Eine Leseprobe aus Die Lebenswelt zum Thema. Eine Ethnographie persönlichkeitsbildenden Unterrichts von Amos Postner, aus der Einleitung: „Forschungsstand und Fragestellung“.
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Forschungsstand und Fragestellung
Unter der Losung von Willis’ Konzept des Montagmorgens interessiert im Rahmen dieser Studie das Schulfach Persönlichkeitsbildung und Soziale Kompetenz, weil hier Räume geschaffen werden, in denen die alltagsweltlichen Erfahrungen und Praktiken der Schüler*innen zum Gegenstand einer pädagogischen Bearbeitung werden. Für eine ethnographische Forschung, die sich dieser Frage annimmt, gewinnen dabei zwei bildungswissenschaftliche Diskurse an Relevanz, die sich dem Verhältnis von Schule und Peerkultur in besonderer Art und Weise annehmen: Angesprochen ist erstens die sich durchaus im Anschluss an Willis verstehende Peerkulturforschung, die sich seit Mitte der 1970er-Jahre auch vermehrt der peerkulturellen Bedeutung von Schule zugewendet hat. Zu nennen sind hierbei für die deutschsprachige Diskussion insbesondere die – auch für diese Arbeit bedeutsamen – Arbeiten von Jürgen Zinnecker, der zur Beschreibung des Verhältnisses von „offizieller“ Schulkultur und „inoffizieller“ Peerkultur die von Erving Goffman (2011) geprägte Unterscheidung von Vorder- und Hinterbühne nutzt. Zinnecker (1978: 34, kursiv im Original) zufolge stellt Unterricht insofern die „‚Vorderbühne‘ der Institution“ dar, als hierbei „die offiziellen Zwecke und Regeln in den Vordergrund (…) [des] Handelns“ rücken. Schüler*innen und Lehrer*innen kontrollieren sich hierbei wechselseitig, ob die für die Verfolgung des offiziellen Unterrichtsziels erforderlichen Regeln und Aufgaben auch eingehalten werden (ebd.). Daneben bildet Schule jedoch auch systematisch Hinterbühnen – das sind für Zinnecker „kontrollarme Gelegenheiten und ökologische Nischen“ (ebd.) – aus, „die sich besonders dafür eignen, die Perspektiven des Unterlebens zur Geltung zu bringen“ (ebd.)3. Den Ort der Peerkultur, die anderen Relevanzsetzungen als den offiziellen Zielsetzungen des Unterrichts folgt, stellen für Zinnecker demnach insbesondere jene Situationen dar, in denen Lehrer*innen und Schüler*innen voneinander getrennt werden, d. h. im Besonderen Unterrichtspausen: „Dort entfaltet sich ein reges subkulturelles Schülerleben mit starker Neigung zu subversiven Aktionen“ (ebd.: 35).
Wenngleich Zinneckers Überlegungen zum Verhältnis von Schul- und Peerkultur ein breites Forschungsfeld eröffnet haben, so wurde – gerade in jüngerer Vergangenheit – sein von Goffman entlehntes Konzept der „Hinterbühne“ als zu statisch kritisiert, um peerkulturelle Praktiken zu beschreiben (Breidenstein 2008: 948). Zwar gehen auch gegenwärtige Studien davon aus, dass Kinder und Jugendliche sich in ihrem Handeln im Kontext von Schule sowohl an deren Regeln und Normen als auch an den Relevanzen der Peerkultur orientieren, doch ließe sich – anders als bei Zinnecker – Unterricht nicht eindeutig als ein Raum der „offiziellen“ Schulkultur identifizieren. Vielmehr müsse davon ausgegangen werden, dass im Unterricht eine Gleichzeitigkeit der schulischen und der peerkulturellen Ordnung besteht (Kalthoff/Kelle 2000). Demnach beziehen sich Schüler*innen in ihrem Handeln im Unterricht immer auf zwei verschiedene Ordnungen: „Peerthemen mischen sich (…) in die Unterrichtskommunikation und führen zu doppelbödigen Gesprächen und doppelten Adressierungen von Nachrichten“ (de Boer 2009: 105).
Dass dies in erhöhtem Maß für persönlichkeitsbildendende Initiativen an Schulen gilt, hat Heike de Boer in ihren Studien zum Klassenrat herausgestellt (de Boer 2006). Dabei zeigt sie, dass und wie der Klassenrat als eine demokratiepädagogische Maßnahme nicht so sehr zum Zweck der Mitbestimmung und der Partizipation von Schüler*innen genutzt wird, sondern vielmehr der schulischen wie peerkulturellen „Imagepflege und Selbstprofilierungen“ (de Boer 2008: 129) dient. Angesprochen ist damit der zweite für diese Arbeit maßgebliche bildungswissenschaftliche Diskurs, der Persönlichkeitsbildung an Schulen als ein pädagogisches (Handlungs-)Feld in den Blick nimmt. Hierzu ist festzustellen, dass erst seit Kurzem Versuche unternommen wurden, das Feld der Persönlichkeitsbildung zu systematisieren (Budde/Weuster 2018a, 2018b). Jürgen Budde und Nora Weuster (2018a: 7) sprechen hierbei von Persönlichkeitsbildung als einem „normativ ausgerichteten Containerbegriff (…), der in der Lage ist, unterschiedliche Phänomene unter einem begrifflichen ‚Label‘ zu fassen, ohne allerdings präzise zu sein“. An Persönlichkeitsbildung „docken“ demnach unterschiedliche, „tendenziell (…) der non-formalen Bildung“ (Budde/Geßner/Weuster 2018: 14) zuzurechnende pädagogische Angebote an, von denen ein Beitrag zur schüler*innenseitigen Ausbildung von „Team- und Konfliktfähigkeit, Selbst- und Zeitmanagement, Eigeninitiative, Belastbarkeit und Entscheidungsfreudigkeit“ (ebd.: 9) erwartet wird. Im Unterschied zu Willis, der in der pädagogischen Thematisierung der (peer-)kulturellen Praktiken der Schüler*innen einen aufklärerischen Impetus auszumachen glaubte, rücken die Schüler*innen und ihre alltagsweltlichen Erfahrungen im Kontext von persönlichkeitsbildenden Maßnahmen deswegen in den Vordergrund, weil dadurch erhofft wird, Schüler*innen in die Lage zu versetzen, „eine selbstreflexive, sozial- wie selbstkompetente ‚Haltung‘ einnehmen zu können und sich dafür sowohl mit eigenen ‚Bedürfnissen und Interessen‘, als auch mit denen anderer sowie mit gesellschaftlichen Normen und Werten auseinander[zu]setzen“ (ebd.: 16).
Persönlichkeitsbildung – zumal an Schulen – ist wenig empirisch erforscht. So konstatieren etwa Jürgen Budde und Nora Weuster (2018a: 7) für die deutschsprachige Auseinandersetzung mit Persönlichkeitsbildung, dass ein Großteil der hierzu verfügbaren Literatur „Praxisberichte, verknüpft mit normativen Forderungen an eine Ausweitung erzieherischer Aufgaben der Schulen“ darstellten. Aber auch für den amerikanischen Diskurs zu Persönlichkeitsbildung, der dort unter den Schlagworten „Character“ oder „Moral Education“ geführt wird (De-Vitis/Yu 2011), ist eine Prävalenz ethisch-moralischer oder philosophischer Beschäftigungen mit Persönlichkeitsbildung festzustellen. Empirische Forschungen, die sich am praktischen Vollzug persönlichkeitsbildender Angebote ausrichten, stellen demgegenüber eine Minderheit dar – auch wenn in den letzten Jahren einige deutschsprachige Studien hierzu erschienen sind. Zu nennen sind hier neben Heike de Boers interaktionistisch angelegter Studie zum Klassenrat (2006) ebenso Jürgen Buddes stärker praxistheoretisch fundierte Untersuchung zum selben Gegenstand (2010) sowie eine Reihe von Analysen, die insbesondere die Installierung sozialpädagogischer Programme an Schulen perspektivieren (Aghamiri 2016, 2018).
Obwohl Persönlichkeitsbildung an Schulen oftmals „nicht als Bestandteil des klassischen Fachunterrichts“ (Budde/Geßner/Weuster 2018: 12) verhandelt wird und entsprechende Angebote gerade eine „Distanz zum schulisch-fachunterrichtlichen Lernen“ (ebd.: 13) für sich beanspruchen, so finden sich doch (wenige) Studien, die Persönlichkeitsbildung als Teil von Fachunterricht analysieren_– etwa im Kontext von berufsvorbereitendem Unterricht (Thielen 2018). Unterricht, der sich explizit als „persönlichkeitsbildend“ versteht und zu „sozialem Lernen“ beitragen möchte, – wie eben das Schulfach Persönlichkeitsbildung und Soziale Kompetenz (PBSK) – ist jedoch bisher keiner empirisch-qualitativen Forschung zugänglich gemacht worden.
Die hier vorliegende Arbeit nimmt dieses Desiderat auf, wählt dafür jedoch eine ganz spezifische Perspektive: Persönlichkeitsbildender Unterricht interessiert im Rahmen dieser Arbeit insofern, als in ihm Räume geschaffen werden, in denen die alltagsweltlichen Themen sowie der soziale Umgang der Schüler* innen zum Gegenstand einer pädagogischen Auseinandersetzung werden. Ausschlaggebend ist hierfür die im Zuge des ethnographischen Feldaufenthalts wiederholt gemachte Erfahrung, wonach die lebensweltlichen Erfahrungen der Schüler*innen erst durch interaktive Leistungen der beteiligten Akteur*innen (der Schüler*innen, der Lehrer*innen) in den persönlichkeitsbildenden Unterricht Eingang finden. Räume, in denen die Schüler*innen und ihre lebensweltlichen Bezüge zum Thema gemacht werden, verdanken sich dem raumtheoretischen Verständnis dieser Arbeit folgend (vgl. erstes Kapitel) interaktiven Bezugnahmen von Schüler*innen und Lehrer*innen. Hieraus resultieren die zwei diese ethnographische Studie leitenden Forschungsfragen „Wie gestaltet sich persönlichkeitsbildender Unterricht als pädagogischer Raum?“ sowie „Wie werden dabei die alltagsweltlichen Erfahrungen sowie der soziale Umgang von Schüler*innen thematisiert und pädagogisch bearbeitet?“
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3 Mit dem Begriff des „Unterlebens“ macht Zinnecker (1978: 31) darauf aufmerksam, dass die schulischen Akteur*innen – im Besonderen die Schüler*innen – in der Institution Schule eine „Form des Doppellebens“ praktizierten. Hierbei stehen den „offiziellen“ Regeln der Schulkultur alternative Handlungsstrategien gegenüber, „die alle aus dem Bestreben heraus entwickelt (…) wurden, das geltende Regelwerk stillschweigend zu unterlaufen, ohne sich öffentlich und offiziell gegen dieses stellen und damit die Grenze alltäglichen Handelns überschreiten zu müssen“ (ebd., kursiv im Original). Mit anderen Worten: Der Institution Schule sind nicht nur offizielle Regeln eingeschrieben, in ihr werden auch Handlungsstrategien entwickelt, die sich gewissermaßen „unterhalb“ der schulischen Öffentlichkeit entfalten und mitunter auch gegen die offiziellen Regeln gerichtet sind (ebd.: 32).
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Amos Postner:
Die Lebenswelt zum Thema. Eine Ethnographie persönlichkeitsbildenden Unterrichts
Biographische und ethnographische Studien in Bildungskontexten, Band 1
Der Autor
Amos Postner, Universitätsassistent am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien
Über „Die Lebenswelt zum Thema“
Durch Schulangebote der Persönlichkeitsbildung rückt die Lebenswelt der Schüler*innen ins Rampenlicht pädagogischer Praxis. Vor diesem Hintergrund wendet sich der Autor der Frage zu, wie sich Unterricht in dem an österreichischen Bundeshandelsakademien und -schulen (BHAK/BHAS) etablierten Schulfach „Persönlichkeitsbildung und Soziale Kompetenz“ (PBSK) in einer ersten Klasse einer Handelsschule gestaltet. Im Fokus stehen Interaktionen und Praktiken, die den Schüler*innen ermöglichen, ihre Alltagsthemen in pädagogischen Kontexten zu reflektieren.
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