„Was mit ihr passiert ist, weiß ich nich mehr“: Mythisierungsweisen des Vergessenen
Michael Corsten, Melanie Pierburg
BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Heft 1-2023, S. 94-114.
Zusammenfassung
In dem Artikel gehen wir der Frage nach, welchen Stellenwert die Artikulation von Nicht-Erinnertem und Nicht-Gewusstem in biographischen Erzählungen einnimmt. Dazu bestimmen wir zunächst allgemein das Verhältnis von biographischer Vergegenwärtigung, Gedächtnis und Nicht-Erinnern. Mithilfe von sozial- und kulturwissenschaftlichen Gedächtniskonzepten gehen wir über ein Verständnis des Erinnerns als Vergegenwärtigung von Fakten hinaus und analysieren das Nicht-Erinnerte als ein Moment des Doing Autobiography (1). Basierend auf methodischen Ergänzungen der Narrationsanalyse biographischer Selbstdarstellung, die wir im zweiten Abschnitt umreißen (2), stellen wir im empirischen Hauptteil drei biographische Episoden aus zwei Fallstudien vor, in denen das Vergessen und das Vergessene in je unterschiedlicher Weise Teil der Erzählungen werden. Wie das nicht mehr Gewusste mit dem Gewussten verwoben wird und dadurch zur Sinnausrichtung der Sachverhaltsdarstellung beiträgt, rekonstruieren wir narrationsanalytisch. Hier fokussieren wir auf die sich entfaltenden Dramaturgien der Erzählpassagen (3). Wir gehen den Zusammenhängen von Nicht-Erinnern, biographischem Sprechen und Mythisierungen nach und rekonstruieren narrative Funktionen von Vergegenwärtigungsdefiziten und ihren Markierungen in Lebenserzählungen (4).
In this article, we examine the significance of the articulation of the unremembered and the unconscious in biographical narratives. To this end, we first define the general relationship between biographical visualization, memory and non-remembering. With the help of social and cultural science concepts of memory, we go beyond an understanding of remembering as the visualization of facts and analyse the not-remembered as a moment of ‘doing autobiography’ (1). Based on additions to the narrative analysis of biographical self-representation, which we outline in the second section (2), we present three biographical episodes from two case studies in the main empirical section, in each of which forgetting and the forgotten become part of the narratives in different ways. We use narrative analysis to reconstruct how what is no longer known is interwoven with what is known and thus contributes to the meaningfulness of the presentation of the facts. Here we focus on the unfolding dramaturgies of the narrative passages (3). We investigate the connections between non-remembrance, biographical speech and mythicization and uncover the narrative functions of deficits of visualization and their markings in life narratives (4).
Einleitung
Was bedeutet es für die Schilderung des eigenen Lebens, wenn autobiographische Erzähler:innnen auf etwas stoßen, das sie nicht mehr erinnern können oder das sie nicht mehr genau wissen? Wie und inwiefern zeigt sich in solchen Momenten das Verhältnis von Biographie und Vergessen? Auf diese Fragen gibt es zunächst eine vermeintlich triviale Antwort, die von Alois Hahn (1988) stammt. Biographien thematisieren nicht nur das Leben, sie vergegenwärtigen es stets selektiv. Der Sachverhalt also, dass es in biographischen Erzählungen Lücken gibt, dass Ereignisse und Erlebnisse nicht vergegenwärtigt werden können, tritt stets ein, wenn das eigene Leben thematisiert wird.
Die vermeintlich triviale Antwort zieht schwierigere Fragen nach sich: Wie ist es möglich, dass das eine thematisiert und damit erinnert wird und das andere nicht und ungesagt bleibt? Was bestimmt die Auswahl dessen, über das gesprochen wird, und die Form, in der dieses Sprechen geschieht? Inwiefern sind Erinnerungslücken nicht bloß passives Stocken im Prozess der individuellen Erfahrungsrekapitulation, sondern auch Folge der Herstellung eines Sinnzusammenhangs zwischen den Erlebnissen und Ereignissen des eigenen Lebens, ihrer biographischen Kohärenz?
Um dies zu erläutern, bestimmen wir in diesem Beitrag zunächst konzeptionell das Verhältnis von Biographie, Gedächtnis und Vergessen als Strukturierungsdynamik eines Doing Autobiography (1). Daraus ziehen wir methodische Konsequenzen hinsichtlich der Ergänzung der Narrationsanalyse biographischer Interviews und beleuchten außerdem, welcher besondere Stellenwert Mythisierungen hier zukommt. (2). Danach stellen wir zwei Fallanalysen vor (3), deren Ertrag für die Klärung des Verhältnisses von Biographie und Vergessen wir abschließend anhand ihres Mythenpotenzials im Rahmen des biographischen Erzählens rekapitulieren (4).
1. Biographie, Gedächtnis und Vergessen als Doing Autobiography
Um das Verhältnis der drei Dimensionen – Biographie, Gedächtnis und Vergessen – zu bestimmen, gehen wir zunächst auf die Besonderheiten des autobiographischen Stegreiferzählens ein (1.1) und erläutern im Anschluss daran, welche Gedächtnisformen an der Artikulation autobiographischer Erfahrung teilhaben (1.2). Danach befassen wir uns mit der Frage, inwiefern sich in der Artikulation des Nicht-Erinnerns auch das Vermögen äußert, über sich zu sprechen und dabei etwas (nicht) auszusagen (1.3). Abschließend überlegen wir, wann und inwiefern die Herstellung biographischer Sinnzusammenhänge (wir werden im Weiteren von Kohärenzen sprechen) im Erzählen über sich selbst mit Mythisierungen einhergeht und wann bzw. inwiefern dies nicht der Fall ist (1.4).
1.1 Biographie als selektive Vergegenwärtigung
Zu Beginn hatten wir mit Alois Hahn (1988) darauf hingewiesen, dass Biographien den Lebenslauf zum Thema machen. Wenn dabei der Lebenslauf als Summe aller Ereignisse und Erlebnisse im Leben einer Person von der Geburt bis zum Tod verstanden wird, dann können Biographien – und selbstverständlich auch autobiographische Stegreiferzählungen – die Gesamtheit des Lebens nur selektiv vergegenwärtigen. Es wird in Biographien stets etwas nicht erinnert beziehungsweise vergessen, womöglich auch insofern, als das Vergessene mehr oder weniger bewusst ungesagt geblieben ist.
Gleichwohl ist es in analytischer Perspektive aufschlussreich zu fragen, was erinnert wurde und was nicht, denn die möglichen Gesetz– oder Regelmäßigkeiten der Selektion des Aktualisierten sagen etwas darüber aus, wie die Person etwas vergegenwärtigt und als was das Leben versinnbildlicht wird. Das autobiographische Stegreiferzählen ist daher nicht nur schlichte Erfahrungsrekapitulation, sondern auch Herstellung „biographischer Kohärenz“ (Köber et al. 2015) beziehungsweise eine biographische „Gestaltschließung“ wie Fritz Schütze (1984) es formuliert hat.
Wenn wir in einer praxistheoretischen Perspektive in loser Anknüpfung an Pierre Bourdieu die Herstellung biographischer Kohärenzen als ein Doing Autobiography verstehen, dann ist damit gemeint, dass ein Erzähler nicht nur unweigerlich eine Auswahl von erinnerten Ereignissen trifft, sondern das Erinnerte in einen Sinnzusammenhang gerückt wird, in dem auch das Nicht-Erinnerte eine dramaturgische Funktion für die Lebensdarstellung einnimmt.
Mit dem Sprechen über das eigene Leben in Form einer Geschichte nehmen Erzähler:innen Bezug auf sich selbst (Hahn 1988: 92-93): implizit in der Art, wie sie das tun, explizit, indem sie ausdrücklich auf sich verweisen, und reflexiv, indem sie sich zu sich selbst in Differenz setzen (ich bin heute nicht mehr die Person, die ich einst war). Dieses Bezugnehmen auf sich und das eigene Leben kann als Positionierung des Subjekts zu sich selbst und zur sozialen Welt in der Praxis des über sich Sprechens gedeutet werden. Dies geschieht durch ein Zusammenspiel der Aktivierung von Gedächtnis- und Wissensformen im Vollzug der autobiographischen Artikulation, wie wir im nächsten Abschnitt weiter erläutern.
1.2 Autobiographisches Erinnern und die unterschiedlichen Gedächtnisarten
So wie das autobiographische Erzählen eine Selbstbezugnahme der Person ist, muss die Person, um in dieser Form ihre Lebenserfahrung zu rekapitulieren, über das Vermögen des biographischen Erinnerns, also über ein autobiographisches Gedächtnis verfügen. Hans Markowitsch und Harald Welzer (2006) haben hierzu zentrale Erkenntnisse der neuropsychologischen Gedächtnisforschung in die sozialwissenschaftliche Biographieforschung überführt. In dem Zusammenhang haben auch Tilmann Habermas und Susan Bluck (2001) festgestellt, dass sich das autobiographische Gedächtnis innerhalb des Lebenslaufs entwickelt und erst ab der Adoleszenz gegeben ist. Insofern ist es wichtig, sich zumindest kursorisch vor Augen zu führen, dass unterschiedliche Gedächtnisebenen beteiligt sind und in Kombination entwickelt sein müssen, damit biographische Erinnerung artikuliert wird. Hierbei spielen Formen des empraktischen (habitualisierten) Wissens genauso eine Rolle wie deklaratives Wissen (zum Beispiel Faktenwissen) und die Form des episodischen Wissens und der darauf aufbauenden Erinnerung (Tulving 2001), die für das autobiographische Gedächtnis konstitutiv ist. Wichtig ist festzuhalten, dass die unterschiedlichen Wissens- und Gedächtnisarten zusammenspielen, wenn sich eine Person biographisch artikuliert, das heißt, über sich selbst und ihr eigenes Leben erzählt.
Zeitlich erweist sich das Gedächtnis der Form nach als ein Habitus (im Sinne Bourdieus), als eine zugleich strukturierte und strukturierende Struktur. Das autobiographische Gedächtnis beruht auf einer Geschichte der Einverleibung des praktischen Wissens (Handlungs- und Artikulationsvermögens), vormalige Erfahrungen mit stets neu hinzukommendem Wissen/Erleben von Situationen kohärent zu verbinden.
Da das autobiographische Gedächtnis nicht nur individuell, sondern auch sozial ist, weist es Überschneidungen mit dem kollektiven Gedächtnis (Halbwachs 1985) und dem kulturellen Gedächtnis (Assmann 1992) auf. Das individuelle und soziale Gedächtnis verdankt sich Halbwachs zufolge dabei kollektiver Erinnerungspraktiken, die durch Rituale (wie Feste, Gedenkfeiern, Willkommens- und Verabschiedungszeremonien) Wissen von Vergangenem im sozialen Umlauf halten. Wichtig sind dabei auch kulturell materialisierte Gedächtnismedien sensu Assmann, die Erinnerung in Form von Schrift, Archiven, Monumenten, Bauten, Filmen usw. speichern und reaktualisierbar machen.
Das kollektive Gedächtnis nimmt dabei nicht notwendig eine homogene Gestalt an, die über alle sozialen Gruppen gleichermaßen ausgeprägt wäre, sondern kann in Teilgruppen der Gesellschaft unterschiedlich stark verankert sein. Empirisch interessiert daran für die sozialwissenschaftliche Biographieforschung, wie autobiographische Erzähler:innen auf diese unterschiedlichen Wissens- und Gedächtnisformen rekurrieren, sie gleichzeitig anwenden und miteinander kombinieren, wenn sie über sich und ihr Leben sprechen. Genau diese Formen der Kohärenzbildung auf der Basis von biographisch verfügbaren individuellen, sozialen, kollektiven Wissens- und Gedächtnisformen steht im Mittelpunkt unserer weiteren Rekonstruktionen.
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