An der Seite der Überlebenden. Therapiezentren für Folterüberlebende als Produkt der internationalen Solidarität
Knut Rauchfuss, Christian Cleusters, Bianca Schmolze
PERIPHERIE – Politik • Ökonomie • Kultur, Heft 173 (1-2024), S. 53-78.
Zusammenfassung
1983 wurde in Kopenhagen das weltweit erste Rehabilitationszentrum für Folteropfer eröffnet. Bereits vorher hatten einzelne chilenische Aktivist*innen im europäischen Exil kleinere psychosoziale Zentren ins Leben gerufen. In den Diktaturen des Cono Sur und Mittelamerikas, aber auch in anderen Teilen der Welt hatten Menschenrechtsaktivist*innen vor Ort ebenfalls begonnen, den Kampf um Befreiung und die psychosoziale Versorgung von Überlebenden sozialpolitischer Traumatisierungsprozesse zusammenzudenken und zu praktizieren. Eine maßgebliche Rolle spielte dabei die Befreiungspsychologie, die über die internationale Solidarität auch die Gründer*innen der ersten europäischen Zentren erreichte. Der Aufsatz zeichnet diese Verflechtungsgeschichte von Befreiungskämpfen, Menschenrechtsarbeit, internationaler Solidarität und der Gründung von Therapiezentren nach. Bereits zu Beginn war die Arbeit im Kampf gegen Folter dabei sowohl an der individuellen und sozialen Rehabilitierung der Überlebenden ausgerichtet, als auch an der strafrechtlichen Verfolgung der Täter*innen. Heute haben jedoch viele der zwischenzeitlich in zahlreichen deutschen Städten gegründeten Zentren diese Orientierung gegen ein Selbstverständnis als reine Versorgungseinrichtung eingetauscht. Zusätzliches politisches Engagement fokussiert allenfalls auf die Unterstützung traumatisierter Flüchtlinge in Deutschland. Die Autor*innen plädieren daher für eine Wiederbelebung der internationalen solidarischen Parteilichkeit in deutschen Psychosozialen Zentren und die Rekonstruktion eines Selbstverständnisses, Teil der internationalen Menschenrechtsbewegung zu sein.
Schlagwörter: Folterüberlebende, psychosoziales Zentrum, internationale Solidarität, Menschenrechtsverletzungen, Militärdiktatur, Chile, Argentinien, Therapiezentrum, Straflosigkeit, Befreiungspsychologie, Psychotrauma
At the Side of Survivors. Therapy Centres for Torture Survivors as a Product of International Solidarity
Summary
In 1983, the world ʼs first rehabilitation centre for torture victims opened in Copenhagen. Individual Chilean activists in European exile had already set up smaller psychosocial centres before. In the dictatorships of the Cono Sur and Central America, but also in other parts of the world, local human rights activists had also begun to join theory and practice of their struggle for liberation with the psychosocial care of survivors of socio-political traumatization processes. Liberation psychology, which also reached the founders of the first European centres through international solidarity, played a key role in this. The essay traces this intertwined history of liberation struggles, human rights work, international solidarity and the founding of therapy centres. From the very beginning, the fight against torture focused on the individual and social rehabilitation of survivors as well as the criminal prosecution of perpetrators. Today, however, many of the centres that have since been founded in numerous German cities have swapped this orientation for a self-image as pure care facilities. Additional political commitment focuses at best on supporting traumatized refugees in Germany. The authors therefore call for a revitalization of international solidarity partisanship in German psychosocial centres and for reconstructing their self-image of being part of the international human rights movement.
Keywords: torture survivors, psycho-social centre, international solidarity, human rights violations, crimes against humanity, military dictatorship, Chile, Argentine, therapy centre, impunity, liberation psychology, psycho trauma
In zahlreichen deutschen Städten existieren heute Psychosoziale Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer. 47 von ihnen waren Ende 2022 in der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) zusammengeschlossen. Die meisten Zentren sehen sich dabei primär als multiprofessionelle Versorgungseinrichtungen und ggf. darüber hinaus auch als Teil solidarischer Netzwerke zur Unterstützung von Geflüchteten, die innerhalb Deutschlands oder Europas Schutz suchen (BAfF 2023). In vielen Zentren ist jedoch die internationale Verflechtungsgeschichte in Vergessenheit geraten, aus der heraus therapeutische Einrichtungen für Folterüberlebende weltweit entstanden sind und deren Wurzeln weit in die internationale Solidaritätsbewegung der 1970er und 1980er Jahre zurückreichen. Der seinerzeit damit in Theorie und Praxis eng verknüpfte Bezug auf gesellschaftliche Befreiung, nicht nur im globalen Süden, wird heute weitgehend ausgeblendet. Die psychosoziale Arbeit mit Geflüchteten könnte jedoch stark davon profitieren, den internationalen, menschenrechtsorientierten Bezug wieder sichtbar zu machen und ihn, in an veränderte Realitäten adaptierter Weise, wieder in das solidarische Selbstverständnis der eigenen Arbeit zu integrieren.
Repression und Folter als Antwort auf globale Befreiungskämpfe
Am 10. Dezember 1973 lud amnesty international (ai) in Paris zu einer Konferenz mit dem inhaltlichen Schwerpunkt „Kampf gegen Folter“ ein. Dort stellte die Menschenrechtsorganisation ihren ersten „Bericht gegen Folter“ der Weltöffentlichkeit vor (ai 1975: 8). Der Bericht sollte den Abschluss einer ursprünglich auf ein Jahr befristeten Kampagne bilden (Claudius & Stepan 1978: 71). Er setzte aber vielmehr den Auftakt zu einem bis heute andauernden Kampf gegen eine der schwersten Menschenrechtsverletzungen und deren seelischen Folgen.
Die späten 1960er und frühen 1970er Jahre waren weltweit geprägt durch eine Aufbruchstimmung im Streben nach sozialer Veränderung. Eckpunkte wie der Befreiungskrieg in Vietnam, die antikolonialen Kämpfe auf dem afrikanischen Kontinent, die antirassistischen Bürgerrechtsbewegungen in den USA und Südafrika, die nach dem Vorbild der kubanischen Revolution in anderen Ländern entstandenen Befreiungsbewegungen, die demokratische Wahl des Sozialisten Salvador Allende zum Präsidenten in Chile, und nicht zuletzt der Widerstand gegen die europäischen und lateinamerikanischen Militärdiktaturen oder die Monarchie im Iran, fielen zusammen mit dem Aufbegehren von oft studentisch geprägten zivilgesellschaftlichen Bewegungen in Westeuropa. Letztere solidarisierten sich nicht nur mit den Kämpfen im globalen Süden, sie wollten auch im globalen Norden die verkrusteten Strukturen aufbrechen. Bei allen objektiven Unterschieden bestand jedoch vielfach ein subjektives Einvernehmen, gemeinsame Ziele bei der Veränderung gesellschaftlicher Bedingungen zu verfolgen, sich mit den Kämpfen in anderen Teilen der Welt zu identifizieren und sie als unterschiedliche Facetten eines gemeinsamen Kampfes um sozialen Fortschritt zu interpretieren. Auch unmittelbar in Westeuropa bestimmten der Kampf gegen die Diktaturen in Griechenland, Spanien, Portugal und der Türkei sowie der Bürgerkrieg in Nordirland die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, in Osteuropa dominierten stalinistische Regime. Mit Bezug auf diese globalen Kämpfe um Befreiung entstanden vielfältige Formen praktischen solidarischen Handelns, welche den Akteur*innen oftmals auch als Projektionsfläche für die eigene Selbstwirksamkeit beim Fortschreiten von globalem sozialen Wandel dienten (Balsen & Rössel 1986).
Das globale Streben nach einem Umsturz der kolonialen Ordnung und nachfolgender Abhängigkeitsformen sowie nach einem grundlegenden sozialen Wandel blieb jedoch nicht ohne Gegenwehr. Mit allen Mitteln der Repression versuchten die jeweiligen ökonomischen wie politischen Eliten, ihre Privilegien und Machtpositionen zu sichern. „Die kolonisierte Welt ist eine zweigeteilte Welt. Die Trennungslinie, die Grenze wird durch Kasernen und Polizeiposten markiert“, charakterisierte der Arzt und antikoloniale Kämpfer Frantz Fanon (1971: 29) dieses Machtverhältnis. Dementsprechend berichtete amnesty international (1973: 109-218) auf der Pariser Konferenz von Folter in 62 Staaten aller Erdteile. Zu Folter unter der griechischen Militärdiktatur hatte amnesty international bereits 1968 einen umfangreichen Bericht gesondert veröffentlicht (ai 1977b: 131-135).
Die Pariser Konferenz, wie auch die Arbeit der damals noch verhältnismäßig jungen Menschenrechtsorganisation generell, muss im Rahmen der internationalen Solidarität mit den Opfern der aus den sozialen Kämpfen resultierenden Menschenrechtsverletzungen gesehen werden.
Pionierarbeit: Die Medical Groups bei amnesty international
Das Besondere an der Pariser Konferenz war aber nicht nur die umfangreiche Veröffentlichung systematisch eingesetzter Folterpraktiken. Erstmals beschäftigte sich dort auch eine Arbeitsgruppe mit der Fragestellung der „kurz- und langfristigen psychologischen und medizinischen Auswirkungen von Folter auf die Opfer“ (ai 1975: 5).
In der Arbeitsgruppe wurde empfohlen, weltweit reisewillige Ärzt*innen zu rekrutieren, um Gefangene medizinisch zu untersuchen. Als erste Gruppe dieser Art nahm im Oktober 1974 die Danish Medical Group ihre Arbeit auf. Zu Beginn gehörten ihr neun Ärzt*innen an, die fachlich breit aufgestellt waren. Sie dokumentierten einerseits Folterfolgen, um rechtlich gegen Täter vorgehen zu können, und sammelten andererseits Erfahrungen, um Behandlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Gründungsmitglied der Expert*innengruppe war die dänische Neurologin Inge Genefke. Sie hatte bereits als Kind ihre Erfahrungen im antifaschistischen Widerstand gegen die deutsche Okkupation gesammelt und während ihrer Ausbildung zur Fachärztin mit Überlebenden der Shoah gearbeitet. Auf ihr Betreiben wurde ein systematisches Diagnostikprogramm entwickelt. Die ersten Folterüberlebenden, die das Team untersuchte, waren politische Aktivist*innen aus Chile, Griechenland, Argentinien und Uruguay, die in Dänemark oder Frankreich Zuflucht gefunden hatten (ai 1977a: 7f; Danish Medical Group 1979: 6; Larsen 2010: 13, 19f).
Ab 1977 untersuchte und dokumentierte die Gruppe Folterfolgen auch international, z.B. im November 1977 im Baskenland und in Nordirland (Danish Medical Group 1979: 8, 25f) und lud 1978 Kolleg*innen aus anderen Ländern zu einem internationalen Austausch über Folterfolgen und ihre Nachweismethoden nach Kopenhagen ein (ai 1978: 27-29). Eine besondere Rolle beim Bestreben, Folterer vor Gericht zu bringen, spielten damals die griechischen Kolleg*innen, die zahlenmäßig nach den dänischen am stärksten vertreten waren. Sie hatten bereits 1975 in Griechenland erfolgreich den weltweit ersten Prozess gegen Folterer angestrengt, zu dem amnesty international (1977b) wesentliches Material für die Anklagen beisteuern konnte. Nun sollten weitere Prozesse folgen (Sikkink 2011: 36-50).
Doch nicht nur in Dänemark reagierten Medizinberufe auf den Aufruf, medical groups zu gründen. Schon 1975 nahmen in London ebenfalls einzelne Ärzt*innen und Psycholog*innen die Arbeit auf, auch wenn sie sich erst 1978 formell zur Medical Group der britischen Sektion von amnesty international konstituierten. Unter ihnen waren u.a. der Allgemeinmediziner und spätere Präsident von Physicians for Human Rights, Peter Kandela (1998: su7), und die Londoner Psychotherapeutin Helen Bamber, die selbst polnisch-jüdische Wurzeln und während der Shoah in London Schutz vor Verfolgung gefunden hatte. Bamber konnte auf viele Jahrzehnte der Erfahrung in der Unterstützung von Überlebenden der Shoah zurückblicken. Im Sommer 1945 hatte sich die damals Neunzehnjährige den britischen Truppen angeschlossen, um in Deutschland die Rehabilitation von KZ-Überlebenden zu unterstützen, dann bis 1947 in Bergen Belsen gearbeitet und später in London mit Kindern, die überlebt hatten. Durch ihre Mitarbeit bei amnesty international war Bamber auch bewusst, dass viele Länder Folter und andere Repressionsinstrumente weiterhin systematisch einsetzten, um Dissidenz zu unterdrücken. Persönliche Kontakte zu Folterüberlebenden aus Argentinien und dem südlichen Afrika bestätigten den Unterstützungsbedarf für Überlebende schwerer Menschenrechtsverletzungen. (Miserez 2020: 48-51)
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