Gesellschaft, imperialer Monotheismus und Weltrechtsordnung

Kieler sozialwissenschaftliche Revue 1-2024: Gesellschaft, imperialer Monotheismus und Weltrechtsordnung

Theorie und Praxis: Solidarität im Konflikt – von der Spätantike bis zur Weltgesellschaft1

Hauke Brunkhorst2

Kieler sozialwissenschaftliche Revue, Heft 1-2024, S. 19-30.

 

In der oströmischen Spätantike (250–1000) beginnt ein bis heute andauernder Diskurs über Theorie und Praxis zwischen den Protagonisten des bürgerlichen Weltbilds der Römer und des biblischen Weltbilds von Juden, Christen und Moslems (1–3), der sich in der Epoche Kants und der Französischen Revolution (1750–1850) in profanen Formen fortsetzt (IV) und heute in eine tiefe Krise geraten ist.

 

1. Theorie und Praxis

Der Soziologe Niklas Luhmann hat sinngemäß behauptet, seit Ausbruch der Französischen Revolution habe die in der ersten Nationalversammlung links platzierte Partei, hätten die Progressiven, damals waren das die Jakobiner, immer die richtige Theorie gehabt, während die seitdem in den meisten Parlamenten rechts platzierten Konservativen sich theorie- und kopflos, aber erfolgreich darauf konzentriert hätten, die Macht in der Hand zu behalten (s. z. B. 2000: 95).

Das war schon in der Antike so. Am Beginn der Spätantike, im dritten Jahrhundert und bis zur ersten Jahrtausendwende, wird der südliche Mittelmeerraum (Kleinasien, Naher Osten, Nordafrika) zur Gründungsregion nicht nur des heutigen Europas, sondern der ganzen nördlichen Hemisphäre Afroeurasiens: der Weltregion zwischen Indus und tropischem Regenwald im Süden, Skandinavien im Norden, Hindukusch im Osten und der nördlichen Atlantikküste im Westen.

Dieser Raum wird, wie die genauere Forschung, insbesondere die bahnbrechende Studie von Almut Höfert (2015) zeigt, von einer Herrschaftsformation kontrolliert, die sie als imperialen Monotheismus bezeichnet. Seine intellektuellen Zentren sind im 4. und 5. Jahrhundert Antiochia, Thessaloniki, Byzanz (Konstantinopel/ Istanbul), Jerusalem, Alexandria, Mailand und Hippo, seit dem 6 und 7. Jahrhundert kommen Medina, Bagdad, Mekka, Fes im heutigen Marokko – die erste Universitätsstadt überhaupt –, Cordoba in Spanien und am Ende dann Paris und einige andere hinzu.

Der imperiale Monotheismus war als Staatsform von erstaunlicher Stabilität und Dauer. Die erste Formation dieser spannungsreichen Verbindung von Imperium und Monotheismus ist das orthodoxe, oströmisch-byzantinische Reich, das Ende des 4. Jahrhunderts entsteht und erst Mitte des 15. Jahrhunderts untergeht, die zweite Formation ist das aus den islamischen Imperien nach der ersten Jahrtausendwende hervorgegangene Osmanische Reich, das bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts besteht, die dritte Formation das katholische, auf Karl den Großen Anfang des 9. Jahrhunderts zurückgehende Heilige Römische Reich deutscher Nation, das Anfang des 19. Jahrhunderts endgültig die Segel streicht. Alle drei Imperien bestehen jeweils ca. 1000 Jahre (Höfert 2015). Alle drei sind lange vor ihrer Entstehung in einem dichten intellektuellen, kulturellen, ökonomischen, diplomatischen und kriegerischen Austausch miteinander und ihren Vorgängerkulturen in Nordafroeurasien, und vor allem die Muslime strecken ihre Fühler bis nach Indien, China und Südostafrika aus. Oft alles gleichzeitig auf denselben Routen (Geyer 2022): Die Krieger schlagen ihre Schlachten, rauben, was sie rauben können, die Händler kaufen und verkaufen wenige Kilometer weiter wertvolle Stoffe, Waffen, Bodenschätze, Pferde, Sklaven und Gewürze, die Intellektuellen streiten sich mittendrin, tauschen Schriften, heuern Übersetzer an oder erwerben sie auf dem Sklavenmarkt.

Das oströmische Reich, das den imperialen Monotheismus erfunden hat, stützt sich auf Vorentwicklungen im persischen Sassanidenreich und biblische Quellen, die von zahllosen Kämpfen zwischen imperialistischen Herrschern und antiimperialistischen Propheten zeugen (Buber 1956). Der Islam und sein weltgeschichtlich einmaliger imperialer Schwung entstehen in dichter Kommunikation mit jüdischen, heidnischen und christlichen Händlern und Gelehrten, oströmischen und sassanidischen Politikern und Heerführern im Raum von Mekka und Medina. Dieser Diskurs – wie alle Diskurse eine Mixtur aus Macht und Argument – bringt die islamische Formation des imperialen Monotheismus hervor. Mit atemberaubender Geschwindigkeit entsteht ein Riesenimperium, größer als das römische. Die Muslime setzen sich, ganz ähnlich wie mehr als tausend Jahre später die amerikanischen Protestanten, überall an die Spitze des Fortschritts (Bauer 2017). Den Abschluss der Serie bilden Nachzügler im weit zurückgebliebenen, lateinischen Westeuropa, wo der imperiale Monotheismus in die große Rechtsrevolution der Papstkirche übergehen wird, um Ende des 11. Jahrhunderts die Schwelle, die von der Antike zur Moderne führt, zu überschreiten (Berman 1982).

Die drei großen, imperialen Monotheismen sind in ihrer Struktur identisch. Das erklärt sich daraus, dass der Mensch das einzige Tier ist, das plagiiert: von der Wiege bis zur Bahre abschreibt, abmalt, nachäfft, nachplappert, klatscht und tratscht. Neue Ideen und Erfindungen verbreiten sich durch copy and paste, pick and mix, melt and combine, analyse and recombine (Colley 2021; vgl. a. Luhmann 1975). Sie passen sich als Einzelne und Gruppen wechselseitig an sich und die übrige Umwelt an, bis sie oft plötzlich, ruckartig eine neue Idee oder gleich ein ganzes Bündel solcher Ideen generieren. Die identische Tiefenstruktur der drei imperialen Monotheismen ist das Produkt eines solchen Lernprozesses, seine Herrschaftsformation halb modern, halb antik, und ihre größte verfassungsrechtliche Errungenschaft eine fast schon moderne Gewaltenteilung oder besser Gewaltengliederung (Möllers 2005). Auf den arabischen Münzen des 8. und 9. Jahrhunderts, die eine Art Leitwährung Nordafroeurasiens sind, wird der allen gemeinsame, sakrale Grund aller Staatsgewalt mit dem Einen Gott bezeichnet, der in jeweils Einem Imperium (Weltreich) von jeweils zwei verschiedenen Gewalten dargestellt wird:

• der primär säkularen Teilgewalt des Imperators, Kalifen oder Kaisers, die vor allem exekutive, vollziehende Gewalt, Kommando über das Heer ist, und
• der primär sakralen Teilgewalt des Papstes, Imam oder Metropoliten, die vor allem judikative, rechtsprechende Gewalt ist.

Die Differenz der Staatsgewalten wird zwar nicht immer, aber oft durch örtlich weit auseinanderliegende Residenzen markiert: der Papst in Rom, der Kaiser in der Pfalz; der Metropolit in Konstantinopel, der Imperator mit der Armee auf Reisen; der Kalif in Bagdad, der Imam in Mekka.

2. Master-Images

Der Anfang im oströmischen Reich ist das Produkt zweier einander widerstreitender Paradigmen oder Master-Images (Brown 2002) Das eine ist bürgerlich, das andere biblisch.

2.1 Das bürgerliche Master-Image

Die Minorität der heidnischen Bürger lebt, alle Grundherren eingeschlossen, ausschließlich in Städten. Der antike Musterbürger ist Grundherr. Er arbeitet nicht auf dem Land und auch nicht in der Stadt, sondern pflegt den urbanen Müßiggang. Wenn die Bürger auf ihre Gesellschaft blicken, sehen sie wie ihre Philosophen nur Bürger und Städte einer bürgerlichen Gesellschaft. Der Rest der Bevölkerung – 85% – ist eine migrantische, ausgebeutete, diskriminierte, zur Hälfte versklavte Armutspopulation aus urbanem Subproletariat und der gesamten Landbevölkerung. Sie fallen aus dem Rahmen des bürgerlichen Master-Image, sind unsichtbar, inexistent, keine öffentliche Angelegenheit (res publica). Alles, die Stadt, ihre Häuser und öffentlichen Ämter, Gebäude, Armeen und das ganze Land und seine Bewohner partizipieren nur als Besitz reicher Familienväter (pater familias) an der Herrschaft ihrer Herren, indem sie den Nacken beugen oder sich von denen, die ihn beugen, beackern lasen. Diese Gesellschaft ist (ähnlich wie die Mafia) eine reine Privatrechtsgesellschaft mit einem (anders als bei der Mafia) handwerklich hoch entwickelten, immer noch verwendeten Recht, dessen Wirksamkeit sich im antiken Rom aber weitgehend in rhetorischem Virtuosentum erschöpft, denn jeder reiche pater familias – für die andern gab es nur „kurzen Prozess, außerhalb des Rechts“ (Wesel 1997: 156) –jeder pater familias, dem ein Richter Recht gibt, muss mit seinen eigenen Soldaten und Henkern losziehen und es sich holen, wenn er kann. Konflikte mussten in bestenfalls „privatrechtlich strukturierten,“ aber „niemals unterbundenen Privatfehden“ ausgefochten werden (Brown 2002, Veyne 1989: 165).

Rom ist das Paradigma patrimonialer Herrschaft, in der es keinen Unterschied des öffentlichen und des privaten Lebens gibt (Veyne 1989), sowenig wie einen Unterschied zwischen heidnisch magischer religio und rationaler Politik (Feil 2004).

2.2 Das biblische Master-Image

Wenn Juden und Christen auf diese Gesellschaft blicken, sehen sie etwas ganz anderes als die Römer. Sie sehen eine Klassengesellschaft aus Armen und Reichen in Stadt und Land, so wie sie in ihren heiligen Büchern beschrieben und beklagt wird (Brown 1989; 2002). Nichts in der Alten Welt entspricht der Wirklichkeit nicht nur der Römischen, sondern aller damaligen Imperien besser als das biblische Master-Image, und die Klage, die es erhebt, ist keine Privatklage, sondern eine öffentlich-rechtlich begründete Anklage der gesamten herrschenden Klasse. Sie ist ersichtlich besser begründet als die römische Theorie des guten Herrschers im Namen des guten Lebens der Notablen, die sich einbilden, die gesamte Menschheit zu repräsentieren. In der klerikalen Staatlichkeit von Synagoge, Kirche und Moschee entsteht erstmals eine von der Privatsphäre getrennte Öffentlichkeit, eine Vorform organischer Solidarität (Brown 1989).

In diesem Clash des biblischen mit dem bürgerlichen Master-Image – zugleich ein Clash von Theorie und Praxis – bleibt der herrschenden bürgerlichen Partei des Imperators nur die Möglichkeit, sich auf das zu konzentrieren, was sie besser verstand als jede andere: die Macht in den Händen zu behalten.

Doch am Ende ließen sie sich aufgrund des in der oströmischen Weltprovinz wachsenden Rechtsbedarfs darauf ein, Bischofsgerichte einzurichten, die aber nur römisches Privatrecht anwenden durften. Gottes Mühlen mahlen langsam, sagt man, und so gingen die Bischöfe zunehmend dazu über, das römische Privatrecht aus der öffentlich-rechtlichen, ja verfassungsrechtlichen Perspektive des biblischen Rechts auszulegen, indem sie die Existenz des Armen zu einer provocatio ad populum machen. D. h., der Arme provoziert die bewaffnete römische Bürger- und Soldatengenossenschaft mit dem Appell, sich selbst als urban und patrimonial beschränkte bürgerliche Gesellschaft aufzuheben und zur Gesellschaft aller Armen des Imperiums, potentiell aller Menschen zu erweitern. Denn der Arme – so dachten schon die radikaleren unter den Rabbinern des Nahen Ostens und den Bischöfen der Schule von Antiochia avant la lettre mit Marx, kann „sich nicht emanzipieren ..,“ ohne „sich von allen übrigen“ Klassen der Gesellschaft und „damit alle übrigen“ Klassen „der Gesellschaft zu emanzipieren“ (Marx 1972b: 390). Die bloße Existenz „einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, die keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist,“ stellt für Rabbiner, Eremiten, Bischöfe, Patriarchen und Metropoliten sowie später für Marx ein universelles Unrecht dar. Das an den Armen wie später am Proletariat im 19. und 20. Jahrhundert „verübte“ Unrecht ist nämlich „kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin,“ welches „nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann.“ (Marx 1972b: 390) Das hat Marx dann die „menschliche Emanzipation“ genannt. (Marx 1972c: 370) Aber schon den klerikalen Vorsitzenden der Bischofsgerichte gelingt es im 4. und 5. Jahrhundert, den zum Betteln genötigten Armen aus einer ökonomischen Kategorie des Privatrechts in eine juristische Kategorie des öffentlichen (Kirchen‐)Rechts und damit den Bettler in einen Kläger, der potentiell die ganze Gesellschaft verklagt, zu verwandeln: „In the Near Eastern Model of society, the poor were a judicial, not an economic category. They were plaintiffs, not beggars.“ (Brown 2002: 69)

Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zum imperialen Monotheismus, der ersten Vorform einer modernen, menschenrechtlich strukturierten und egalitären, potentiell demokratischen Verfassung. Weder die bürgerliche Gesellschaft der Athener polis noch die römische res publica sind die Wiegen der europäischen Demokratie, sondern es ist der Monotheismus.

3. Weltbild und Herrschaft

Am Ende waren die Anhänger der richtigen Theorie, die das biblische Master-Image ins Bild setzt, doch nicht so erfolglos wie Luhmann unterstellt. Im imperialen Monotheismus hatte diese Theorie der Gesellschaft auch Realität. Aber der Preis war hoch. Im „>Strahlenkranz des Himmels<“ (Habermas 2019a: 151) wird sie zu einer bis ins 18. Jahrhundert, ja bis heute wirksamen „Herrschaftstheologie“ (Theunissen 1978: 355), die der politischen Philosophie der Griechen und Römer an legitimierender Kraft weit überlegen ist. Der König triumphiert über die Propheten. Er zerreißt den Vertrag, den Gott am Berg Sinai mit dem Volk geschlossen hatte, in dem das Volk alle Macht der Könige und Imperatoren auf das Konto Gottes umbucht, den Staat „vergleichgültigt“ (Assmann 1995: 105), Herrschaft überhaupt „aus den Angeln“ hebt, um eine noch nie dagewesene „politische und soziale Utopie“ zu verwirklichen (Assmann 2013: 79 f.).

1 Hauke Brunkhorst hielt diesen Vortrag zur Eröffnung der Konferenz „Theorie und Leben“, Goethe-Institut Ankara, am 24. 11. 2023. Er ist Seniorprofessor für Soziologie an der Europa-Universität Flensburg.

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