Spezifische Armutslagen von marginalisierten Frauen

Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft 1-2022: Existenzielle Bedrohung und Entwürdigung. Armut, Gewalt und Wohnungslosigkeit im Alltag marginalisierter Frauen

Existenzielle Bedrohung und Entwürdigung. Armut, Gewalt und Wohnungslosigkeit im Alltag marginalisierter Frauen

Christopher Wimmer

Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, Heft 1-2022, S. 63-77.

 

Zusammenfassung

Der Beitrag beschäftigt sich mit spezifischen Armutslagen von Frauen, wobei der Marginalisierungsbegriff in den Mittelpunkt gerückt wird. Die drei Phänomene Armut, Gewalterfahrungen und Wohnungslosigkeit werden als zentrale Aspekte des Alltags von marginalisierten Frauen bestimmt und dargestellt. Insgesamt sind in der sozialen Ungleichheitsforschung Studien zu gesellschaftlicher Marginalisierung schon rar, empirische Untersuchungen (quantitativ wie qualitativ) zur Marginalisierung von Frauen sind noch seltener. Anhand von neun Interviews mit armen und marginalisierten Frauen, die mit der dokumentarischen Methode ausgewertet wurden, verdeutlicht der Beitrag, wie die Befragten ihren Alltag gestalten und wie sie mit ihrer Armut und Marginalisierung umgehen. Somit wird eine Perspektive verfolgt, die von den Frauen selbst ausgeht und zeigt, wie sie diese Phänomene konkret erfahren und mit ihnen umgehen. Zentral dabei ist der Kampf der befragten Frauen um gesellschaftliche Respektabilität.

Schlagwörter: Marginalisierung, Gewalt gegen Frauen, Armut, Wohnungslosigkeit

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Existential Threat and Degradation. Poverty, Violence and Homelessness in the Everyday Lives of Marginalised Women

Abstract

The article deals with the specific poverty of women, focusing on the concept of marginalisation. The three phenomena poverty, violence and homelessness are identified and presented as central aspects of the everyday lives of marginalised women. Overall, studies on social marginalisation are already rare in social inequality research, empirical studies (quantitative as well as qualitative) on the marginalisation of women are even rarer. Based on nine interviews with poor and marginalised women, which were analysed using the documentary method, the article illustrates how the interviewees shape their everyday lives and how they deal with their poverty and marginalisation. The perspective chosen starts from the women themselves and shows how they experience and deal with these phenomena. Central to this is the struggle for social respectability.

Keywords: Marginalisation, Violence against Women, Poverty, Homelessness

 

Einleitung

Der spätestens ab den 1980er-Jahren einsetzende Umbau des Sozialstaats und der Strukturwandel der Arbeit haben zu einer dauerhaften Verfestigung von Armut in den unteren sozialen Klassen geführt. Dies zeigt sich in einer großen Zahl vor allem soziologischer Studien (Böhnke/Dittmann/Goebel 2018). Gleichzeitig bleiben Armutsdiskussionen einerseits häufig auf Konzepte wie relative Deprivation beschränkt. Absolute Armut wird meist als Aspekt der Vergangenheit oder anderer geografischer Orte (Länder der sogenannten ‚Dritten Welt‘) betrachtet. Andererseits findet sich in der Armutsforschung häufig ein (impliziter) Androzentrismus (Sellach 2008). Dieser liegt vor, wenn sich Armutsmessung am Bild des männlichen Familienernährers orientiert und dessen Armutsrisiken (Arbeitsunfälle, Erwerbslosigkeit etc.) berücksichtigt, ‚weibliche‘ Risiken wie Kindererziehung jedoch vernachlässigt oder vergessen werden. Ebenso zeigt sich der Androzentrismus in der Armutsforschung darin, dass Frauen, die mit Männern zusammenleben, nicht als arm gelten, sobald das gemeinsame Haushaltseinkommen über der Einkommensgrenze der Grundsicherung liegt – selbst wenn die Frauen kein eigenes oder existenzsicherndes Einkommen haben (Sellach 2008, 464f.).

Vor dem Hintergrund dieser Beschränkungen der Armutsforschung beschäftigt sich der vorliegende Beitrag mit der spezifischen Armut von Frauen, wobei der Marginalisierungsbegriff in den Mittelpunkt gerückt wird. Insgesamt sind in der sozialen Ungleichheitsforschung Studien zu gesellschaftlicher Marginalisierung schon rar, empirische Untersuchungen (quantitativ wie qualitativ) zur Marginalisierung von Frauen sind noch seltener. Um zu begründen, wieso ich von Marginalisierung spreche, beschäftige ich mich zunächst mit dem Armutsbegriff, mit dem Ziel, ihn anschließend um den Marginalisierungsbegriff zu erweitern. Dieser erscheint mir deswegen brauchbarer, da er neben materieller Armut auch auf den dauerhaften Kampf um soziale Respektabilität verweist. Darauf aufbauend spreche ich vom Alltag marginalisierter Frauen und zeichne diesen anhand der drei Aspekte Armut, Gewalt und Wohnungslosigkeit nach. Ein Fazit mit dem Ruf nach einer erweiterten feministischen Armutsforschung und -politik schließt den Beitrag ab.

Von der Feminisierung der Armut zur Marginalisierung

Die Verwendung des Armutsbegriffs bringt Schwierigkeiten mit sich, da er nicht einheitlich definiert ist. Meist wird Armut als Mangel (an ökonomischem Kapital) verstanden, und so könnte allzu vereinfachend festgehalten werden, dass Armut bedeutet, nicht genügend materielle Güter und Ressourcen zu besitzen, um die eigenen Lebensmöglichkeiten zu bestreiten (Andreß/Krüger/Sedlacek 2004, 26). Doch ab welchem Schwellenwert von Armut gesprochen wird, hängt von Voraussetzungen ab, die nur normativ bestimmt werden können. Armut ist somit ein gesellschaftliches Verhältnis, das immer auch auf Bewertungen, beispielsweise auf der Bestimmung eines sogenannten Existenzminimums, beruht.

In feministischen sozialwissenschaftlichen Theorien ist seit den 1970er-Jahren von weiblicher Armut die Rede (Köppen 1985). Diese Forschung begründet die These einer „Feminisierung der Armut“ (Pfaff 1992, 421) mit geschlechtsspezifischen Aspekten der Arbeitsteilung und Benachteiligungen von Frauen im staatlichen Sozialversicherungssystem (Kickbusch/Riedmüller 1984). Das Erwerbsarbeitssystem und sozialpolitische Regelungen produzieren – auch heute noch – Armut von Frauen, da diese materiell häufig schlechter gestellt sind als Männer und z.B. häufiger zu den Working Poor gehören oder in informellen Beschäftigungsverhältnissen tätig sind, was zu einer geringeren Erwerbslosenunterstützung bzw. Rente und zu einem höheren Armutsrisiko führt (Statistisches Bundesamt 2020). Diese Benachteiligung ist Ausdruck patriarchal-kapitalistischer Machtverhältnisse und einer symbolischen Ordnung, die als Ursache für das Armutsrisiko von Frauen stets mitbedacht werden muss. Ein weiterer Aspekt weiblicher Armutsgefährdung liegt darin, dass Frauen wesentlich häufiger (unentgeltlich) Sorgeaufgaben übernehmen, aus denen keine eigenständigen Sicherungsansprüche erwachsen. Lohnunterschiede bei gleicher Arbeit sowie die ungleiche Verteilung von Sorgearbeit finden sich in allen sozialen Klassen. Es kommt zur „Deklassierung des Weiblichen quer durch die gesellschaftliche Hierarchie“ (Becker-Schmidt 1989, 228). Um die Vielfalt negativer Armutseffekte fassen zu können, wurde in feministischen (Armuts-)Analysen das bereits in den 1930er-Jahren entwickelte multidimensionale „Lebenslagenkonzept“ (Engels 2008) verstärkt verwendet, das vertikale Dimensionen sozialer Ungleichheit um horizontale Dimensionen (wie Geschlecht oder Alter) erweitert. Damit konnten verschiedene Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse in ihrer Verschränkung in den Blick genommen werden. Weiterführend wurde der Begriff der Intersektionalität (Crenshaw 1989) in die Debatte eingeführt. Allerdings war und ist umstritten, welche Kategorien die Grundlage für eine feministische und materialistische Gesellschaftstheorie und -analyse bilden sollen und wie sie zu verbinden seien (Aulenbacher/Riegraf 2012). Insbesondere ab den 1990er-Jahren beschäftigte sich eine Fülle von Studien zu Deutschland mit dem Verhältnis von Klasse und Geschlecht sowie der Verortung von Geschlecht als Strukturkategorie in Theorien sozialer Ungleichheit (Aulenbacher/Nickel/Riegraf 2012; Gottschall 2000). Daneben behandeln aktuell weitere Studien (Dackweiler/Rau/Schäfer 2020) spezifische Armutslagen von Frauen wie (alleinige) Kindererziehung (Hübgen 2020), Wohnungslosigkeit (Bretherton 2017) oder häusliche Gewalt (Müller/Schröttle 2012).

Um den Zusammenhang dieser verschiedenen (negativen) Lebenslagen fassbar machen zu können, schlage ich den Begriff der Marginalisierung vor. Damit ist zunächst der Vorgang der (materiellen und symbolischen) Positionierung am Rand gesellschaftlicher ‚Normalität‘ gemeint (Schmincke 2009, 23). Die Marginalisierten sind nicht vollständig in die Gesellschaft integriert und können nicht oder nur kaum am ökonomischen, sozialen und politischen Leben teilhaben (Böhnke 2006, 55). Somit unterscheidet sich der Marginalisierungs- vom Exklusionsbegriff, der sich meist nicht auf diese randständige Position, sondern auf umfängliche Ausgrenzung und einen Bereich im Jenseits sozialer Systeme bezieht (Farzin 2008, 195). Marginalisierung in verschiedenen Bereichen kann sich wechselseitig verstärken und für die betroffenen Menschen zur Aufgabe ihrer sozialen Identität sowie zu Krankheit und Tod führen. So verstanden begreife ich Marginalisierung nicht nur als den Ausschluss aus bestimmten gesellschaftlichen Bereichen, sondern mit Iris Marion Young (1996) als die Möglichkeit der existenziellen Bedrohung. Damit rückt der Marginalisierungsbegriff in die Nähe zum Begriff der absoluten Armut, berücksichtigt einerseits aber stärker die subjektive Perspektive sowie andererseits ihre Prozesshaftigkeit (Schmincke 2009, 25). Mit dem Begriff der Marginalisierung gelingt es – etwa auch im Gegensatz zur eher systemtheoretischen Verwendung des Exklusionsbegriffs – zu beschreiben, wie diese zustande gekommen ist. Ein weiterer Aspekt gesellschaftlicher Marginalisierung beinhaltet gesellschaftliche Stigmata, denen die Betroffenen ausgesetzt sind. So werden bis heute im Rahmen der sogenannten ‚Unterschichtendebatte‘ Vorurteile produziert und zugleich medial verstärkt, wonach sich arme oder erwerbslose Menschen selbstverschuldet durch vermeintliche Faulheit, schlechte Bildung, Gewaltneigung und Verwahrlosung, oft in Zusammenhang mit Kinderreichtum, zügelloser Sexualität oder fehlendem Anstand auszeichnen würden (Lindner/Musner 2008; Dörre 2021, 273ff.).

Der marginalisierte Alltag von Frauen

Die Grundlage meines Beitrags bilden neun Interviews mit marginalisierten Frauen. Die Fallbeispiele stammen aus einer Reihe von 25 leitfadengestützten, biografischen Interviews, die ich 2019 und 2020 deutschlandweit mit marginalisierten Menschen geführt habe. Die Interviews kamen mehrheitlich vor Notunterkünften, Essensausgaben oder Tagestreffs zustande. Die Interviewpartnerinnen eint ihre gesellschaftliche Selbstpositionierung „ganz unten“ zu sein. Diese Selbsteinschätzung ist umso interessanter, als die bisherige Forschung gezeigt hat, dass sich marginalisierte Menschen selbst meist gesellschaftlich höher verorten und teilweise sogar zur gesellschaftlichen „Mitte“ zählen, um sich vor moralischen Schuldzuweisungen zu schützen (Hirseland 2016; Weißmann 2016). Die eigene soziale Positionierung als „ganz unten“ erfolgte in den Interviewsituationen allerdings schnell, eindeutig und umstandslos und schien so für die Befragten komplett unumstritten.

Die Interviews wurden nach Rücksprache mit den Interviewpartnerinnen aufgenommen und vollständig transkribiert. Um die Anonymität der befragten Frauen zu wahren, handelt es sich bei den Namen um Pseudonyme. In Tabelle 1 sind wesentliche soziodemografische Merkmale der befragten Frauen dargestellt.

Die Interviews wurden mit Hilfe der dokumentarischen Methode (Bohnsack 2007; Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2007) ausgewertet. Diesem Verfahren der rekonstruktiven Sozialforschung geht es darum, implizites Wissen vor dem Hintergrund der klassenspezifischen Lage zu analysieren und kollektive Muster herauszuarbeiten. Der wörtliche Sinngehalt des Gesagten dient als Ausgangspunkt. Ziel ist es, das zugrunde liegende, latente Orientierungswissen aufzudecken, welches auf impliziten Wissensbeständen gründet und das Handeln und Denken intentional strukturiert, sodass es für die Handlungspraxis bestimmend sein kann. Es geht der Methode somit nicht nur darum, was gesagt wird, sondern auch wie es gesagt wird.

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