein auf Seiten der Eltern erklärt.

Aktuelle (Dissertations‐)Studien zur familiären Mehrsprachigkeit fokussieren v. a. die Phase der frühen Kindheit. Braband (2019) zeigt mittels qualitativer Interviews mit fünf Eltern unterschiedlicher Sprachgemeinschaften auf, wie sich Eltern mit dem Eintritt des Kindes in die Kita damit konfrontiert sehen, dass das Kind die nichtdeutsche Familiensprache nicht mehr aktiv nutzt und sie aktive Strategien zum Erhalt der nichtdeutschen Familiensprachen, wie u. a. Vorlesen, Nutzung von Medien, darlegen (ebd.: 206). Doch wird die Dominanz der deutschen Sprache auch in der Familie fortgesetzt, was von der Autorin dahingehend interpretiert wird, dass Eltern „die hierarchische Sprachenordnung der Kita übernehmen“ (ebd.: 216). Auch Thomauske (2017) hält als Ergebnis ihrer Fokusgruppendiskussionen mit Eltern von Kindern in der Kita fest, dass das Nichtsprechenwollen der nichtdeutschen Familiensprachen ein für sie relevantes Thema darstellt und für einige nur „schwer zu ertragen“ ist (ebd.: 168). Gleichzeitig wird der Gebrauch anderer Sprachen als die der Bildungsinstitution auf die Familie beschränkt, womit sich für die Autorin eine monolinguale Norm „auf de facto Sprach(en)politik und -praktiken sowohl in der Einrichtung als auch im privaten Kontext“ abbilden lässt (ebd.: 194).

Für die bisher dargelegten Studien lässt sich festhalten, dass die elterlichen Perspektiven v. a. mit Blick auf die einsprachige Bildungsinstitution (Kita/Schule) und damit einhergehenden Aushandlungen zwischen der nichtdeutschen sowie deutschen Familiensprache fokussiert werden. Übereinstimmend wird konstatiert, dass die familiäre Erziehung zur Mehrsprachigkeit in einem gegenläufigen Verhältnis zur einsprachigen Ausrichtung der Bildungsinstitution steht. Eine Studie, die dagegen stärker Erziehungsvorstellungen und innerfamiliäre Aushandlungen fokussiert, wird mit der eigenen Dissertationsstudie (vgl. Uçan 2022) zu Eltern mit einer familiären Migrationsbiografie aus der Türkei geliefert. Hier konnte gezeigt werden, dass frühkindliche Erziehungsvorstellungen und erzählte Erziehungspraktiken in Bezug auf Mehrsprachigkeit über migrations- und minderheitenspezifische Lebenslagen und familiäre Dynamiken ausgewiesen sind. Zudem manifestiert sich in den elterlichen Erziehungsvorstellungen eine Verflechtung von normativen Vorstellungen einer ‚guten‘ und aktiven Elternschaft mit solchen über eine ‚gute‘ Mehrsprachigkeit. Im vorliegenden Beitrag soll vor dem Hintergrund methodologischer Reflexionen hinsichtlich qualitativer Interviewstudien untersucht werden, inwiefern und auf welche Weise die Ausführungen der Eltern als ein Displaying ‚Good‘ Parenthood verstanden werden können.

3 Theoretische und methodologische Verortung

Um der Frage nachzugehen, wie Eltern eine ‚gute‘ Elternschaft im Kontext familiärer Mehrsprachigkeit darlegen und ihre familiäre Sprachpraxis legitimieren, wird im Folgenden das theoretische Konzept des Doing and Displaying Family mit methodologischen Reflexionen der qualitativen Sozialforschung zu Interviews zusammengeführt.

3.1 Doing und Displaying Family

Mit dem in der Familienforschung entwickelten handlungstheoretischen Konzept des Doing and Displaying Family (Finch 2007; Seymour/Walsh 2013) wird argumentiert, dass Familien sich über alltägliche Praktiken herstellen und legitimieren. Sich verändernde gesellschaftliche Rahmenbedingungen sowie die an Familie herangetragenen Erwartungen, z. B. bezüglich frühkindlicher Erziehung und Bildung (vgl. Kapitel 1), führen, so Jurczyk (2018: 146), zu einem Doing Family, wonach Familie „alltäglich und im Lebensverlauf immer wieder hergestellt, praktiziert (d. h. vollzogen), angepasst und ggf. verändert werden muss“. Vor dem Hintergrund pluraler Lebens- und Familienformen argumentiert Finch (2007) darüber hinaus, dass Familie nicht nur über alltägliche Praktiken hergestellt, sondern diese Praktiken gegenüber relevanten Anderen (relevant audiences) dargestellt sowie von diesen verstanden und anerkannt werden müssen. Für eine differenzierte Analyse dieser Inszenierung nutzt sie das Konzept des Displaying Family und definiert es als „the process by which individuals, and groups of individuals, convey to each other and to relevant others that certain of their actions do constitute ‘doing family things’ and thereby confirm that these relationships are ‘family’ relationships“ (ebd.: 67). Das Displaying Family beinhaltet somit das Doing und schließt darüber hinaus die Darstellung gegenüber relevanten Anderen ein. Die Notwendigkeit eines Displaying Family ist zwar für alle Familien gegeben, jedoch sind diejenigen, die den Vorstellungen einer Normfamilie nicht entsprechen, auf besondere Weise dazu herausgefordert (ebd.: 71 f.).

1 In Anlehnung an Diabeté und Lück (2014: 56) werden Leitbilder verstanden als „ein Bündel aus kollektiv geteilten bildhaften Vorstellungen des ‚Normalen‘, das heißt von etwas Erstrebenswertem, sozial Erwünschtem und/oder mutmaßlich weit Verbreitetem, also Selbstverständlichem.“ Gesellschaftspolitische Debatten um ‚richtige‘ Elternschaft und Erziehung und ihre Festschreibung auf politischer Ebene, z. B. in Form von Gesetzgebung oder politischen Dokumenten, werden als wirkungsvoll auf die Haltung gegenüber und den Umgang mit Eltern seitens z. B. pädagogischer Fachkräfte, auf die Gestaltung von Familie als Erziehungs- und Bildungsort sowie auf die Selbstwahrnehmung und das Handeln von Eltern bestimmt (vgl. dazu Betz/de Moll/ Bischoff 2013). Leitbilder ‚guter‘ Elternschaft werden somit „diskursiv-textuell sowie durch soziale und pädagogische Praktiken“ hervorgebracht (ebd.: 72).
2 Die Dissertationsstudie wurde als Teil des Forschungsprojekts „Frühe Kindheit, Entwicklung und Erziehung von Eltern in und aus der Türkei“ an der Universität Kassel durchgeführt. Für weitere Ergebnisse der Studie siehe Otyakmaz/Westphal (2018); Westphal et al. (2017; 2020).
3 Bei der Untersuchung handelt es sich um eine Teilstudie der Studie „Großstadt-Grundschule“ (Gogolin/Neumann 1997).

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