Frankreichs Demokratiemodell am Scheideweg

Der Eiffelturm bricht zusammen. Frankreichs Demokratiemodell am Scheideweg

Frankreichs Demokratiemodell am Scheideweg – ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Henrik Uterwedde

***

Frankreich erlebt turbulente Zeiten. Hatte unser Nachbarland bei den Olympischen Sommerspielen in Paris noch gezeigt, zu welch außerordentlichen kollektiven Anstrengungen und Leistungen es fähig ist, wird der Herbst wieder von der völlig verfahrenen innenpolitischen Lage geprägt. Seit den Parlamentswahlen vom Juli 2024 gibt es keine regierungsfähige politische Mehrheit mehr. Drei große Blöcke stehen sich unversöhnlich gegenüber: die Linke mit 193 Mandaten, die bürgerliche Mitte mit 166 und die extreme Rechte mit 142 Sitzen; dazu kommt die Fraktion der Konservativen mit 47 Sitzen. Wochenlang dauerte es, bis Präsident Macron den ehemaligen EU-Kommissar Michel Barnier zum Premierminister ernannte und dieser eine Regierung bilden konnte. Aber wie handlungsfähig wird diese Regierung sein? Sie sieht sich einer doppelten Opposition von links und rechtsaußen gegenüber und kann jederzeit durch ein Misstrauensvotum gestürzt werden. Auch der Präsident ist geschwächt und nicht mehr Herr der Situation. Unserem Nachbarland drohen Monate politischen Stillstands und innenpolitischer Grabenkämpfe. Dabei handelt es sich nicht um eine einfache Regierungskrise. Auf dem Spiel stehen die Grundlagen des politischen Systems und des Demokratiemodells.

 

Frankreich – eine Mehrheitsdemokratie

Was ist der Kern dieser französischen Malaise, und wie ist es dazu gekommen? Frankreichs Demokratiemodell ist seit der 1958 gebildeten Fünften Republik das einer Mehrheitsdemokratie: Die Mehrheitswahl begünstigte die Herausbildung eines linken und eines rechten Blocks und führte (fast) immer zu klaren politischen Mehrheiten. In den letzten Jahrzehnten haben sich Linke und Rechte mehrfach in der Regierungsverantwortung abgewechselt. Koalitionen oder die parteiübergreifende Suche nach Kompromissen sind in diesem System nicht vorgesehen und auch nicht nötig. Sie würden im Übrigen als Schwäche oder gar Verrat am eigenen Programm und den Wählern gewertet. Die einzigen Koalitionen sind Wahlbündnisse, die die verschiedenen Parteien der Linken und der Rechten untereinander abschließen (müssen), um angesichts der Mehrheitswahl ihre Chancen auf Parlamentssitze zu steigern.

Die politische Macht ist zudem zentralistisch organisiert, stark konzentriert und unterliegt einer klaren Hierarchie. Der Staatspräsident hat als Chef der Exekutive alle Fäden in der Hand, wenn er auch im Parlament über eine Mehrheit verfügt. Anders als in Deutschland wird der Regierungschef nicht vom Parlament gewählt, sondern vom Präsidenten ernannt, der in seiner Entscheidung frei ist, auch wenn er dabei die Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung beachten muss. Nur dreimal war dies anders, weil die Opposition die Parlamentswahl gewonnen hatte und er dann den Oppositionsführer zum Regierungschef ernennen musste. In der Regel aber dominiert der Präsident das politische Geschehen und ist die Schlüsselfigur des französischen Regierungssystems.

 

Die Mehrheitswahl produziert keine Mehrheiten mehr

Dieses System ist seit 2017 ins Wanken geraten. Emmanuel Macron gelang es als Kandidat der Mitte erstmals, das Kartell der Linken und der Rechten zu durchbrechen und Präsident zu werden. In der Folge ist das tradierte Parteiensystem aufgebrochen: Die alten Regierungsparteien, die Frankreich bisher regiert hatten (Sozialisten auf der einen, Republikaner auf der anderen Seite) sind in eine tiefe Krise geraten. Eine Reihe ihrer Führer lief zu Macron über, und ein Großteil ihrer Wähler wanderte entweder zu Macrons Mitte oder aber zu den radikalen Parteien ab. Vor allem das rechtsextreme Rassemblement national setzte seinen Aufstieg fort und konnte sich als dritte politische Kraft etablieren. Dies kam Macron zunächst entgegen, konnte er sich doch als Präsident der gemäßigten Mitte gegenüber den radikalen Kräften profilieren. Aber sein selbstherrlicher Regierungsstil provozierte zunehmend Widerstände in der Bevölkerung, der sich zunächst in sozialen Protesten und Revolten, später auch im Wahlverhalten entlud. Viele Wähler, die ihm 2022 wieder ihre Stimme gaben, um Le Pen zu verhindern, verweigerten ihm bei den anschließenden Parlamentswahlen die Gefolgschaft. So verlor Macron seine Mehrheit im Parlament. Sein Versuch, durch Neuwahlen im Juli 2024 die Lage zu klären, ging gründlich schief: Seine Partei der Mitte wurde deutlich geschwächt, während vor allem die Rechtsextremen weiteren Zulauf verzeichneten. Nur durch lagerübergreifende Absprachen für die Stichwahlen konnte ein durchaus möglicher Sieg des Rassemblement national von Marine Le Pen verhindert werden.

Die Folgen sind vielfältig: Erstens ist das Parteiensystem völlig aus den Fugen geraten. Die politische Zersplitterung und tiefe Spaltung des Landes hat sich noch verschärft. Zweitens produziert das Mehrheitswahlsystem keine klaren Mehrheiten mehr. In der Nationalversammlung sitzen nicht weniger als elf Fraktionen. Keines der großen politischen Lager (Linke, Mitte, Konservative, Rechtsextreme) kann alleine regieren. Drittens hat die Polarisierung zugenommen, und das gestiegene Gewicht der Links- und Rechtsextremen (fast 200 der 577 Sitze) bedeutet eine große Hürde für die Bildung einer Regierungsmehrheit. Viertens haben die Wahlen auch die einst dominante Position des Präsidenten empfindlich geschwächt, der traditionell immer eine Schlüsselrolle im politischen System eingenommen und für Stabilität gesorgt hatte. Frankreich befindet sich damit nunmehr in derselben Lage wie viele seiner Nachbarländer: Ohne intensive Verhandlungen, Kompromisse und Koalitionen, die die tradierten politischen Lagergrenzen überschreiten, ist keine Regierungsbildung möglich.

 

Verhandlungs- statt Mehrheitsdemokratie?

Aber was in anderen Ländern längst politischer Alltag ist und mehr oder weniger gut funktioniert, bedeutet für Frankreich Neuland. Es erfordert eine Revolution der politischen Kultur. Die alten Mechanismen der Mehrheitsdemokratie funktionieren nicht mehr, aber der Übergang zu einer Verhandlungsdemokratie (in der die Suche nach Kompromissen und die Bildung von Koalitionen zentral sind) ist steinig und wird von vielen Akteuren verweigert. Denn die meisten Politiker wie auch die Wähler sind noch in den alten Denkweisen verhaftet. Sie tun sich schwer zu akzeptieren, was eine Verhandlungsdemokratie erfordert: die Bereitschaft zur Teilung der Macht, das gleichberechtigte Aushandeln eines möglichen Regierungsbündnisses durch die Suche nach Gemeinsamkeiten und Kompromissen, die Fähigkeit zur Überwindung von Gegensätzen. Stattdessen dominieren weiterhin Allmachtsvorstellungen, die den Realitäten längst nicht mehr entsprechen. „Jede Partei schlägt maximalistische Töne an und klammert sich an ihr eigenes Programm, ihre Bilanz oder ihre Dogmen, geradeso als ob sie über eine Armada von Hunderten von Abgeordneten verfügte“, urteilt die linke Wochenzeitschrift L’Obs. Ein Musterbeispiel dieser Denkweise lieferte das vom Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon beherrschte linke Wahlbündnis. Mit der Begründung, es habe die Wahl „gewonnen“ (tatsächlich haben ihre 4 Fraktionen zusammen 27 Mandate mehr als das Bündnis der Mitte, verfügen aber mit 193 von 577 Abgeordneten nicht einmal über ein Drittel der Parlamentssitze!) verlangte ihre Führung allen Ernstes von Präsident Macron, einen linken Premierminister zu ernennen, dessen Regierung das Wahlprogramm der Linken vollständig umsetzen solle. Ein klassischer Fall von Realitätsverweigerung, der aber auch in den anderen politischen Lagern zu finden ist.

Die radikalen Parteien (Linkspopulisten, Rechtsextreme) verschließen sich ohnehin grundsätzlich und strikt jeglicher Kompromissregierung. Aber auch die übrigen Akteure tun sich schwer damit. Denn eine mögliche Koalition könnte und müsste die Parteien der gemäßigten Linken (vor allem Sozialisten und Grüne), der Mitte und der gemäßigten Rechten (Republikaner) einbinden – das würde aber einen politischen Spagat erfordern, der jedenfalls gegenwärtig viele beteiligte Parteien überfordert. Denn auch deren Denkweisen werden weiterhin von einer politischen Polarisierung und dem Ruf nach dem vollständigen „Bruch“ mit der Politik des Gegners dominiert.

Ein weiteres Problem ist, dass eine Kompromiss- und Koalitionsbildung die gegenwärtige politische Landschaft aufmischen würde. Vor allem das linke Wahlbündnis, das zwischen radikal-fundamentalistischen (Mélenchon) und gemäßigteren Kräften viele unterschiedliche Positionen umfasst, könnte gesprengt werden. Mélenchon muss um seinen Einfluss fürchten und versucht jegliche Kompromisssuche deshalb mit allen Mitteln zu torpedieren; er inszeniert stattdessen spektakuläre Aktionen wie den (chancenlosen) Antrag auf Amtsenthebung Macrons oder ruft zu Massendemonstrationen auf der Straße auf. Aber auch Grüne und Sozialisten, die sich möglichen Kompromissen nicht verschließen würden, sind mehr als zögerlich. Bei den Sozialisten droht eine Zerreißprobe zwischen der gegenwärtigen Führung, die am Bündnis mit Mélenchon festhält, und einer starken Minderheit, die neue Wege gehen will und auch Kompromisse mit anderen politischen Kräften nicht ausschließt. Schließlich trägt auch Präsident Macron nicht dazu bei, eine neue politische Kultur zu fördern. Obwohl seine Partei doch die Parlamentswahl krachend verloren hat, scheint er nicht gewillt, wirklich Konsequenzen daraus zu ziehen, seine Macht zu teilen und Kompromisse mit seinen Gegnern zu akzeptieren. Auch er ist Gefangener des alten Denkens und klammert sich an seine präsidialen Vorrechte.

 

Erneuerung des Demokratiemodells?

Wie geht es weiter in Frankreich? Noch ist völlig unklar, wie die Regierung aufgrund der konfusen Machtverhältnisse die zahlreichen Probleme des Landes angehen will – und wie ihre Überlebensaussichten sind. Viele Szenarien sind derzeit denkbar. Fest aber steht heute schon eins: Es geht nicht nur um die Zukunft der Regierung, sondern vor allem um die Zukunftsfähigkeit des französischen Demokratiemodells.

Dieses Modell steht an einem Scheideweg. Droht Frankreich ein Stillstand durch die Blockademacht der extremen Kräfte, ein weiterer Vertrauensverlust zwischen Bürgern und politischer Klasse und damit ein dauerhafter Schaden für die Demokratie? Oder kann die gegenwärtige verfahrene Situation zur Initialzündung für eine Reform des Demokratiemodells werden? Die von vielen Akteuren geforderte Einführung der Verhältniswahl könnte einen solchen Impuls geben. Dieses Wahlrecht würde die gewachsene Pluralität der Gesellschaft stärker abbilden. Sie würde die einzelnen Parteien aus ihrer Gefangenschaft in den jeweiligen linken bzw. rechten Blöcken befreien und ihnen mehr Autonomie verleihen, was ihre Bereitschaft zu Kompromiss- und Koalitionsbildung verstärken könnte. Viel wird auch davon abhängen, ob der neue Premierminister genügend Autorität und parlamentarische Zustimmung sammeln kann, um seine Regierung ein Stück weit vom Präsidenten zu emanzipieren. Insofern birgt Macrons gegenwärtige, selbst verschuldete Schwäche auch die Möglichkeit zu einer stärker parlamentarischen Demokratie, die weniger von der Allmacht des Präsidenten abhängt. Premierminister Barnier könnte schließlich auch die Politik bürgernäher gestalten, indem er der lokalen Ebene, den Verbänden, Sozialpartner und allgemein der Zivilgesellschaft mehr Respekt und Gehör schenkt, als dies unter dem selbstherrlich regierenden Präsidenten Macron der Fall gewesen ist.

Dieses optimistische Szenario ist möglich, aber keinesfalls sicher. Zu stark sind die Beharrungskräfte bei vielen beteiligten Politikern und Parteien; zu verlockend ist die Versuchung, bei kommenden Wahlen nach der ganzen Macht zu greifen, um ohne „lästige“ Koalition regieren zu können; zu eingefahren ist die Tradition, an der „reinen Lehre“ (jedenfalls verbal) festzuhalten, anstatt mühsam Kompromisse mit den „Gegnern“ auszuhandeln. Verfall, Beharrung oder Erneuerung: Die Zukunft des französischen Demokratiemodells bleibt offen.

***

Jetzt versandkostenfrei im Budrich-Shop bestellen

Uterwedde Frankreich – eine Länderkunde 2. AuflageHenrik Uterwedde:

Frankreich – eine Länderkunde

2., überarbeitete und aktualisierte Auflage

 

 

 

 

Beitragsautor Prof. Dr. Henrik Uterwedde

Henrik Uterwedde

assoziierter Wissenschaftler am Deutsch-Französischen Institut (dfi) in Ludwigsburg

zuvor stellvertretender Direktor am dfi

bis 2013 Universitäten Stuttgart und Osnabrück

 

 

Über das Buch

Frankreich ist Deutschlands wichtigster Partner in Europa. Aber trotz aller Nähe gibt es immer wieder Verständnisprobleme. Warum hat Frankreich in vielen Bereichen einen anderen Weg eingeschlagen als Deutschland? Wo liegen die Unterschiede, wo die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ländern? Dieses Buch liefert unentbehrliche Grundlagen, erläutert Zusammenhänge und bietet Erklärungen, um unser Nachbarland und seinen schwierigen Wandel und seine aktuellen Probleme zu verstehen.

 

Mehr Gastbeiträge …

… sind auf unserem Blog versammelt.

 

© Foto Henrik Uterwedde: privat | Titelbild: erzeugt mit Leonardo.Ai