Bilanz nach einem Jahr Biden-Präsidentschaft

GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik 4-2021: Von der Komfortzone in vermintes Gelände. Die Biden-Präsidentschaft im ersten Jahr schlingert und irritiert

Von der Komfortzone in vermintes Gelände. Die Biden-Präsidentschaft im ersten Jahr schlingert und irritiert

Martin Thunert

GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik, Heft 4-2021, S. 551-561

 

Zusammenfassung
Während der Anfangsphase seiner Präsidentschaft beeindruckte Joe Biden mit Entschlusskraft und einer hohen Geschwindigkeit, doch seit dem Spätsommer 2021 sinken die Zustimmungswerte zu seiner Amtsführung, ein Teil seiner politischen Vorhaben im Inneren geraten ins Stocken und sicherheitspolitische Maßnahmen der die Biden-Administration irritieren die Alliierten der USA.

 

Fulminanter Start während der ersten vier Monate?

In den ersten Monaten seiner Amtszeit schien das politische Leben für den 46. US Präsidenten ein höchst angenehmes zu sein. Seit der ersten Amtszeit von Franklin Delano Roosevelt (1933-1937) zählt die 100-Tage-Bilanz eines US-Präsidenten zum Inventar der innenpolitischen Temperaturmessung. Umfragen zur 100 Tage Marke zeigten, dass die Arbeit der Biden-Administration bei 50 bis 60 Prozent der Befragten auf Zustimmung stieß. Bidens Zustimmungsraten waren somit höher als die seines Vorgängers Trump, der zum vergleichbaren Zeitpunkt seiner Präsidentschaft deutlich unter 50 Prozent blieb. Doch im Mittel der US-Präsidenten seit dem Ende des 2. Weltkriegs lag die Zustimmungsrate während der Anfangsmonate meist eher zwischen 56% und 67%. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, wirken Bidens 54% Zustimmung eher durchschnittlich. Knapp ein Jahr nach seiner Wahl und neun Monate nach seinem Amtsantritt am 20. Januar 2021 ist die Zustimmungsrate zur Amtsführung des amerikanischen Präsidenten Joe Biden rückläufig. Anfang September 2021 lag sie bei 45,8 Prozent Zustimmung und 48,5 Prozent Ablehnung. Über die Gründe für diesen Einbruch wird zu sprechen sein.

Wie mehrere seiner Vorgänger trat Biden sein Amt in einer Krisenzeit an. Der neue Präsident sah sich mit der COVID-19-Pandemie und der damit verbundenen Wirtschaftskrise, dem Klimawandel und den Folgen eines nationalen Aufruhrs in Folge der Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch einen weißen Polizeibeamten im Mai 2020 in Minneapolis konfrontiert. Präsidenten können ihre politischen Prioritäten zu Beginn ihrer Amtszeit durch öffentliche Auftritte, durch ihre Personalentscheidungen und ihre Anordnungen bekannt machen. Biden nutzte alle diese Instrumente zum Werben für einen neuen Politikansatz nach Trump. Doch Joe Biden und die Demokratische Partei waren von Anbeginn mit knappsten Mehrheitsverhältnissen im US Kongress konfrontiert.1 Die hauchdünne Senatsmehrheit half Biden zur vergleichsweise schnellen Bestätigung seiner überwiegend aus ‚Insidern‘ bestehenden Regierungsmannschaft durch die zweite Kammer, (vgl. Thunert 2021a und c, Thamm 2021). Insgesamt stellte Joe Biden eines der vermutlich erfahrensten und ganz sicher diversesten Kabinette aller Zeiten aus Frauen, ethnischen Minderheiten, LGTBQ*- Menschen sowie Indigenen zusammen.

Zum frühen Markenzeichen von Bidens Regierungsstil wurde der vermehrte Einsatz von Exekutivverfügungen, sowohl was die Quantität seiner Maßnahmen, aber auch die Art seiner Anordnungen betrifft. Berechnungen des American Presidency Projects zeigen, dass Präsident Biden in punkto Anordnungen, Memoranden und Dekreten weitaus aktiver war als jeder andere Präsidenten seit Franklin D. Roosevelt Anfang der 1930er Jahre. (vgl. Woolley/Peters: 2021). Doch kein Präsident der jüngeren Vergangenheit hat die Verfügungen seines Vorgängers so oft rückgängig gemacht wie Joe Biden die Anordnungen von Donald Trump2. Dekrete und Verfügungen haben für US-Präsidenten den Vorteil, dass sie nicht erst durch ein kompliziertes und im Normalfall langatmiges Gesetzgebungsverfahren müssen – und dort scheitern könnten, aber den Nachteil, dass sie vom Nachfolger auch schnell wieder außer Kraft gesetzt werden können. Die geschah mit zahlreichen Verfügungen Obamas durch Trump – gerade im Bereich der Klima- und Umweltpolitik – und nun mit den Dekreten Trumps durch Biden – weitgehend in denselben Politikfeldern wie zuvor. Amerikanische Präsidialpolitik als Nullsummenspiel.

Doch wie sieht es bei Joe Biden mit frühzeitigen Erfolgen in der Gesetzgebung aus? Während der ersten Amtsmonate Joe Bidens schien sich die Corona-Pandemie in den USA dem Ende zuzuneigen. Dies war auch dem enormen Tempo der Impfkampagne in den USA im ersten Quartal 2021 geschuldet. Zwar ging die rasche Verfügbarkeit von großen Mengen an Impfstoff noch auf das von Präsident Trump bereits im Frühjahr 2020 eingeleitete Beschaffungsprogramm Warp Speed zurück3, doch die effiziente Organisation der Impfkampagne geschah unter der politischen Führung Joe Bidens. Laut der Bundesgesundheitsagentur Center for Disease Control (CDC) wurden in den USA zur Hochzeit der Impfkampagne zwischen Februar und April 2021 pro Tag bis zu drei Millionen Dosen verabreicht. Somit erfüllte sich Bidens Versprechen von 200 Millionen Corona-Impfungen innerhalb seiner ersten 100 Tage im Amt noch vor Erreichen der Deadline. Doch bereits kurz danach zeichnete sich das Problem ab, unter dem die USA bis heute leiden – die mangelnde Impfbereitschaft größerer Bevölkerungskreise – speziell in Regionen, die politisch von den Republikanern kontrolliert werden, aber nicht nur dort.

Auch der wirtschaftliche Aufschwung war im Frühjahr 2021 in vollem Gange und genau diesen wollte der neue Präsident durch ein umfassendes Corona-Hilfspaket weiter beflügeln und verstetigen. Bidens Motto lautet seitdem: mehr Staat, weniger privat. Im März 2021 gelang es Biden, ein 1,9 Billionen Dollar schweres Hilfspaket (American Rescue Plan) im gesetzgeberischen Verfahren des sog. ‚Budgetausgleichs‘ (budget reconciliation) mit einer Stimme Mehrheit durch den Kongress zu bringen4. Der Plan ist der erste in einer Reihe von drei Vorhaben Bidens, die unter dem Titel „Build Back Better“ zusammengefasst sind und die amerikanische Wirtschaft völlig neu ausrichten sollen5. Schon der American Rescue Plan enthielt weitreichende politische Projekte, deren Verwirklichung sich die Demokratische Partei schon lange auf die Fahnen geschrieben hatte, aber mangels parlamentarischer Mehrheiten seit mehr als einem Jahrzehnt nicht umsetzen konnte, wie z.B. eine Kindersteuergutschrift, die im Grunde ein universelles Grundeinkommen für Familien mit Kindern darstellt. Das Paket beinhaltete auch eine Verlängerung der erhöhten Arbeitslosenunterstützung, 1.400 Dollar an Direktzahlungen an Einzelpersonen, 350 Milliarden Dollar für einzelstaatliche und lokale Regierungen, 130 Milliarden Dollar für öffentliche Schulen und vieles mehr. In seiner Ansprache vor beiden Häusern des Kongresses am 28. April 2021 stellte Joe Biden weitere ambitionierte Ziele seiner Präsidentschaft vor, wie die die Zielvorgabe, bis 2050 all jene Schadstoffe auf null zu reduzieren, die den Klimawandel vorantreiben. Kern der Rede waren indes der American Jobs Plan (im Kern ein Infrastrukturprogramm) und der American Families Plan als Teil zwei und drei des Gesamtvorhabens, die zusammen ein Volumen von als vier Billionen US Dollar besitzen. Für einen kleineren Teil des Infrastrukturplans gelang es Biden, Unterstützung von einigen republikanischen Senatoren zu erhalten. Die Demokraten wollen die übrigen 3,5 Billionen Dollar Programme ebenfalls über das umstrittene Budgetausgleichsverfahren verabschieden, aber dagegen regt sich nicht nur Widerstand bei den Republikanern, sondern auch im eigenen Lager. Die politisch moderaten Senator*innen der Bundesstaaten Arizona (Kyrsten Sinema) und West Virginia (Joe Manchin)6 sowie zentristische Abgeordnete aus der unteren Kammer wollen Ausgaben von 3.5 Billionen $ für Bidens Sozialagenda nicht mittragen, sondern plädieren für einen deutlich sparsameren Gesetzentwurf, während der progressive Parteiflügel einem abgespeckten Infrastrukturgesetz nur zustimmen will, wenn die Sozialausgaben in vollem Umfang beschlossen werden.

Das Corona-Hilfspaket blieb daher Bidens einziger großer Sieg in der Gesetzgebung während der ersten 100 Tage, womit sich Biden im Vergleich zu früheren Präsidenten im oberen Mittelfeld befindet. Die gigantischen Mehrausgaben des Gesamtpaketes würden laut Regierung zumindest teilweise u.a. durch eine Reihe von Steuererhöhungen für einkommensstarke Amerikaner und Investoren teilfinanziert, darunter die Wiederherstellung des Spitzengrenzsteuersatzes auf das Niveau von vor 2017 (39,6 %) und die nahezu Verdoppelung der Kapitalertragssteuer für Personen, die mehr als 1 Million Dollar verdienen, durch die Abschaffung Kapitalertrags-mindernder Bestimmungen im Steuergesetzbuch sowie eine deutlich Aufstockung des Budgets der Steuerbehörde (Internal Revenue Service),was nach Schätzungen des Weißen Hauses zu Mehreinnahmen von über 700 Milliarden Dollar führen könnte, die andernfalls durch Steuerhinterziehung verloren gehen würden.

Teile von Bidens wirtschafts- und konjunkturpolitischen Ausgabenprogramme waren und sind in der US-Bevölkerung durchaus mehrheitsfähig, doch rasch geriet ein anderes Politikfeld ins Blickfeld, die Einwanderungs- und Migrationspolitik, welche sich weitaus geringerer Popularität erfreut und, von den Republikanern klar als politische Schwachstelle der Biden-Regierung identifiziert wurde und daher zu einem der zentralen Wahlkampfthemen für 2022 heranwächst.

1 Zu den Hintergründen ausführlich Thunert 2021b.
2 In 25 von 106 Dokumenten, die Biden während der ersten 100 veröffentlichte, lehnt Biden 76 frühere Anordnungen Trumps ausdrücklich ab. Dazu gehört u.a. auch der Rückzug vom Rückzug der USA aus dem Pariser Klimaabkommen, aus der Weltgesundheitsorganisation und aus dem Atomabkommen mit dem Iran. (vgl. Woolley/ Peters: 2021)
3 Mit dem Programm dieses Namens hatte Ex-Präsident Donald Trump im Frühjahr 2020 rechtzeitig und ausreichend Impfstoffe für die USA bestellt und reserviert.
4 Das technische „Budgetausgleichsverfahren“ erlaubt die Verabschiedung eines Gesetzes mit einfacher Mehrheit von 51 Stimmen, da es im US-Senat die Anwendung des sog. Filibusters durch die Minderheitsfraktion verhindert. Um einen Filibuster zu brechen, braucht es 60 Stimmen, die Demokraten verfügen im Senat aber nur über 50 Stimmen, die Republikaner ebenfalls. Ohne Filibuster kann Vizepräsidentin Kamala Harris das Stimmenpatt zugunsten der Demokraten aufheben, was sie im Falle des Covid-Rettungspakets auch tat.
5 Siehe auch die ausführliche Analyse der drei Programme, ihre Hintergründe und möglichen historischen Bezügen zu Roosevelts New Deal der 1930er Jahre in dem Beitrag von Jens van Scherpenberg (2021) in Heft 3/2021 dieser Zeitschrift.

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