Wie lässt sich das Abgleiten junger Menschen in den Rechtsextremismus verhindern? Leseprobe aus Den Einstieg in den Rechtsextremismus verhindern. Aufsuchende Distanzierungsarbeit gegen Radikalisierung bei jungen Menschen. Ein Leitfaden von Rebekka Grimm, Judith Meixner, Lisa Müller, Malte Pannemann und Peer Wiechmann.
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Den Einstieg in den Rechtsextremismus verhindern: Wieso braucht es dieses Buch?
Die vorliegende Publikation hat zum Ziel, Pädagog*innen für die mögliche Einstiegsgefährdung eines jungen Menschen in den Rechtsextremismus zu sensibilisieren und sie in die Lage zu versetzen, damit verantwortlich umzugehen. Mit dem Ansatz der Distanzierungsarbeit werden Reflexionsprozesse angeregt, in denen junge Menschen selbst zu dem Schluss kommen, dass der Weg der Abwertung nicht nur Anderen, sondern auch ihnen selbst schadet. Die vorliegende Publikation befähigt Pädagog*innen dazu, in eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Zielgruppe zu treten – und gleichzeitig erkennen zu können, wann die Grenzen des eigenen Handelns erreicht sind.
Zunächst wird im ersten Kapitel das Handlungsfeld der Distanzierungsarbeit als pädagogische Querschnittsaufgabe eingeführt und in Abgrenzung zur Ausstiegsberatung beschrieben. Wesentliche Elemente dieses Handlungsfeldes sind die aufsuchenden Aspekte sowie der Anspruch der Früherkennung – zwei zentrale Unterscheidungsmerkmale zur Ausstiegsberatung. Die Zielgruppen und damit verbundene Ziele der Distanzierungsarbeit werden ausführlich dargestellt und somit spezifiziert, um welchen Adressat*innenkreis es im Folgenden geht. Der vom Träger Distanz e.V. entwickelte BRAKE-Ansatz deutet bereits an, auf welche Art und Weise diese Auseinandersetzung gelingen kann (siehe Kapitel 1.3.3).
Entscheidend für eine fundierte Auseinandersetzung mit den Adressat*innen der Distanzierungsarbeit sind das Kennen und Erkennen von Motiven und Risikofaktoren, die eine Hinwendung zum Rechtsextremismus und menschenfeindlichen Aussagen und Verhaltensweisen begünstigen können. Es werden daher Analysehilfen bereitgestellt, um eine fundierte Einschätzung vornehmen zu können (siehe Kapitel 2.1 „Diskriminierendes Verhalten und Einstiegsgefährdung wahrnehmen und analysieren“).
Motivlagen der Hinwendung zum Rechtsextremismus zu kennen, befähigt in einem nächsten Schritt zu konkreter Arbeit an diesen zu arbeiten. Durch das Aufspüren zugrunde liegender Bedürfnisse kann daran anschließend an konstruktiven und menschenfreundlichen Möglichkeiten dieser Bedürfnisbefriedigung pädagogisch gearbeitet werden. Hier ins Gespräch zu kommen und die Beziehung mit konstruktiver, aber auch konfrontativer Kritik zu halten, fördert Distanzierungsprozesse. Diese erfordern zum einen eine reflektierte, kritische und menschenrechtsorientierte Haltung bei der pädagogischen Fachkraft, zum anderen ein breites Repertoire an Gesprächstechniken. Die Publikation gibt Impulse zur Schärfung der eigenen pädagogischen menschenrechtsorientierten Haltung und stellt ergänzend dazu verschiedene Gesprächstechniken vor, um Distanzierungsprozesse anzustoßen und konstruktiv-kritisch zu begleiten. Es werden diverse Techniken mit Situationsbeispielen illustriert (siehe Kapitel 2.2 „Intervenieren und Distanzierungsprozesse anstoßen“). Im 3. Kapitel des Leitfadens werden konkrete Methoden präsentiert, die sich im Einzel- wie Gruppensetting dafür eignen, Entwicklungsaufgaben von extrem rechts einstiegsgefährdeten jungen Menschen zu bearbeiten und Distanzierungsimpulse zu setzen.
Interventionen zu planen und umzusetzen, hängt wesentlich von vorhandenen Ressourcen und situativen Kontextfaktoren ab. Der vorliegende Leitfaden verbleibt an dieser Stelle nicht allein bei der Analyse oder der Planung einzelner situativer Interventionen, sondern gibt konkrete Handlungsempfehlungen für eine längerfristige strategische Auseinandersetzung (siehe Kapitel 2.3 „Den strategischen Umgang mit Rechtsextremismus planen“).
Die Kapitel können sowohl in vorliegender Reihenfolge als auch anlassbezogen für sich stehend gelesen werden. Längere Kapitel werden mit kurzen Zusammenfassungen eingeleitet, sodass nähere Orientierung über den Inhalt gegeben ist.1
Rechtsextremismus?
Zur Verwendung des Begriffs ‚Rechtsextremismus‘2 wurde viel publiziert und diskutiert. Der Anspruch dieser Publikation ist es nicht, diese kritische Diskussion vollumfänglich weiterzuführen. So wichtig der theoretische Diskurs auch ist, so geht es an dieser Stelle vielmehr darum, Pädagog*innen in die Lage zu versetzen, mit Hinwendungsprozessen zum Rechtsextremismus umzugehen. Dennoch ist ein grundlegendes Verständnis des Phänomens für die Problematisierung extrem rechter Gefährdungslagen relevant. Daher möchten die Autor*innen an dieser Stelle eine kurze Orientierung und weitere Lesetipps an die Hand geben. Die Vielfalt-Mediathek bietet hierfür eine schlüssige Definition:
„Rechtsextremismus kann als Oberbegriff für (politische) Einstellungen verstanden werden, die die Gleichwertigkeit aller Menschen und ein demokratisches System ablehnen (vgl. Jaschke 2001: 30f.). Innerhalb einer rechtsextremen Ideologie werden Menschen in Kategorien, wie beispielsweise ‚Nation‘ oder ‚Rasse‘, eingeordnet und auf Grund zugeschriebener und konstruierter Merkmale abgewertet. Die Überlegenheit der eigenen ‚Gruppe‘ wird so hervorgehoben. Menschen werden hierarchisiert (vgl. Rommelspacher 2009: 9). Kernelemente einer rechtsextremen Einstellung sind (vgl. Virchow 2016: 17):
- Antisemitismus (Hass gegen Jüdinnen*Juden)
- Rassismus (die Abwertung und Hierarchisierung von Menschen auf Grund zugeschriebener biologischer oder kultureller Merkmale)
- Chauvinismus (die extreme Form des Patriotismus oder Nationalismus geht einher mit der Abwertung und Ablehnung anderer Nationen oder ‚Völker‘)
- Sozialdarwinismus (Bspw. die Ablehnung von Menschen mit Behinderung, Menschen in Armut oder Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen aufgrund ihrer ‚Nützlichkeit‘ für die Gesellschaft)
- Sexismus/Homo- und Transfeindlichkeit (Glaube an eine ‚natürliche‘ Geschlechterordnung von Mann und Frau sowie Heterosexualität. Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt werden abgelehnt).
- Verharmlosung des Nationalsozialismus
(Rechts-)Extremismus – aber was heißt das eigentlich? Es handelt sich bei der Bezeichnung Rechtsextremismus nicht um einen wissenschaftlich oder juristisch feststehenden und klar definierten Begriff, vielmehr gibt es verschiedene Definitionsansätze. Der Begriff wird teilweise kritisch betrachtet (vgl. Virchow 2016: 14-16). Beispielsweise fallen in den ‚Extremismus-Begriff‘, wie ihn die Sicherheitsbehörden verwenden, neben dem Rechtsextremismus auch religiöser Fundamentalismus oder Linksextremismus. Verschiedene Phänomene, mit sehr unterschiedlichen Hintergründen werden so in eine Kategorie gefasst und offensichtliche Unterschiede bezüglich der politischen Zielsetzung und der Bedrohungslage, die von ihnen ausgeht, werden ignoriert (vgl. Hernández Aguilar 2018: 58f.). Aus diesem Grund wird zum Teil die Bezeichnung ‚extreme Rechte‘ bevorzugt verwendet (vgl. Salzborn 2018: 8f.). Darüber hinaus schwingt mit dieser Verwendung des Extremismusbegriffs die Vorstellung einer demokratischen und neutralen Mitte mit, die von extremistischen Ideologien gefährdet wird. Die Gefahr, dass rechtsextreme Einstellungen und Handlungen, die in eben dieser vermeintlich neutralen Mitte der Gesellschaft existieren, wird dabei übersehen (vgl. ebd.) (vgl. Hernández Aguilar 2018: 58f.).3
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1 Teile der vorliegenden Publikation wurden bereits in folgenden anderen Publikationen veröffentlicht:
- „Distanzierungsarbeit als Querschnittsaufgabe pädagogischer Praxis – eine Arbeitshilfe für die Praxis mit extrem rechts einstiegsgefährdeten und orientierten jungen Menschen“ (Distanz e.V. 2023). Die Inhalte dieser Publikation wurden um wissenschaftliche Verweise ergänzt und in Hinblick auf eine verbesserte Ausdrucksweise redigiert. Die Inhalte befinden sich in Kapitel 1.1, 1.2.2, 1.3.2, 1.3.3, 2 (exklusive 2.1.8) sowie im 4. Kapitel. Einige Methoden in Kapitel 3 finden sich in der benannten Publikation wieder, wurden jedoch für die vorliegende Publikation um weitere Methoden ergänzt.
- „Distanzierungsarbeit als Handlungsfeld und Querschnittsaufgabe im Verhältnis zur Ausstiegsberatung“ (Meixner/ Wiechmann 2024). Die Grundlagen dieses Feldes wurden im Auftrag der Bundeszentrale für Politische Bildung dargestellt. In dieser Publikation ist der Artikel in einer Langversion abgedruckt und findet sich neu strukturiert und verändert in Kapitel 1.2 und 1.3 wieder.
- „Männlichkeit, Gewalt und Misogynie“ (Pannemann 2023). Teile dieser Publikation finden sich gekürzt und überarbeitet in Kapitel 2.1.3 im Hinblick auf Männlichkeit im Rechtsextremismus wieder.
2 In Ermangelung eines besseren Begriffs verwenden die Autor*innen den Begriff ‚Rechtsextremismus‘ und spezifizieren damit zumindest den Phänomenbereich, kritisieren aber die unscharfe Gleichsetzung mit anderen ‚extremistischen‘ Formen.
3 Der Begriff ‚Rechtsextremismus‘ wird in dieser Publikation verwendet, jedoch die unscharfe Gleichsetzung mit anderen ‚extremistischen‘ Phänomen abgelehnt. Mit der Verwendung des ‚Extremismus‘-Begriffs ist nicht implizit, dass es eine neutrale oder demokratische Mitte gäbe, die von ‚extremistischen‘ Ideologien gefährdet würde, sondern vielmehr, dass menschenverachtende Einstellungen in der Gesellschaft weit verbreitete Phänomene darstellen. Der Begriff des ‚Rechtsextremismus‘ wird weiter verwendet, da sich nicht immer auf eine ‚extreme Rechte‘, sondern auch auf ideologische Komponenten des ‚Rechtsextremismus‘ bezogen wird. In der adjektiven Verwendung wird begrifflich auf ‚extrem rechte‘ Einstellungen, Weltbildern, Ideologien oder Szenen referiert.
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