Israelisch-palästinensischer Konflikt: „Stand with“ und notwendige Grautöne – Gastbeitrag von Johannes Varwick

Israelisch-palästinensischer Konflikt Mauer Gazastreifen

Dieser Gastbeitrag wurde am 20.10.2023 verfasst.

Unter dem Betreff „Terror, Antisemitismus, Rechtsextremismus“ schrieb die Verlegerin des Verlags Barbara Budrich am 18. Oktober 2023 in der Rubrik „budrich intern“ eine Nachricht an ihren Verteiler. Sie fand darin klare und eindrucksvolle Worte zu den aktuellen Ereignissen rund um die Eskalation der Gewalt im Nahen Osten: „Bestürzend, die Bilder aus Israel. Ekelhaft, die Hamas-Propaganda, die über alle Social-Media-Kanäle schwappt. Widerwärtig, wie Menschen auf der ganzen Welt die brutalen Übergriffe der Hamas auf israelische Zivilisten feiern. Dumpfe Gewalt und Grausamkeit wird öffentlich auch auf deutschen Straßen als Antisemitismus sichtbar. Dass Antisemitismus in Deutschland überhaupt weiterhin ein Thema ist, ist angesichts des Holocaust unfassbar.“

Als jahrelanger Autor und Freund des Verlages fühle ich mich sehr gut aufgehoben in einem Verlag, der zu diesen Ereignissen nicht schweigt. Ich schrieb Barbara Budrich ganz intuitiv zurück: „Danke für Ihre klare Positionierung, finde ich gut! Aus Perspektive eines UNO- und IB-Forschers stellt sich der Nahostkonflikt zugleich in mancherlei Hinsicht differenziert(er) dar, aber das ändert nichts an Ihrer Aussage, die ich voll teile. In diesen Zeiten braucht es mutige Demokraten, und auch ich werde das Feld nicht den Radikalen überlassen!“

 

Israelisch-palästinensischer Konflikt: Außenpolitische und innenpolitische Differenzierung

In den vergangenen Tagen ist zunehmend klar geworden, dass es einerseits unmissverständliche Positionierung braucht, aber zugleich Differenzierung weiter notwendig ist. Ich beobachte mit Sorge, dass diese verlorenzugehen droht. Dies gilt für zwei Ebenen: die außenpolitische und die innenpolitische.

Die terroristischen Angriffe der Hamas (und auch der Hisbollah) sind durch nichts zu rechtfertigen und ein schweres Menschheitsverbrechen. Es ist nahezu unerträglich, zu was Menschen fähig sind. Ich beklage die Opfer auf Seiten der Israelis und auch der Palästinenser. Die Verantwortung dafür tragen allein die palästinensischen Terroristen und die sie unterstützenden Gruppen und Staaten. Niemand kann jedoch sagen, ob der grundsätzlich legitime Verteidigungskrieg Israels und der vermutlich bevorstehende Einmarsch in Gaza die selbst erklärten Ziele erreicht oder die Lage dadurch (noch) weiter außer Kontrolle gerät. Israel braucht jetzt zwar keine Ratschläge von außen, aber man wird schon eine Position dazu haben dürfen, wenn etwa der israelische Verteidigungsminister von „human animals“ spricht, die zu bekämpfen seien. Meine Solidarität hat das nicht.

Manche kritisieren mich dafür, dass ich die Lage in Gaza (oder genauer: die Aufforderung Israels an mehr als eine Million Menschen, den nördlichen Gazastreifen zu verlassen etc.) als Versuch der „ethnischen Säuberung“ bezeichnet habe. Meine Bezeichnung dafür ist gewiss zugespitzt und lässt sich (wie fast jeder/s umstrittene bzw. nicht eindeutig definierte Begriff oder Konzept) missbräuchlich verwenden oder aus dem Zusammenhang gerissen auch instrumentalisieren. Es war aber kein Versprecher oder eine unbedachte Aussage, sondern ich bleibe dabei, wie im Übrigen auch das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR).1 Ein unverhältnismäßiges Vorgehen verletzt Völkerrecht und ist kontraproduktiv. Die internationale Kritik auf die in ihren ersten Ankündigungen deutlich überzogene Wahrnehmung des natürlich legitimen Selbstverteidigungsrechtes Israels – das ich zu keiner Sekunde bestritten habe! – scheint zudem (bislang) dazu beigetragen haben, dass die Gaza-Intervention bisher so noch nicht stattgefunden hat (obschon durch die Bombardements bereits eine große Zahl an Zivilisten gestorben und vertrieben worden ist).

Die geopolitische Lage ist extrem brisant und die weiteren Eskalationsmöglichkeiten enorm. Ohne die Abschreckungswirkung der USA könnten sich andere Akteure auch jenseits der Hamas ermutigt fühlen, nun einen großen Krieg gegen Israel anzuzetteln. Das muss unter allen Umständen verhindert werden. Das Existenzrecht Israels ist vollkommen zurecht deutsche Staatsräson, und wenn dem so ist, dann muss Deutschland an der Seite Israels stehen – mit Worten, aber vor allem auch mit Taten. Die Bundesregierung sollte alles tun, was in dieser Lage erforderlich und angemessen ist. Nach meinem Eindruck macht sie bisher Vieles richtig.

Auch in dieser Lage sollte aber nicht darüber hinweggesehen werden, dass Israel derzeit eine zumindest in Teilen rechtsextreme Regierung hat – und das kann auch bei der Bewertung der Lage nicht vollkommen außen vor bleiben. Stellvertretend für viele israelische KollegInnen schreibt etwa der ehemalige israelische Außenminister Shlomo Bel-Ami, dass 15 Jahre Netanyahu-Regierungen „früher oder später zu einer Tragödie führen mussten“. In diesem Sinne ist zwischen Schuld und Verantwortung zu unterscheiden. Schuld an der aktuellen Lage haben die Hamas etc., Verantwortung trägt aber auch Israel – durch seine falsche Politik, die systematische Missachtung der Rechte der Palästinenser und die Weigerung, zu einer fairen Zweistaatenlösung zu kommen.

 

Radikalisierung statt Versachlichung

Dies leitet über zur innenpolitischen Gemengelage in Deutschland. Barbara Budrich hat auch hier Recht: „Dass Antisemitismus in Deutschland überhaupt weiterhin ein Thema ist, ist angesichts des Holocaust unfassbar“. Dass zugleich durch den aktuellen Diskurs in Öffentlichkeit, Medien und Politik eine Atmosphäre geschaffen wurde bzw. entstanden ist, in der jeder Versuch einer Differenzierung als Sympathie mit der Hamas verstanden und als Antisemitismus ausgelegt wird, ist gleichermaßen inakzeptabel. Wer muslimische Personen subtil unter Generalverdacht stellt oder zu einer vorbehaltlosen Solidarität mit Israel drängt und in diesem Sinne erwartet oder verlangt, bestimmte Positionen ohne jegliche Differenzierung einnehmen zu müssen – da man ansonsten Gefahr laufen könnte, als Antisemit oder gar Sympathisant der Hamas gebrandmarkt zu werden – der trägt zur Radikalisierung und nicht zur Versachlichung bei.

Der Nahostkonflikt hat wenig mit dem Islam zu tun – in der Region selbst wie auch hier nicht. Es ist vielmehr eine Auseinandersetzung um Siedlungspolitik und Grenzen, um Macht und Freiheit. Es ist nicht in erster Linie ein religiöser Konflikt, sondern ein Kampf um Landbesitz und Identität. Eine religiöse Aufladung auf beiden Seiten spitzt die Lage unverantwortlich zu. Religiöse Radikalisierung bedeutet immer, religiöse Motive zu instrumentalisieren. Genauso wenig wie der IRA-Terror in Irland „katholisch“ oder die Kreuzzüge „christlich“ waren, genauso wenig ist der Hamas-Terror „muslimisch“. Im Übrigen haben die meist arabischen Einwanderer, die sich in zudem überschaubarer Zahl etwa in Neukölln auf in der Tat vollkommen inakzeptable Weise mit der Hamas solidarisiert haben, gewiss keine tiefe religiöse Überzeugung. Wer in Einwanderungsgesellschaften pauschalisiert, der löst ein Ticket in den Bürgerkrieg. Ein wertschätzender Umgang mit Muslimen ist genauso notwendig wie mit Juden.

Jüdisches Leben in Deutschland muss natürlich unmissverständlich und mit höchster Priorität geschützt werden, und es beschämt, dass das erforderlich ist. Die Probleme mit Zuwanderung müssen deutlich adressiert und angegangen werden, sie haben damit allerdings nur bedingt zu tun – wie nicht nur der Anschlag auf die Synagoge in Halle vor fast genau vier Jahren (die in unmittelbaren Nähe zu meinem Büro an der Universität Halle liegt) belegt.

Ich empfinde es als 1968 geborener Deutscher (natürlich) als meine moralische Pflicht, oder besser gesagt als Selbstverständlichkeit, an der Seite Israels zu stehen. Doch genauso bin ich bei Richard Haass, der heute in Foreign Affairs einen klugen Beitrag schrieb: „What Friends Owe Friends: Why Washington Should Restrain Israeli Military Action in Gaza—and Preserve a Path to Peace“. Im Nahostkonflikt verbieten sich in diesem Sinne einseitige Parteinahmen. Der seit Generationen ungelöste Konflikt verlangt Besonnenheit auf allen Seiten – die es aber offenkundig zu wenig gibt, ganz gewiss nicht nur auf Seiten der Palästinenser. Nicht jeder, der in diesem Sinne ein „Ja, aber“ denkt und ausspricht, ist ein Feind Israels, und auch nicht jeder, der nun auch die zivilen Opfer unter den Menschen in Gaza beklagt, verwechselt Ursache und Wirkung. Wer die Hardliner stärkt, trägt nicht zu einer Lösung bei. Anders formuliert: Der Zweck – Sicherheit Israels – heiligt nicht nur nicht vorbehaltlos die Mittel, und selbst wenn er das doch täte (wofür man sein kann und wofür hier einiges sprechen mag): Der Zweck wird so meines Erachtens nicht erreicht, vermutlich sogar das Gegenteil. Das muss man diskutieren können müssen, ohne der Illoyalität mit Israel bezichtigt zu werden – das sieht im Übrigen auch eine ganze Reihe an israelischen KollegInnen so.

 

Fazit

Unsere zunehmende „Stand with-Kultur“, die schon im Krieg gegen die Ukraine und auch jetzt im Nahostkonflikt zu beobachten ist, kann einerseits als sinnvolle Positionierung und erfreuliche Politisierung verstanden werden und ich habe Garnichts dagegen. Das Feld der Wissenschaft ist jedoch das der (faktenbasierten) Grautöne und diese müssen auch in stürmischen Zeiten möglich sein. Das ist nicht zwingend eine Relativierung von irgendwas, sondern notwendiger Bestandteil eines demokratischen Diskursraumes, der offene Gesellschaften auszeichnet und im Übrigen auch anderen überlegen macht. Sie ist auch immer Voraussetzung für eine konsistente Strategie.

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1 “There is a grave danger that what we are witnessing may be a repeat of the 1948 Nakba, and the 1967 Naksa, yet on a larger scale. The international community must do everything to stop this from happening again,” the UN expert said. She noted that Israeli public officials have openly advocated for another Nakba, the term for the events of 1947-1949 when over 750,000 Palestinians were expelled from their homes and lands during the hostilities that led to the establishment of the State of Israel. The Naksa, which led to Israel’s occupation of the West Bank and the Gaza Strip in 1967, displaced 350,000 Palestinians.“; Quelle: https://www.ohchr.org/en/press-releases/2023/10/un-expert-warns-new-instance-mass-ethnic-cleansing-palestinians-calls

 

Der Autor

Johannes Varwick © Henning SchachtProf. Dr. Johannes Varwick ist deutscher Politikwissenschaftler. Seit 2013 hält er den Lehrstuhl für „Internationale Beziehungen und europäische Politik“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Im Verlag Barbara Budrich hat er unter anderem gemeinsam mit Sven Bernhard Gareis Die Vereinten Nationen. Aufgaben, Instrumente und Reformen sowie mit Wichard Woyke das Handwörterbuch Internationale Politik veröfffentlicht.

 

 

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© Titelbild: unsplash.com | Levi Meir Clancy ; Foto Johannes Varwick: Henning Schacht