Die Demo als Revolte? Vorläufige Überlegungen zu einer politisch-juristischen Theorie der Demonstration in der liberalen Demokratie
Tim Wihl*
ZPTh – Zeitschrift für Politische Theorie, Heft 1-2023, S. 85-106.
Schlüsselwörter: Demonstration, Protest, Demokratie, Legitimation, Repräsentation
Zusammenfassung: Was macht eine Demonstration aus – politik-, rechts- und verfassungstheoretisch? Worin unterscheidet sie sich von einer Revolution oder einer Rebellion? Ist eine Demo mit einer kollektiven Meinungsäußerung gleichzusetzen? In dem Beitrag wird das Phänomen Demo vor dem Hintergrund der Demokratietheorie, der Menschenrechte und neuerer Revolutionstheorie eingeordnet. Es zeigt sich, dass Demos in liberalen Systemen in der Krise am ehesten die Funktion „plebejischer“ – manchmal aber auch, scharf davon abzugrenzender, „populistischer“ – Revolten erfüllen könnten: als Symbole und Praxen der Gegenmacht.
Abstract: What constitutes a demonstration – in terms of political, legal and constitutional theory? How does it differ from a revolution or a rebellion? Can a demonstration be equated with a collective expression of opinion? In this article, the phenomenon of the demonstration will be classified against the background of democratic theory, human rights, and more recent revolutionary theory. Demonstrations in liberal systems in crisis could possibly fulfill the function of „plebeian“ – but sometimes also, to be sharply distinguished from them, „populist“ – revolts: as symbols and practices of counter-power.
1. Zweierlei Revolten
Liberale Demokratien haben verschiedene Verfahren entwickelt, die eine Kongruenz von Volkssouveränität und Repräsentation oder im Gegenteil deren Auseinanderfallen verwirklichen können (vgl. Brunkhorst 2022: 25 ff., 33 f.; Welsch 2021). Dabei kommt es nicht entscheidend auf den direkt- oder mittelbar-demokratischen Verfahrensmodus an. Denn auch welche Frage dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wird, muss in einem Verfahren bestimmt werden. Es wird sich nicht um alle wichtigen Fragen handeln können und die Ja-Nein-Entscheidung kann für sich genommen unterkomplex sein (vgl. Möllers 2008; Lübbe-Wolff 2023).1 Eine Lösung für Krisen der liberalen Demokratien, die in der Regel Repräsentations- als Vertikalitätskrisen sind, das heißt eine Beeinträchtigung des genannten idealen, horizontalen Konnexes von Volkssouveränität und Repräsentation, stellt daher der Umstieg auf ‚mehr (direkte) Demokratie‘ nicht unbedingt dar (Lübbe-Wolff 2023).2 Jedoch müsste die Lösung in jedem Fall in der Wiederherstellung der performativen Selbstgesetzgebung als Selbstrepräsentation bestehen, in der sich alle Stimmen vernehmbar mit Gründen zu Gehör bringen können, in einer Art großem und möglichst egalitärem Kommunikationszusammenhang. Das ist der richtige Kern der Politikerphrase von der ‚Notwendigkeit, allen zuzuhören‘ – ohne aber, dass es dabei nur um die Suche ‚von oben‘ nach der Wählerin ginge. Der vermeintlich kategoriale Widerspruch von direkter und repräsentativer Demokratie erweist sich als graduelle Varianz der konsequent ‚von unten‘ vorgestellten Beteiligungsformen. Sich selbst mittels Wahlen, aber ebenso durch permanente Kontrolle der Institutionen in einer anspruchsvoll konzipierten Öffentlichkeit, die dem egalitären Ideal der Wahl (vgl. Schäfer 2015)3 (!) möglichst nahe kommt, zur Repräsentation zu bringen, wird zum allgemeinen, übergreifenden Funktionsmodus der Demokratie. Repräsentation ist hier nicht nur als behaupteter Ausdruck (Expression), sondern als voll wirksames, iterativ ausgeübtes Recht verstanden.
Ein klassischer Weg einer solchen selbst gewählten demokratischen, da aktivbürgerschaftlichen, Performanz ist die Demonstration, neben vielen anderen Formen der aufhebenden, keineswegs paradoxen ‚Selbstrepräsentation‘, wie dem zivilen Ungehorsam, der Herstellung von Medienöffentlichkeit, dem Streik oder auch dem Leserinnenbrief. Etwas besonders Unmittelbares und Ungebändigtes – man mag ergänzen: spinozistisch Wildes (vgl. Balibar 2018: 22) – an der Demokratie soll darin selbst laut dem deutschen Bundesverfassungsgericht zum Ausdruck kommen (vgl. BVerfGE 69, 315).4 Somit wäre die (spätestens seit der großen Polykrise 2011 festzustellende) Häufung von Demos (im Doppelsinn) nicht per se als Krisenphänomen oder gar -verstärker zu verstehen (vgl. König 1992),5 sondern vielmehr wäre nur deren Abwesenheit bedenklich. Dennoch gibt es gewisse Typen von Demos, die man durchaus als Krisensymptom werten kann – vor allem solche, in denen das plebejische Moment zugunsten des populistischen zurücktritt. Letztere Unterscheidung nimmt die ausdrückliche Haltung der Demonstrierenden zur Demokratie selbst in den Blick: performieren die Menschen auf der Straße demokratische Tendenzen zum zunehmenden Einschluss („Volk der Leute“, Kolja Möller), oder wollen sie (in Parolen, Motto, Szenenverhalten) erkennbar hinter erreichte Inklusionsstandards zurück?
Der Titel dieses Beitrags könnte dabei manch eine Leserin irritieren. Halten wir Demonstrationen nicht gemeinhin für eine relativ friedliche Protestform – und sind Revolten demgegenüber nicht gewaltsam? Bringen Demos nicht eine bestimmte Meinung zum Ausdruck, die die Teilnehmenden in groben Zügen teilen – während Revolten etwas Ungezügelt-Irrationales, vielleicht sogar Gedankenarmes an sich haben?
In der Tat kann sich, rein juristisch betrachtet, eine Demonstration nur dann auf das Versammlungsgrundrecht des Grundgesetzes stützen, wenn sie friedlich verläuft – das heißt für die deutsche Rechtsprechung, wenn physische Gewalttätigkeiten für sie nicht insgesamt als kollektives Phänomen (im Gegensatz zu einzelnen Gewaltvorfällen oder gar nur einfachen Behinderungen oder Belästigungen etwa des Verkehrs) prägend sind (vgl. BVerfGE 69, 315).6 Revolten demgegenüber dürften gewiss nicht angemeldet werden wie die meisten Demos, sie werden relativ spontan (im strengeren Sinn) entstehen und wenig organisiert ablaufen.7 Eine Leiterin oder Anmelderin fehlt ganz sicher. Auch ein gemeinsames Thema dürfte nicht immer einfach zu benennen sein – so wenig wie der präzise Anlass. Vielleicht idealtypische Revolten in diesem Sinne wären die Vorfälle im Hamburger Schanzenviertel anlässlich des G20-Gipfels 2017 oder verschiedene sogenannte ‚Unruhen‘ der letzten Dekaden in Londoner oder Pariser Vorstädten.
Indessen ist der Begriffsgebrauch keineswegs einheitlich. Das Konzept der Revolte kennt auch noch eine andere, viel umfassendere Tradition, die es in die Nähe von Widerstand oder demokratischer Negation als Sammelbegriffe rückt. Am prominentesten dürfte die entsprechende weite Verwendung bei Albert Camus (2006) in Der Mensch in der Revolte sein – auch wenn und gerade insofern dort eine existentialistische, individualisierende Vergeistigung stattfindet. Folglich könnte man eine Demo auch für eine konkrete Widerstands-, Negations- oder Protestform halten, die eine Unterart der Revolte darstellt. Die Revolte wäre dann ein abstrakterer Oberbegriff – und zugleich eine Art kleine Schwester der Revolution. Denn wenn eine Revolution einen grundlegenden politischen Systemumsturz beschreibt, dann bleibt eine Revolte deutlich begrenzter in ihren Auswirkungen: Ein System wird nicht abgelöst, es wird aber in einem bestimmten kritischen Punkt bloßgestellt. Die Demo könnte diesen letzteren Effekt unter bestimmten Voraussetzungen erfüllen und derart ein Aufbegehren, nicht allein einen kommunikativen Akt oder eine kollektive Meinungsäußerung gewisser Bevölkerungsteile markieren. Generell scheint dem Begriff der Revolte eine relative kurzfristige Erfolglosigkeit eigen, die die Revolution – ob als punktueller oder permanenter Systemumsturz – gerade nicht kennzeichnet. Eine Revolution hat sich immer schon durchgesetzt; eine Revolte wird zwar vielleicht ein Fall für die Geschichtsbücher, aber man benötigt schon eine sozialwissenschaftliche Analyse, um ihre kurz- oder langfristigen Folgen zu ermessen.
In demokratischen Systemen wäre die problemanzeigende Demo dann fast zwangsläufig ein Fall der Revolte (vgl. auch Gassert 2018); zur Revolution könnte sie allerdings in undemokratischen Regimen wesentlich beitragen, wie 1989 im Falle der Großdemonstrationen der zu Ende gehenden DDR.
Bisher ist das eine unübersichtliche Gemengelage. Ein konkreter Begriff der Revolte – als raumzeitlich begrenzte, unfriedliche Protestform – steht einem abstrakten gegenüber, der sie in einen Gegensatz zur Revolution bringt. Die Demo wäre im ersten Fall ein Gegenbegriff, im zweiten ein Unterbegriff der Revolte.
Nun könnte man das für eine semantische Spielerei oder Begriffsakrobatik halten. Ich will im folgenden Beitrag zeigen, dass es sich im Gegenteil um einen bedeutungsvollen Zusammenhang handelt. Die Unterscheidung von Demo und Revolte im engen Sinne und die Hierarchisierung der Demo als Revolte im weiteren Sinne weisen zusammengenommen nämlich auf ein interessantes Problem hin: Die Demo hat einen abstrakten, nur teilweise negativen Bezug zur Revolution und zur Gewalt, den ihr die Konkretion gerade als Demo versagt. Die Demo ist als konkretisierte Revolte gewaltsam und als konkrete Nicht-Revolte gewaltlos.
Vielleicht erscheint es bereits etwas nachvollziehbarer, die Demo als Revolte zu verstehen, wenn die Leserin vor ihrem geistigen Auge nicht den letzten DGB-Maiaufzug passieren lässt, sondern die Bilder, die uns ab dem Jahr 2015 aus Dresden erreichten. Die sogenannte Pegida-Bewegung ist mit Parolen bekannt geworden, die auf angemeldeten Demos fielen, aber ungewohnt gewaltsam klangen, etwa die notorischen ‚Absaufen‘- Rufe gegen die Seenotrettung auf dem Mittelmeer (vgl. unter anderem Vorländer/Herlos/Schäller 2018). Zugleich ist für diese Bewegung außer Volksverhetzungsdelikten, strafbarer, friedensgefährdender hate speech, aber auch ein ungewöhnliches Maß an Kommunikationsvermeidung oder -verweigerung typisch gewesen: Medienkontakt wurde, gelinde gesagt, eher skeptisch betrachtet; Selbstvergewisserung unter Gleichgesinnten trat gegenüber der Außenvermittlung oft stark in den Vordergrund. Tribalistische Assoziationen liegen nicht nur angesichts der Forderungen der Bewegung alles andere als fern – in Dresden wie anderswo, etwa in Düsseldorf (‚Dügida‘).
Ein weiteres, politisch ganz anders gelagertes Beispiel: Während des Hamburger G20-Gipfels 2017 kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant*innen und Polizei; zum Teil wurden Demos vorzeitig abgebrochen (Hafenstraße, Rondenbarg). Die Eskalationsbereitschaft war auf beiden Seiten hoch (vgl. Teune/Ullrich/ Knoppet 2018). Die teils als riots eingestuften Ereignisse im Schanzenviertel, Brandstiftungen und Plünderungen, sind hingegen kaum unter den Demo-Begriff zu fassen, sondern dürften nahezu idealtypische Revolten im konkreten, engeren Verständnis darstellen.
Schließlich mag ein Blick nach Paris ab November 2018 aufschlussreich sein – gerade auch im Vergleich zu den banlieue-Aufständen oder Unruhen von 2005 (und 2023). Die gilets jaunes (Gelbwesten) wählten bei ihren eindrücklichsten Demos zu Beginn, insbesondere Anfang Dezember 2018, eine Ausweichtaktik: Sie zogen sich aus den polizierten Bereichen zurück und marschierten und randalierten stattdessen um den Arc de Triomphe (vgl. Blavier 2021). Revolutionsanalogien waren schnell bei der Hand. Man sah le peuple in den Straßen und dachte an die Brotrevolten 1789.8 Dagegen wurden die Ereignisse in nördlichen Pariser Vororten 2005 nach dem Tod zweier junger Männer in einem Elektrokasten auf der Flucht vor der Polizei vor allem als chaotischer Aufruhr Undisziplinierter, gar muslimisch-migrantisch ‚Identitärer‘ oder eines inneren Feindes (französisch: communautaristes) gedeutet; ein um gesellschaftliche Sichtbarkeit und Inklusion kämpfendes, gar ein selbstbewusst ‚revolutionäres‘ Subjekt wollte hier kaum jemand erkennen. Stattdessen wurde der Ausnahmezustand erklärt (vgl. Wihl 2017: 68 ff.; Beaud 2018; Wacquant 2008).9 (Im Sommer 2023 schien der französische Staat nach neuem Aufruhr infolge der polizeilichen Tötung eines Jugendlichen zunächst besonnener zu reagieren.)
Ähnliches wiederholte sich 2011 in den Tottenham Riots in London, die mit einem friedlichen Protestmarsch nach der Tötung eines Mannes durch die Polizei begonnen hatten (vgl. Lewis 2011). Auch hier dominierte die Sprache der Versicherheitlichung (securitization) (vgl. Smith et al. 2019: 151–168), die Bevölkerungsgruppen zum Gefahrenherd für eine konstruierte Mehrheitsgesellschaft erklärte. Die zunächst friedlichen, dann in Gewalt umschlagenden Demos waren in beiden Fällen zwar abstrakte Revolten – aber wurden sie auch in der geistigen Nähe als ‚kleine Schwester‘ der Revolution verortet? Bei den gilets jaunes war das zumeist der Fall, bei den banlieue-Bewohner*innen eher nicht. Hier lauert ein zweites interessantes Kardinalproblem: Wer kann eigentlich so demonstrieren, dass er oder sie (abstrakt) revoltiert? Während ein recht großer Konsens herrscht, dass die Gelbwesten mit ihren Demos eine veritable Revolte angezettelt haben, sind die Fälle Hamburg und Dresden doch wesentlich schwieriger einzustufen. Als Revolte statt als Demo wird mancher diese Proteste bezeichnen wollen, weil sie teils physisch oder zumindest verbal gewaltsam abliefen; aber waren es Revolten als kleine Schwester der Revolution? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir ein wenig Revolutionstheorie, also Begriffsklärung betreiben.
* Tim Wihl, Universität Erfurt, Kontakt: tim.wihl@uni-erfurt.de
1 Zur insoweit notwendigen Desillusionierung vgl. Möllers (2008), zu den Chancen jetzt vgl. Lübbe-Wolff (2023).
2 Pessimismus ist allerdings auch verfehlt, wie Lübbe-Wolff (2023) unter beeindruckender Ausschöpfung des verfügbaren argumentativen Fundus zeigt.
3 Die Beteiligungsforschung zeigt, dass die Wahl noch das relativ ‚egalitärste‘ Teilhabeinstrument ist, weil sie am wenigsten spezifische Fachkenntnisse voraussetzt – allerdings ebenfalls unter Bedingungen sozialer Ungleichheit massiv verzerrt wird (vgl. Schäfer 2015).
4 Vgl. nur den Leitentscheid zur Versammlungsfreiheit, den Brokdorf-Beschluss von 1985 (vgl. BVerfGE 69, 315).
5 Wie noch in der weiterhin überaus wirksamen Furcht vor der ‚Massendemokratie‘, die sich gerade auch auf deren anti-institutionelle, spontane Ausdrucksformen richtet (vgl. maßgeblich König 1992).
6 Die Friedlichkeit einer Versammlung steht nicht durch einzelne Gewalttaten infrage (ständige Rechtsprechung).
7 Vgl. die soziologische Literatur zu (Urban) Riots beziehungsweise émeutes (urbaines), zum Beispiel Schneider (2017).
8 Zu dieser und weiteren Analogien vgl. Wihl (2018).
9 Zum soziologischen Vergleich zwischen Frankreich und den USA vgl. ebenfalls Wacquant (2008).
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