Seit vielen Jahren wird der Verlag Barbara Budrich von einem engagierten wissenschaftlichen Beirat unterstützt. Die Mitglieder dieses Beirats sind mit einem oder mehreren unserer Fachbereiche (Erziehungswissenschaft, Gender Studies, Politikwissenschaft, Soziale Arbeit, Soziologie) sehr vertraut und stehen uns aktiv bei unserer Programmentwicklung zur Seite. Im Rahmen dieser Rubrik stellen wir in unregelmäßigen Abständen die Mitglieder unseres Beirats vor. Heute: Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky.
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Name: Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky
Fachbereich: Soziologie
Kurzvita:
Studium Diplom-SoWi an der Ruhr-Uni Bochum und der Universidad de Buenos Aires. Promotion (1998) in Soziologie im DFG-Graduiertenkolleg ‚Geschlechterverhältnis und Sozialer Wandel‘, Ruhr-Uni Bochum. Wissenschaftliche Mitarbeiterin Marie-Jahoda Gastprofessur f. Internationale Geschlechterforschung, RUB; wissenschaftliche Assistentin und Habilitation (2007) in Soziologie, Leibniz-Universität Hannover. Gastdozenturen und -professur u.a. Universität Innsbruck (A) und Fribourg (CH), seit 2008 Professur f. Allgemeine Soziologie und Gender Studies an der LMU München. Seit 2013 im Vorstand und seit 2021 Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft f. Soziologie. 2 Kinder (*2001, *2006).
Mein Forschungsbereich
Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass Geschlechterfragen Gesellschaftsfragen sind. Sie bilden also eine paradigmatische Folie zur Bearbeitung wesentlicher Fragen der Soziologie, wenngleich die Gender Studies ein eigenständiges inhaltliches Profil haben. Ein wesentlicher Schwerpunkt meiner Forschung und Lehre liegt in der Verschränkung von Geschlecht und Gesellschaft.
Der inhaltliche Fokus meiner Forschung liegt zum Einen in der Thematisierung von Geschlecht im Zusammenhang mit Körper/Verkörperungen, Diskursen und Praxen. Dabei betrachte ich Geschlecht(lichtkeit) als gleichermaßen konstituiert wie konstruiert, d.h. als qua (durchaus auch eigensinniger) lebensweltlicher Praxen in eigenlogischen Strukturen hervorgebracht. Die Verschränkung von Materialität und Sozialität, auch von Leib und Körper ist mir besonders wichtig. Wie wird die biosoziale Geschlechtlichkeit in Praxen, im Politischen, im Kulturellen, in Organisationen oder Ökonomischen relevant (gemacht), wie interagiert diese – intersektional – mit anderen sozialen Differenzen wie Schicht/Klasse, Alter, Sexualität, Region usw.? Das fordert Theorien und Kategorien der Sozialwissenschaften in produktiver Weise heraus und regt zu komplexem Denken an – weil die empirische Wirklichkeit von Geschlecht(lichkeit) komplex ist.
Zu dieser konkreten Fragestellung forsche ich derzeit
Mich interessieren die Ambivalenzen und Komplexitäten von sozialen Differenzen, insbesondere dort, wo auch die Grenze zwischen ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ verhandelt wird – und diese sich als ‚Interface‘, nicht als entweder/oder herausstellt. Empirische ‚biopolitische‘ Phänomene wie die kosmetische Chirurgie, Ernährung oder Sport, Tanz und Fitness, aber auch Epigenetik sind in diesem Lichte besonders spannend. An der empirischen Beforschung dieser Felder zeigt sich, wie kontextgebunden und kompliziert die soziale Herstellung von Natur ist – und auch, wie komplex und eigensinnig die materielle ‚Natur‘ unserer Sozialität (Anatomie, Genetik, Hormone usw.).
Auch interessieren mich seit einiger Zeit die politischen Skandalisierungen und affektiven Mobilisierungen rund um ‚Gender‘ (z.B. ‚Anti-Gender‘-Elemente in Parteiprogrammen). Offenbar führt die zunehmende alltagsweltliche wie forschende Infragestellung der ‚Biologie-ist-Schicksal‘-Ideologie, führt auch die zunehmend normalisierte Gestaltbarkeit von Geschlechtlichkeit zu starken Polemiken und Politiken, zu großem Enthusiasmus und starker Abwehr. Mich interessiert daran vor allem die Frage, wie (wenig?) wirksam Eigentlichkeitsrhetoriken zu Geschlecht sind, und wie sich diese mit anderen politischen Diskursen und Affekten verbinden, z.B. im völkischen Nationalismus, im politischen Populismus mancher Medien, oder in ‚linken‘ Konstellationen. Wer die aktuelle Politik verstehen will, kann von Gender nicht absehen. Was auch immer das in einzelnen Konstellationen bedeutet – und das ist vielfach unklarer als zunächst, z.B. politisch, angenommen.
Ganz besonders interessiert mich seit Jahren das Thema ‚Care‘. Wie organisieren Gesellschaften, Organisationen, Gruppen, Familien, einzelne Menschen die Sorge um sich, um Andere, um lebendige Wesen? Wer sorgt und kümmert sich, wer kann (vermeintlich) ‚sorglos‘ agieren? Care, die Hinwendung zu den Bedürfnissen des Lebendigen, ist in der Moderne verweiblicht, und noch heute tragen Frauen, Mütter besonders, die Hauptlast der Sorgearbeit, weltweit – mit handfesten Nachteilen für ihre materielle Situation. Aber auch mit dem Glück und dem Sinn, Sorgebeziehungen zu leben. Care ist jedoch nicht nur eitel Sonnenschein, sondern kann Gewalt und Ausbeutung bedeuten, denn Care ist immer beziehungsförmig und oft asymmetrisch. Care kommt in sehr vielen Formen und Varianten vor, das macht es so interessant; Care kann öffentlich oder privat geschehen, flüchtig oder auf Dauer gestellt, als Beruf oder als privater Liebesdienst, in Familien, in staatlichen oder privaten Einrichtungen, oder zwischen Fremden, Glück und Leid liegen dabei nah beieinander. Ohne Care kommt keine Gesellschaft, kein Leben aus – aber Care wird weiterhin zwar enorm romantisiert, aber vor allem abgewertet und ausgebeutet. Das wird in der Corona-Pandemie besonders deutlich, auf skandalöse Weise. Care ist politisch als so systemrelevant erkannt worden, wie es immer schon war. Aber daraus folgt kaum etwas. Keine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse, z.B. für Pflegekräfte oder Erzieher_innen, keine angemessene Entlastung von Familien, schon gar nicht für queere Care-Beziehungen. Das muss sich ändern. Auch dafür ist solide Forschung wichtig.
Was ich dem wissenschaftlichen Nachwuchs mit auf den Weg geben möchte
Ich würde nicht von ‚Nachwuchs‘ sprechen, und mich, wäre ich Mittelbau, auch nicht ansprechen lassen. Den Promovierenden, Mitarbeiter_innen, PostDocs und vielen anderen im Mittelbau wünsche ich starke Nerven, Enthusiasmus in der Sache, Lust an den vielen Facetten akademischer Praxen, starke Vernetzungen und ich setze auf deren Willen zur politischen Gestaltung. Die prekäre Situation des ‚Mittelbaus‘ und der vor allem jüngeren Kolleg_innen in Deutschland ist ein Skandal, und tut dem ganzen System nicht gut. Ich hoffe, hier gelingen uns gute Reformen. Diese gelingen nur mit denjenigen, die davon massiv betroffen sind.
Darum bin ich Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Verlags Barbara Budrich
Weil der Verlag ein einzigartiges Profil für die Sozialwissenschaften und die Gender Studies hat. Ohne die Bücher vom Verlag Barbara Budrich wären diese Felder fachlich ärmer und langweiliger. Barbara Budrich ist eine so engagierte, kundige und fröhliche Verlegerin – auch ein Unikat! Vielen Dank dafür.
Eine Übersicht der Beiratsmitglieder …
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