Digitalisierung und Geschlecht: Traditionslinien feministischer Auseinandersetzung mit neuen Technologien und gegenwärtige Herausforderungen1
Tanja Carstensen/Bianca Prietl
FZG – Freiburger Zeitschrift für GeschlechterStudien, Heft 2021, S. 29-44
Zusammenfassung: Dieser Beitrag begibt sich auf die Spur feministisch-geschlechterforscherischer Auseinandersetzungen mit neuen (digitalen) Technologien. Damit verfolgt er ein zweifaches Ziel: Erstens die gegenwärtig mit Blick auf Digitalisierung aus Geschlechterperspektive aufgeworfenen Fragen – nach den Effekten der Digitalisierung der Arbeitswelt, nach der Vergeschlechtlichung digitaler Artefakte sowie nach den Potenzialen digitaler Technologien für feministische Politik – einzuordnen in eine längere Tradition der Entwicklung und des Einsatzes neuer Technologien sowie deren kritische Begleitung durch Frauen- und Geschlechterforschungen; zweitens Lehren aus den dabei errungenen Einsichten zu ziehen und ausgehend hiervon zu reflektieren, wie aktuelle Digitalisierungsschübe aus feministischer, insbesondere intersektionaler, Sicht einzuschätzen sind und wo Konfliktlinien und Potenziale liegen.
Schlagwörter: Digitalisierung; neue Technologien; Frauen- und Geschlechterforschung zu Arbeit; feministische Wissenschafts- und Technikforschung; Internetforschung
Digitalization and Gender. Lines of Tradition and Current Challenges in Feminist Discussions on New Technologies
Abstract: This paper is concerned with the long-standing tradition of feminist engagement with new (digital) technologies, in order to pursue two aims: Firstly, we want to situate the questions regarding the digital transformations currently being raised from a gender perspective in the larger context of the development and use of new (digital) technologies and their critical appraisal by gender studies, including the effects of digitalization of work, the gendering of digital artefacts, and the potential of digital technologies for feminist politics; secondly, we want to draw lessons from the insights gained and reflect on how to assess current advances in digitalization from a feminist, especially intersectional, point of view. We trace the lines of conflict and uncover potential for change.
Keywords: digitalization; new technologies; internet; gender and work; feminist science and technology studies
‚Digitalisierung‘ steht im Zentrum so manch utopischer wie dystopischer Zukunftsszenarien und ist in den vergangenen Jahren zum Angelpunkt diverser politischer Programmatiken geworden. So verabschiedete die Bundesregierung Deutschlands – ähnlich vergleichbaren Initiativen anderer Länder – 2018 eine neue Umsetzungsstrategie „Digitalisierung gestalten“, um ein „klares politisches Leitbild zur Gestaltung des digitalen Wandels“ zu formulieren.2 In Einklang damit werden neue Lehrstühle und Forschungszentren für Digitalisierung eingerichtet; und auch die rasant steigende Zahl an Publikationen zum Thema zeugt davon, dass sich gegenwärtig kaum jemand nicht zur sog. digitalen Transformation verhalten kann.
Deutungsmächtige Schlagworte wie Disruption oder gar Revolution suggerieren dabei, dass wir es zum einen mit etwas ‚Brandneuem‘ und zum anderen mit einer einheitlichen (Fortschritts-)Entwicklung zu tun haben. Die unter dem Stichwort Digitalisierung aktuell verhandelten Phänomene wie Big Data und Industrie 4.0 oder Internet of Things und Künstliche Intelligenz stellen jedoch eine umkämpfte soziotechnische Dynamik3 dar, die nicht nur höchst heterogene Technologien und soziokulturelle Praktiken umfasst, sondern deren Ursprünge zumindest bis zu den biotechnologischen und informationstechnischen Innovationen der 1980er Jahre zurückreichen.
Deshalb begeben wir uns im vorliegenden Beitrag auf die Spur feministisch-geschlechterforscherischer Auseinandersetzungen, die diese Entwicklungen seit gleichfalls mehreren Jahrzehnten begleiten. Damit verfolgen wir ein zweifaches Ziel: Zum einen wollen wir die gegenwärtig mit Blick auf Digitalisierung gerade auch aus Geschlechterperspektive erneut aufgeworfenen Fragen – etwa, ob mit dem Technikwandel eine Veränderung der asymmetrischen Arbeitsverhältnisse zugunsten von Frauen4 einhergeht5, ob Technik sexistisch sein kann6, und inwiefern die neuen Technologien emanzipatorische Potenziale für feministische Politik eröffnen7 – einordnen in eine längere Tradition der Entwicklung und des Einsatzes digitaler Technologien sowie deren kritische Begleitung durch Frauen- und Geschlechterforschungen. Zum anderen wollen wir Lehren aus den dabei errungenen Einsichten ziehen und vor deren Hintergrund reflektieren, wie aktuelle Digitalisierungsschübe aus feministischer, insbesondere intersektionaler, Sicht einzuschätzen sind, wo Konfliktlinien, aber auch Potenziale liegen.
Bereits in den 1980er Jahren wurden intersektionale Perspektiven auf (neue) Technologien entwickelt und Technikgestaltung wie -nutzung in einen Zusammenhang mit patriarchalen, (post-)kolonialen und kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen gestellt. Gleichsam früh finden sich aber auch Hoffnungen, dass neue Technologien etablierte Machtrelationen abbauen könn(t)en und damit verbunden die Forderungen, Verantwortung für die Gestaltung neuer Technologien zu übernehmen und sich in konkrete Technikentwicklungsprozesse einzumischen (prominent: Haraway 1985). In der Vergangenheit wurden die transformativ-emanzipatorischen Potenziale neuer Technologien für die gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse jedoch kaum ausgeschöpft; vielmehr war immer wieder eine Reproduktion etablierter Geschlechterordnungen oder gar eine Verschärfung von Ungleichheitsverhältnissen zu verzeichnen (Berscheid/Horwath/Riegraf 2019: 241).
Die nachfolgende Skizzierung feministisch-geschlechterforscherischer Auseinandersetzungen mit neuen (digitalen) Technologien kann selbstredend keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben; noch ist die vorgenommene Sortierung der Forschungs- und Diskussionsstränge die einzig mögliche. Die Fokussierung auf Beiträge zu den Themenfeldern (1) Arbeit(sverhältnisse), (2) Technik i.S.v. technische Artefakte und (3) (Netz-)Politiken erlaubt es u.E. aber, zentrale Einsichten und Thesen in Erinnerung zu rufen und dahingehend zu befragen, wie sie gegenwärtige Debatten informieren können.
Traditionslinien feministisch-geschlechterforscherischer Auseinandersetzung mit neuen (digitalen) Technologien
Arbeit(sverhältnisse)
In der zurzeit viel diskutierten Frage nach den Chancen für Frauen in einer digital(isiert)en Arbeitswelt wird die grundsätzlichere Frage nach dem Zusammenhang von Technikentwicklung und Wandel der vergeschlechtlichten Arbeitsverhältnisse erneut virulent. Ob und wie sich die entlang von Geschlechter-, aber auch Klassen- und rassifizierten Grenzen hierarchisch strukturierte Arbeitsteilung mit der Einführung neuer Technologien verändert, bildet ein zentrales Thema, das sich durch die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Technik, Arbeit und Geschlecht zieht und zunächst sowohl mit Blick auf Industrialisierung und Maschinisierung (Robak 1992; Zachmann 1993) als auch im Kontext von Computerisierung und Informatisierung, insbesondere von (Büro-)Arbeit (Schinzel 1992), analysiert wurde.
Dabei machte die frühe Frauen- und Geschlechterforschung die Auseinandersetzung mit der geschlechtstypischen Arbeitsteilung im Kapitalismus zum Ausgangspunkt einer „Kritik an der Blindheit des Marxismus in Bezug auf gender“ (Wajcman 2002: 271; H. i. O.). Bedeutsam war dabei nicht zuletzt die These, dass Technik das Geschlechterverhältnis als Herrschaftsverhältnis stabilisiere:
Es ist überall das gleiche – und alte – Bild: Frauen finden sich zuhauf in der Maschinenbedienung. […] Die Konstrukteure und Entwickler der neuen Systeme, diejenigen, die die Anlagen vermarkten und verkaufen, installieren, verwalten und warten, sind, mit nur wenigen Ausnahmen, Männer. Frauen dürfen zwar die Knöpfe drücken, in den Geräten aber haben sie nichts zu suchen. (Cockburn 1988: 21)
Die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern entlang der Grenze von (aktiver) Technikentwicklung (und -beherrschung) und (passiver) Techniknutzung gründet – so eine frühe Einsicht – auf der historisch etablierten und strukturell-symbolisch verankerten Verbindung von Technik mit Männlichkeit. Diese realisiert sich etwa in dem prominent von Judy Wajcman (1994: 137) problematisierten androzentristischen Technikbegriff der Moderne. Dieser assoziiert(e) Technik vornehmlich mit großen, lauten und schmutzigen Maschinen oder aber mit teuren und prestigeträchtigen ‚cutting-edge‘-Technologien, die beide primär in männerdominierten Bereichen anzutreffen sind. Cynthia Cockburn (1983) arbeitete zudem heraus, dass das strukturell-symbolische Dominanzverhältnis von Technik und Männlichkeit gerade ob seiner inhaltlichen Flexibilität und Variabilität von struktureller Stabilität ist und demonstrierte dabei zugleich die Verschränkung von Geschlechter- und Klassenunterscheidungen entlang des Körper/Geist-Dualismus: Während Technik im Kontext industriell-gewerblicher Arbeit vornehmlich unter Verweis auf Muskelkraft und ein inkorporiertes Technikgefühl mit einer blue collar-Männlichkeit verknüpft werde, würden im Kontext von technischer Wissensarbeit die ebenso als männlich gedachten, analytisch mathematischen Denkfähigkeiten betont und Ingenieurarbeit mit einer white collar-Männlichkeit verbunden.8
Die Dominanz von Männern in technisch-gewerblichen und ingenieurwissenschaftlichen Berufs- und Ausbildungszweigen hält sich bis heute hartnäckig9. Gerade in den als zukunftsträchtig beworbenen informationstechnischen Studiengängen dokumentieren Statistiken regelmäßig äußerst geringe Frauenanteile. Hoffnungen auf eine Neuordnung der gesellschaftlichen Technik-/Geschlechterverhältnisse angesichts eines vorgeblich weniger männlichen, weil immateriellen Charakters digitaler Technologien, die als ‚semiotische‘ Artefakte konträr zur modernen Industrietechnik als rein, leise und leicht erscheinen und anstatt mit (schwerer) körperlicher Arbeit eher mit Kommunikation, Vernetzung und Interaktion assoziiert werden (Schelhowe 2006), haben sich nicht erfüllt. Vielmehr zeigen sich gerade auch in intersektionaler Hinsicht bedeutsame Hierarchisierungen in den Arbeitsverhältnissen: So wird die Entwicklung digitaler Technologien in den Zentren der sog. New Economy primär von einer virtual class, bestehend aus überwiegend jungen, gut ausgebildeten, sozio ökonomisch privilegierten, ‚weißen‘ Männern kaukasischer oder asiatischer Herkunft, vorangetrieben, während ein Großteil der Weltbevölkerung, insbesondere im sog. Globalen Süden, keinen Zugang zu den Sphären der Technikgestaltung hat (Hagerty/Rubinov 2019); sehr wohl finden sich am anderen Ende der globalen Wertschöpfungskette aber ungleich weniger beachtete Arbeitnehmende, die etwa als Content Moderators auf den Philippinen täglich unter schlechtesten Arbeitsbedingungen Gewalt, Pornographie u.v.m. aus dem Internet löschen (Roberts 2019).
Professionssoziologisch orientierte Studien betonen zudem, dass mit der Einführung neuer Technologien einerseits eine Rekonfiguration in der gesellschaftlichen Organisation und Verteilung von Arbeit zu beobachten sei – inklusive der Verschiebungen von geschlechtstypischen Berufsbildern, der Redefinition von Fachkompetenzen und einer Neuverortung im gesellschaftlichen Hierarchiegefüge –, dass dabei jedoch andererseits stets aufs Neue die hierarchische Struktur zwischen Männer- und Frauenarbeit aufrecht erhalten bleibt (Wetterer 2002). So führte die Einführung der Schreibmaschine etwa zu einer Dequalifizierung und Abwertung des vormalig hoch angesehenen Männerberufs des Sekretärs und dessen gleichzeitigem Wandel hin zu einem Frauenberuf (Janshen 1984: 152); umgekehrt wurde die Tätigkeit des Programmierens – wie so oft in Pionierphasen der Technikentwicklung – zunächst primär von Frauen ausgeübt, bevor dieses Beschäftigungsfeld mit seiner Etablierung und einem prestigemäßigen Aufstieg zu einer Männerdomäne wurde (Schinzel 1992: 259). Wie diese Analysen zum Geschlechtswechsel von Berufen besonders deutlich demonstrieren, dient(e) gerade der Verweis auf als technisch gerahmte Arbeitsinhalte und Kompetenzen immer wieder dazu eine Arbeit als ‚professionell‘ und dabei Männern vorbehalten auszuweisen.
1 Für konstruktives Feedback und wertvolle Überarbeitungshinweise bedanken wir uns bei den anonymen Gutachter*innen.
2 Siehe das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie unter https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Dossier/digitalisierung.html (Zugriff: 2.1.2020).
3 Hinter der Formulierung „soziotechnisch“ steht kein einheitliches Konzept. In der Arbeitssoziologie werden damit v.a. die Arbeiten von Trist und Bamforth (1951) verbunden, die insbesondere auf die gegenseitige Bedingtheit technischer und sozialer Faktoren in Arbeitsprozessen abheben. Techniksoziologische und -historische Diskussionen beziehen sich häufig auf die Untersuchungen von Hughes (u.a. 1979; hierzu auch Schulz-Schaeffer 2000: 92f.), die zeigen, dass technologischer Wandel sich nicht in der Erfindung einzelner Geräte oder Verfahren erschöpft, sondern als ein komplexer Prozess zu verstehen ist, in dem eine Vielzahl heterogener, auch sozialer, Komponenten zusammenwirken. In der feministischen Technikforschung sind es u.a. die Arbeiten von Wajcman (1994), die die gegenseitige Bedingtheit von Technik und Geschlecht als kokonstruiert herausgearbeitet haben, sowie Haraways (1985) Kritik an den Dualismen und Unterscheidungen der Moderne, die ein Verständnis für die Nichttrennbarkeit von Kultur und Natur bzw. Sozialem und Technischem geschaffen hat. Im Anschluss an letztere verwenden wir den Begriff, um deutlich zu machen, dass die Entwicklungen sozialer und technologischer Wandlungsprozesse untrennbar miteinander verwoben sind.
4 Die Kategorie Frau verstehen wir wie auch (Zwei-)Geschlecht(-lichkeit) nicht als Apriori sondern als Konstrukte, deren Herstellungsprozessen die geschlechterforscherische Aufmerksamkeit gilt.
5 So im Handelsblatt unter https://www.handelsblatt.com/unternehmen/beruf-und-buero/leaderin/zukunft-der-arbeit-bringt-die-digitalisierung-mehr-frauen-in-den-chefsessel/14475532.html?ticket=ST-4862584-x4YqkjcbD2GRF9OdoTLq-ap5 (Zugriff: 9.3.2020).
6 Siehe etwa https://www.e-recht24.de/news/sonstige/11741-sexismus-apple.html (Zugriff: 9.3.2020).
7 Siehe etwa https://laboriacuboniks.net/de/index.html (Zugriff: 9.3.2020).
8 Für im Zeitverlauf variierende, eurozentristische Männlichkeitskonstruktionen in den frühen Technikwissenschaften und sich einhergehend damit verändernden Vorstellungen von ‚dem Ingenieur‘ siehe Paulitz 2012.
* * *
Sie möchten gerne weiterlesen? Dieser Beitrag ist im Open Access in dem Heft 2021 der Zeitschrift FZG – Freiburger Zeitschrift für GeschlechterStudien erschienen.
© Unsplash 2022, Foto: ThisisEngineering RAEng