Gemeinbesitz und Privateigentum zur Zeit der Aufklärung

ZPTh – Zeitschrift für Politische Theorie 1-2024: Vom Gemeinbesitz zum Privateigentum? Warum die Theorien der Aufklärung aus dem ursprünglichen Gemeinbesitz nicht zum Gemeineigentum kommen und unter welchen methodischen Bedingungen sich das ändern ließe

Vom Gemeinbesitz zum Privateigentum? Warum die Theorien der Aufklärung aus dem ursprünglichen Gemeinbesitz nicht zum Gemeineigentum kommen und unter welchen methodischen Bedingungen sich das ändern ließe

Eva Weiler*

ZPTh – Zeitschrift für Politische Theorie, Heft 1-2024, S. 61-81.

 

Schlüsselwörter: Eigentum, Gemeineigentum, commons, Naturzustand, Aufklärung, Anarchismus

Zusammenfassung: In den letzten Jahren wächst die Zahl der eigentums- und herrschaftskritischen Ansätze, die für eine gemeineigentumsbasierte Lebensweise und politische Selbstverwaltung argumentieren. Entgegen der ursprünglichen Intention kontraktualistischer Theorien, so das Urteil, führen Privateigentum und der es schützende Staat zur Verfestigung von Ungleichheit und Abhängigkeit, und verhindern die politische Gestaltung der geteilten Welt. Dabei sind es gerade die Naturzustandstheorien, die die Idee einer geteilten Welt in den Fokus rücken: Ausgehend von den Erfahrungen der Kämpfe um Land und Ressourcen in ihren eigenen Gesellschaften und in den Kolonien, konzipieren die Autoren der Aufklärung die Erde als ‚ursprünglichen Gemeinbesitz‘, auf den ursprünglich keiner mehr Recht hat als ein anderer. In diesem Beitrag werde ich der Frage nachgehen, warum selbstverwaltete politische und Eigentumsstrukturen dabei dennoch kaum eine Rolle spielen, und ob sich das notwendig aus der Idee des Naturzustands ergibt.

Abstract: In the last years there has been a growing number of theories critical of property and state authority, that argue for a commons-based way of living and for political self-government. Contrary to the intention of social contract theories, they claim, private property and the state securing it contain inequality and dependency and hinder political engagement in a shared world. However, it have been these theories of the state of nature that explicitly focused on the idea of a shared world: Starting from the experience of conflict over land and resources in their own societies and in the colonies, the authors of the enlightenment conceptualize the earth as being the ‘original common ownership’ of mankind, nobody having more right to it than anybody else. In this paper I will ask why commons do not play a prominent part in these theories and if this necessarily results from the idea of a state of nature.

 

1. Einleitung

Elinor Ostrom (2008: 8 f.) stellt in ihrem 1990 erschienenen wirtschaftswissenschaftlichen Werk Governing the Commons fest, dass ein ganz überwiegender Teil der modernen Herrschafts- und Eigentumstheorie den „Leviathan as the ‚only‘ way“ betrachte. Damit, so Ostroms Kritik an diesen Theorien, verfestige sich die Auffassung, dass menschliche Gemeinschaften notwendigerweise einer übergeordneten regelgebenden und -durchsetzenden Instanz bedürften. Ostroms (2008: 18 ff.) eigene Arbeit zeigt jedoch, dass Menschen sehr wohl auch ohne staatliche Institutionen in der Lage sind, stabile Kooperationsverhältnisse aufzubauen, Regeln aufzustellen und durchzusetzen. In den letzten Jahren findet diese Kritik am Übergewicht kontraktualistischer Modelle in der Herrschafts- und Eigentumstheorie in einer Reihe von Veröffentlichungen ein breiter werdendes Echo: anarchistisch-abolitionistische Autorinnen und Autoren wie Daniel Loick (2016; 2017) und Eva von Redecker (2018; 2020) beschreiben die destruktiven Paradoxien des liberalen Eigentums und argumentieren für die Einübung sozial-revolutionärer Praktiken; Michael Hardt und Antoni Negri (Commonwealth von 2009) sowie Pierre Dardot und Christian Laval (Commun von 2014) haben das common jeweils in die Titel ihrer Werke aufgenommen, in denen sie auf sehr unterschiedliche Weise eine anarchistische Vision lokal-globaler Gemeinschaft(en) entwerfen.

Die Gegnerschaft zwischen kontraktualistischen und marxistisch-anarchistischen oder commons-Theorien – im Folgenden werde ich diese Ansätze etwas vereinfachend als anarchistische Eigentums- und Herrschaftskritik bezeichnen – erscheint evident: Wie Marx (1967: 355 f.) bemerkt, nehmen die Theorien der Aufklärung die Entwicklung des bürgerlichen Staates mit seiner Trennung zwischen einem mit Rechten bewehrten Individuum und der Republik als Repräsentantin einer abstrakten Allgemeinheit auf. Weil die Allgemeinheit abstrakt und die Ökonomie privateigentumsbasiert ist, setzen sich nach wie vor auf allen Ebenen die egoistischen Interessen der Eigentümer gegen die der Nicht-Eigentümer durch. Der Staat verwechselt hier den Auftrag zum Erhalt aller, den er sich selbst gibt, mit dem Schutz des privaten Eigentums, das er in den Status eines Menschenrechts erhebt und zur normativen Grundlage seiner eigenen Existenz macht (vgl. ebd.: 365 ff.). Und so wird, wie Dardot und Laval (2014: 337 f.) mit Bezug auf Marx festhalten, aus diesem Eigentum, das die Basis politischer Herrschaft bildet, ein „droit coutumier des privilégiés“, das sich gegen ein „droit coutumier de pauvreté“ stellt: Während die Allmende und auch viele Grundbesitzer es lange Zeit zuließen, dass Personen ohne eigenen Besitz Zugang zu notwendigen Ressourcen wie Feuerholz oder Wasser hatten, wird Eigentum im 18. und 19. Jahrhundert nach und nach zum exklusiven Anspruch derjenigen, denen bereits das Privileg des Besitzes zukommt (vgl. ebd.: 325 ff.).

Ebenso evident wie die Gegnerschaft sind allerdings auch die Gemeinsamkeiten der beiden Stränge, was den Problemhorizont angeht, den sie adressieren – schließlich reagiert die anarchistische Kritik auf Fehler, die sie bei der kontraktualistischen Theorie in deren Antworten auf eine gemeinsame Frage ausmacht: Beide Theoriestränge entwerfen vor dem Hintergrund globaler ökonomischer und politischer Interdependenzen in ihrer Zeit kritische Konzeptionen politischer Organisation, und für beide Stränge geht es dabei im Kern um das Verhältnis von realer Abhängigkeit und normativ begründeter Unabhängigkeit oder Selbständigkeit.

Die zentrale Rolle des Eigentums, mit der beide Stränge es zu tun haben, entsteht im 17. und 18. Jahrhundert mit der zunehmenden und zunehmend imperial geprägten Kolonialisierung und den damit verbundenen Konflikten um Land und regionalen und globalen Einfluss. In dieser Zeit wird zum ersten Mal dezidiert diskutiert, welche Formen nicht nur des Eigentums im Allgemeinen, sondern der Aneignung von Eigentum rechtmäßig sein können (vgl. Damler 2008). Die Aneignung in den Blick zu nehmen, bedeutet aber auch, das Eigentum in der Zeit zu verorten – wie ich zeigen werde, ist ein wesentlicher Aspekt des Naturzustandes, dass er ermöglicht, (bestehendes) Eigentum zum Teil einer Entwicklungsgeschichte zu machen und/oder zu historisieren. Dieser zeitliche Aspekt, der sich als spezifische Vorstellung von gesellschaftlicher und ökonomischer Entwicklung äußert, ist verbunden mit einer Situation, in der, neben den grundlegenden Umwälzungen innerhalb der Wissenschaften, auch die sozialen und ökonomischen Verhältnisse nicht mehr zu den statischen Modellen des Absolutismus passen wollen: In den europäischen Gesellschaften wächst langsam das Bürgertum zu einem politischen Faktor heran, die beginnende Agrarrevolution und die technischen Entwicklungen in anderen Arbeitsbereichen führen zu massiven Veränderungen in den Arbeits-, Eigentums- und Eigentümerverhältnissen und zu einer wesentlich höheren Mobilität; die politische Macht weitet sich aus und zentralisiert sich zugleich Stück für Stück (vgl. Hodgson 2017).

Die heutige Situation unterscheidet sich insofern grundlegend von der des 17. und 18. Jahrhunderts, als das heutige kapitalistische, mit fossiler Energie betriebene Wirtschaftssystem ein damals wohl unvorstellbares Ausmaß an ökonomischer und politischer Abhängigkeit, militärischem Gewaltpotenzial und globaler ökologischer Bedrohung erzeugt hat. Weder die Konzentration sozialer und ökonomischer Macht noch die imperialen Bestrebungen wirtschaftlicher und politischer Akteure wurden also durch das Zusammenspiel von privatem und öffentlichem Recht eingedämmt, wie das dem Entwurf der Theorien der Aufklärung zufolge idealerweise hätte der Fall sein sollen. Vielmehr sind sie vielerorts zu Instrumenten geworden, um Abhängigkeiten beizubehalten oder zu vertiefen, mit allen Folgen, die das für inner- und zwischenstaatliche Verhältnisse und für die Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen hat (vgl. Mattei/Nader 2008; Milanovic 2016; Callinicos 2023).

Diese Entwicklungen mögen als logische Folge einer Konzeption von Gesellschaft erscheinen, für die die private Verfügung über Ressourcen einen wesentlichen Bestandteil ökonomischer und politischer Freiheit darstellt. Allerdings gibt es in allen diesen Theorien einen Gegenbegriff zum Privateigentum, der diesem vorausgeht: Die Naturzustandstheorien der Aufklärung begründen die Rechtmäßigkeit privater und jeder anderen Form der Aneignung und Verfügung mit dem ‚ursprünglichen Gemeinbesitz an der Erde‘, also der Idee, dass ursprünglich niemand mehr Anrecht auf die Erde und die auf ihr befindlichen natürlichen Ressourcen hat als ein anderer. Bei Thomas Hobbes (2013: 50f.) finden wir sogar das Gemeineigentum als Prototyp für die Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen, was insofern nicht verwunderlich ist, als die Allmendewirtschaft bis ins 19. Jahrhundert in vielen Bereichen, insbesondere in der Landwirtschaft, den Standardfall bildet (vgl. Rodgers et al. 2010: 19 ff.).

Ich möchte deshalb in diesem Beitrag der folgenden Frage nachgehen: Wenn zu der Zeit, zu der Autoren wie Thomas Hobbes und Immanuel Kant ihre Theorien verfassten, die Allmendewirtschaft in vielen Bereichen den Normalfall bildete, und wenn die Idee des Gemeinbesitzes ein grundlegendes Element der Naturzustandskonzeption ist, die explizit als Argument gegen Abhängigkeit und Ungleichheit angeführt wird, warum spielt für die Autoren dann trotzdem das Privateigentum eine so entscheidende Rolle, und warum taucht die Allmende nie in ihrer politischen Bedeutung als lokale Selbstorganisation auf?

Bei der Bearbeitung dieser Frage, für die ich in den Abschnitten zwei und drei die Theorien der beiden genannten Autoren untersuchen möchte, gehe ich davon aus, dass es zwei Aspekte gibt, die beachtet werden müssen. Erstens adressieren Naturzustandstheorien hobbesscher Prägung (zu der ich auch diejenige Kants zähle) ein spezifisches normatives Problem, das insbesondere durch die erkenntnistheoretische Annahme definiert ist, dass die menschliche Erkenntnis bedingt und damit nicht dazu geeignet ist, das absolut Gute oder Richtige zu erkennen (vgl. Hobbes 2011: 20 ff.; Kant 1977: 347, 508 ff.). Deshalb hat niemand mehr Recht als ein anderer, seine Überzeugungen oder Bestrebungen durchzusetzen, und da Menschen, geprägt durch ihre soziale und ökonomische Position, aber auch durch ihre normativen und empirischen Überzeugungen, konfligierende Bestrebungen haben, braucht es einen Modus, in dem entschieden werden kann, welche Bestrebung Geltung für sich beanspruchen kann. Dieses Problem wird, wie ich zeigen möchte, an der Idee des Gemeinbesitzes besonders deutlich, und hier zeigt sich auch, warum die Theorien für zentralisierte politische Herrschaft argumentieren und ein strukturelles Misstrauen gegenüber Verbünden unterhalb der höchsten Herrschaftsebene (Commonwealth, Republik oder Völkerrecht) haben. Denn, so die Annahme, nur diese höchste Ebene entspricht der tatsächlichen Verflechtung von politischen und ökonomischen (Macht)Verhältnissen innerhalb einer Gesellschaft. Diese Annahme ist aber, zweitens, von Überzeugungen geprägt, die reale Vorgänge betreffen, in die die Theorien sich ‚einmischen‘: Die entworfenen Modelle, mit denen politische und ökonomische Abhängigkeiten verringert werden sollen, basieren auf Annahmen über mögliche und wahrscheinliche politische und ökonomische Entwicklungen. Es sind vor allem diese Annahmen, die die Form des Eigentums bestimmen, die jeweils konzeptualisiert wird. Wie ich im Durchgang durch die Theorien und im abschließenden Teil zeigen werde, ergibt sich aus der Naturzustandskonzeption bei Hobbes und Kant deshalb auch nicht notwendigerweise das Privateigentum oder eine privateigentumsbasierte Ökonomie.

Beginnen werde ich im ersten Abschnitt jedoch mit der Theorie von John Locke, die sich insofern von Theorien hobbesscher Prägung unterscheidet, als Locke den Naturzustand nicht als Abstraktion von (bestehender) politischer Herrschaft, sondern als ‚natürlichen Zustand‘ des Menschen konzeptualisiert. An diesem Gegenbild möchte ich zeigen, was methodisch über die Abstraktion erreicht wird, und warum hier gerade mit Blick auf das Eigentum wichtige Einsichten gewonnen werden.

Im abschließenden vierten Abschnitt werde ich dann noch einmal die zentralen methodischen und normativen Elemente zusammenfassen, die die Naturzustandstheorien zu ihrer Eigentums- und Herrschaftskonzeption führen, um dann zu fragen, ob sich die Idee des ursprünglichen Gemeinbesitzes anders ausformulieren lässt, wenn wir von kritisch informierten, aktuellen Annahmen über mögliche und wahrscheinliche ökonomische und politische Entwicklungen ausgehen. Dabei werde ich auch auf die anarchistische Kritik zurückkommen, um mit ihr zu formulieren, dass es vor allem die Möglichkeit der politischen Gestaltung einer gemeinsamen Welt ist, die mit dem Gemeineigentum oder den commons auf dem Spiel steht.

* Eva Weiler, Universität Duisburg-Essen, 0009-0006-2760-6098, Kontakt: eva.weiler@uni-due.de

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