Glaubensbezogene Wertbindungen und Zugehörigkeitserfahrungen junger Frauen mit Anbindung an russlanddeutsche Freikirchen
Christine Demmer, Rebekka Hahn
BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Heft 1-2020, S. 3-22.
Zusammenfassung
Wie sich Menschen an Werte binden und inwiefern diese im Kontext des eigenen Lebensentwurfs aufrechterhalten, transformiert oder verworfen werden, wurde bislang empirisch kaum untersucht. Vor dem Hintergrund alternativer Zugehörigkeitskontexte und der Umstrukturierung familialer und weiterer sozialer Beziehungen wird der Adoleszenz eine hervorgehobene Bedeutung für die Prüfung und Aktualisierung von primärsozialisatorisch erworbenen Werten beigemessen. So lässt sich fragen, inwiefern Wertbindungen im Zusammenhang mit Zugehörigkeitserfahrungen in der Phase der Adoleszenz biographisch bearbeitet werden und sich in den Selbst- und Weltverhältnissen junger Menschen niederschlagen. Diese Frage spezifizieren wir im Folgenden mit Blick auf glaubensbezogene Wertbindungen und gehen ihr anhand der biographischen Narrationen junger Frauen mit russlanddeutscher Familiengeschichte nach, die in Anbindung an eine russlanddeutsche Freikirche aufgewachsen sind. Kulturhistorisch bis in die Gegenwart gelten geteilte Glaubenswerte explizit wie implizit als Begründungsmuster für das Zugehörigkeits- und Selbstverständnis freikirchlicher Russlanddeutscher; die Migrations- und Glaubensgeschichte gilt für diese Gruppe als eng miteinander verknüpft. Inwiefern die bereits in Deutschland geborene und aufgewachsene zweite Generation ihre Selbst- und Weltentwürfe an jene ethnokonfessionell geprägten Glaubenswerte einerseits und an die Prämissen, Optionen und Erwartungen einer vorrangig säkularisierten (Migrations-)Gesellschaft andererseits anschließt, ist eine offene empirische Frage. Anhand von drei kontrastiv ausgewählten Fällen legen wir dar, wie glaubensbezogene Wertbindungen im Kontext von familialen und gemeindeinternen Beziehungen und Glaubenspraktiken sowie prospektiven Selbstentwürfen biographisch verhandelt und reflexiv begründet werden.
Einleitung
Wie sich Menschen an Werte binden und inwiefern diese im Kontext des eigenen Lebensentwurfs aufrechterhalten, transformiert oder verworfen werden, ist empirisch noch kaum untersucht worden (Köbel 2018). Vor dem Hintergrund alternativer Zugehörigkeitskontexte und der Umstrukturierung familialer und weiterer sozialer Beziehungen wird der Adoleszenz als einem „Erfahrungs- und Möglichkeitsraum der ‚individuierenden‘ Verhältnissetzungen“ (Mecheril/Hoffarth 2006: 222) eine hervorgehobene Bedeutung für die Prüfung und Aktualisierung von primärsozialisatorisch erworbenen Werten beigemessen. Den damit verbundenen biographischen Aushandlungen gehen wir anhand der narrativen Selbstentwürfe junger Frauen mit russlanddeutscher Familiengeschichte nach, die in Anbindung an eine russlanddeutsche Freikirche aufgewachsen sind. Inwiefern werden glaubensbezogene Wertbindungen, die primärsozialisatorisch erworben wurden, im Zuge der Adoleszenz biographisch relevant und ggf. aktualisiert, transformiert oder reorganisiert?
Zunächst gehen wir im Hinblick auf adoleszente Wertbindungs- und -entwicklungsprozesse auf den spezifischen sozialen Kontext der von uns betrachteten jungen Frauen mit Blick auf die Migrations- und Glaubensgeschichte ein (Abschnitt 1). Darauf aufbauend skizzieren wir eine Verbindung von wert- und zugehörigkeitstheoretischen Ansätzen als theoretische Heuristik unserer Analyse (Abschnitt 2) im Rahmen eines biographieanalytischen Zugriffs auf Wertbindungsnarrationen (Abschnitt 3). Anhand von drei kontrastiv ausgewählten Fällen fächern wir auf, wie glaubensbezogene Wertbindungen im Kontext von familialen und gemeindeinternen Beziehungen und Glaubenspraktiken sowie prospektiven Selbstentwürfen biographisch verhandelt und reflexiv begründet werden (Abschnitt 4). Die Ergebnisse zeigen, inwiefern die Erzählerinnen ihre Narrationen als biographische Glaubensgeschichten in Auseinandersetzung mit Familie, Gemeinde und gesellschaftlichem Umfeld anlegen und sich als reflexive Individuen entwerfen. Die russlanddeutsche Freikirche fungiert dabei als gewichtiger Sozialisationsraum, zu dem einerseits starke Verbundenheit besteht und der andererseits als Ort der adoleszenten Individuierung dienen kann (Abschnitte 5 und 6).
1. Glaubensbezogene Wertbindungen im Kontext von Adoleszenz und Migration
Für Jugendliche in Deutschland kennzeichnen groß angelegte Erhebungen wie die Shell-Jugendstudie oder der DJI-Jugend- und Migrationsreport Familie, Freunde und soziale Beziehungen als höchste Werte, die vor Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit rangieren (Shell 2019: 20). Einzig in Bezug auf Glaubenswerte lassen sich Unterschiede zwischen jungen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund feststellen: Für nominell christliche bzw. landeskirchlich gebundene Jugendliche in Deutschland hat in den letzten Jahren die Bedeutung des Gottesglaubens stetig abgenommen, wohingegen er für muslimische, aber auch freikirchlich gebundene Jugendliche eine deutlich größere Rolle spielt (Schultz 2016; Shell 2019: 23; Faix et al. 2018). Erklärt wird dieser Befund vorrangig mit dem Grad der Tradierung in der Familie und deren engerem Umfeld. So zeigt sich die Tendenz zur Abnahme der Religiosität und ihrer biographischen Bedeutung im Generationenverlauf für als christlich identifizierte Familien stärker als für muslimische (Lochner/Jähnert 2020: 72 ff.). Übergreifend haben religiöse Traditionen und Institutionen mit der Individualisierung des Glaubens zwar an Autorität verloren, bleiben aber insofern relevant, als sie Sinndeutungs- und Lebenspraxisangebote bereitstellen, die sich je nach persönlicher Glaubwürdigkeit und Stimmigkeit individuell kombinieren lassen, wie Gärtner in ihrer qualitativen Untersuchung zeigt (Gärtner 2013: 229).
Einsichten in die Wertbindungen und religiösen Glaubenshaltungen sowie deren familialen Kontext lassen sich für die zweite Generation russlanddeutscher (Spät-)Aussiedler nur sehr bedingt aus den entsprechenden großen Studien der letzten Jahre herauslesen (Lochner/Jähnert 2020: 16; Panagiotidis 2021: 58f.).1 Gleichwohl lässt sich aus kulturhistorischer Perspektive eine spezifische Lage jener jungen Menschen annehmen, da sich für (freikirchliche) Russlanddeutsche eine enge Verknüpfung von Migrations- und Glaubensgeschichte feststellen lässt (zum Beispiel Theis 2006; Weiß 2013): Insbesondere für jene Russlanddeutschen, die während des stalinistischen Regimes unter massivem Druck an ihrem Glauben festhielten, gelten historisch sedimentierte und im kollektiven Gedächtnis tradierte Vorstellungen des „Deutschseins“ und „Christseins“ vielfach als Ausgangspunkt des Wunsches nach einer „Rückkehr in die Heimat“‘ (Worbs et al. 2013: 192). Die mit den ethnisch-religiösen Ausreisemotiven verbundene Zugehörigkeitserwartung der gläubigen Familien wurde vor dem Hintergrund der stattgefundenen Modernisierungsprozesse innerhalb der hiesigen Kirchenlandschaft allerdings kaum erfüllt, was als Anlass zur Gründung eigener russlanddeutscher Freikirchen zumeist evangelikaler Prägung beschrieben wird (zum Beispiel Ens 2017). Die bereits in der Sowjetunion erprobte Form der exklusiven Gemeinschaftsbildung wird als Umgang mit dem nach der Aussiedlung zentralen Bedarf nach „sozialen, theologischen und auch kirchengemeindlichen Sicherheiten“ (ebd.) gesehen. In diesem Sinne wird der ethnokonfessionellen Vergemeinschaftung (zum Beispiel Reimer 2006) in den russlanddeutschen Freikirchen eine hohe Bedeutung für die Verarbeitung kollektiver Migrationserfahrungen zugeschrieben (Theis 2006: 19 ff.; Vogelgesang 2008: 147). Aufgrund der Kettenmigration in Familienverbünden, die sich häufig in räumlicher Nähe zueinander niederließen, prägen familiale Strukturen anhaltend jene freikirchlichen Gemeinden. Sowohl in der (Groß-)Familie als auch in der Gemeinde lassen sich Ausrichtungen an kollektivistischen Werten bei ausgeprägter intergenerationaler Verbundenheit, Solidarität und Verpflichtung sowie teils exklusive Bindungsansprüche feststellen (Römhild 1998: 289; Vogel 2012: 309; Elwert 2015: 129). Bis heute werden geteilte Glaubenswerte in russlanddeutschen Freikirchen als Grundlage für Vorstellungen wünschenswerter und wesentlich auch geschlechtsspezifischer Verhaltenspraktiken und Lebensentwürfe gesehen, die jenseits der verblassenden geteilten Migrationsgeschichte eine maßgebliche Grundlage für das kollektive Selbst- und Zugehörigkeitsverständnis darstellen (zum Beispiel Löneke 2000; Schäfer 2010; Elwert 2015). In ihren glaubens- und lebenspraktischen Ausdrucksformen, die etwa Kleidungsstile, Bildungs- und Berufswege sowie Geschlechterrollen und Familienbilder betreffen, heben sich die freikirchlichen Russlanddeutschen häufig von den Wertorientierungen und Praktiken der weitgehend säkularisierten Mehrheitsgesellschaft ab. Gleichwohl gehören sie als Christ*innen der Mehrheitsreligion an, was sie zumindest strukturell einer Minderheitenposition enthebt.
Inwiefern die bereits in Deutschland geborene und aufgewachsene zweite Generation ihre Selbst- und Weltentwürfe an jene ethnokonfessionell geprägten, familial tradierten Glaubenswerte einerseits und an die Prämissen, Optionen und Erwartungen einer vorrangig säkularisierten (Migrations-)Gesellschaft andererseits (zum Beispiel Taylor 1994; Rosa 1998) anschließt, ist eine offene empirische Frage, die kaum durch standardisierte Forschungsformate untersucht werden kann. Vielmehr ist eine Erforschung der Entstehung und lebenszeitlichen Entwicklung von Wertbindungen auf die biographische Narration verwiesen (Köbel 2018: 8), die eine prozesshafte Perspektive auf Lebensereignisse und deren werthafte Deutung erlaubt (ebd.: 129). Dabei schließen wir an wert- und zugehörigkeitstheoretischen Ansätzen und deren Verbindung an, die sich – unserer Empirie vorgreifend – in den von uns erhobenen Fällen widerspiegelt und sich zudem aus den wechselseitigen Verweisen in den jeweiligen Ansätzen theoretisch begründen lässt.
2. Wertbindungen und (Mehrfach-)Zugehörigkeiten – Skizze einer Verschränkung
Werte stabilisieren das gesellschaftliche Zusammenleben und verweisen zugleich auf Selbstverhältnisse und Selbstverständnisse von Individuen, indem sie Fragen nach Identität, Authentizität und persönlichem Sinn berühren (Horster 2004: 106; Köbel 2018: 32). Die biographische Herausforderung für das Individuum besteht darin, das soziokulturell vorstrukturierte Angebot an moralischen und ethischen Wertüberzeugungen auszudeuten und in Bezug zueinander sowie zum eigenen Selbst- und Lebensentwurf zu setzen. Resultierend daraus stellt sich die Frage, „welche Sozialisations- und Entwicklungsprozesse dazu führen, dass eine Person sich an Werte bindet und im Zuge ihres ethischen Lebensentwurfs bestimmte Grundeinstellungen als Kernelemente ihrer Subjektivität errichtet“ (Köbel 2018: 54).
Für die Bearbeitung dieser Frage lässt sich auf die werttheoretischen Ausführungen von Hans Joas zurückgreifen (Joas 2006: 5; Köbel: 88 ff.). Joas versteht Werte als hochgradig emotional besetzte Vorstellungen dessen, was der Mensch jenseits seiner oft unsteten oder gar konfligierenden Wünsche für das wahrhaft Wünschenswerte im Leben hält (Joas 2006: 3). Mit G. H. Mead geht er davon aus, dass Kleinkinder sich im Zuge der Entwicklung des Selbstbewusstseins über die Identifikation mit ihren primär-sozialisierenden Bezugspersonen deren grundlegende Wertbindungen aneignen (ebd.: 4). Die Differenzierung von Identifikation und vertretenen Wertvorstellungen vollzieht sich in der Adoleszenz, in der Menschen ihr Selbst- und Weltverhältnis zunehmend reflexiv bearbeiten und erstmals die Frage nach dem „wahren Selbst“ stellen, das sich nach Taylor konstituiert durch „die Bindungen und Identifikationen, die den Rahmen und Horizont abgeben, innerhalb dessen ich von Fall zu Fall zu bestimmen versuchen kann, was gut oder wertvoll ist oder was getan werden sollte bzw. was ich billige oder ablehne“ (Taylor 1994: 55). Ab dem Jugendalter und das gesamte weitere Leben werden primärsozialisatorisch erworbene Wertgehalte nicht länger unhinterfragt übernommen, sondern reflexiv bearbeitet und in den Eigenbestand integriert oder aber verworfen (Joas 2006: 4; Köbel 2018: 252).
1 Soziodemografische Daten sind nur für die erste und die anderthalbe Generation verfügbar. Hierbei wird häufig nicht konsequent nach Herkunftsländern differenziert, was eine aussagekräftige und eigenständige Betrachtung der russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler erschwert (Panagiotidis 2021: 58). Zwar wird auch der Migrationshintergrund für die zweite Generation über die Staatsangehörigkeit bzw. das Geburtsland der Eltern erfasst, jedoch nur, solange sie mit ihren Eltern einen Haushalt teilen. Junge Erwachsene aus (russlanddeutschen) (Spät-)Aussiedlerfamilien, die über die deutsche Staatsangehörigkeit und einen eigenen Hausstand verfügen, werden statistisch nicht erfasst (Panagiotidis 2021: 59).
* * *
Sie möchten gerne weiterlesen? Dieser Beitrag ist in dem Heft 1-2020 der BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen erschienen.
© Unsplash 2022, Foto: James