Alkoholkonsum bei der Durchführung von Oral History-Projekten

BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 2-2020: „Jetzt trinken wir erst einmal“. Die Rolle des Alkohols bei Oral History-Interviews

„Jetzt trinken wir erst einmal“. Die Rolle des Alkohols bei Oral History-Interviews

Michael Galbas

BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Heft 2-2020, S. 225-240.

 

Zusammenfassung

Der Beitrag reflektiert die Rolle des Alkoholkonsums bei der Durchführung von Oral History-Projekten. Den Ausgangspunkt bilden hierfür die während einer geschichtswissenschaftlichen Untersuchung über die Erinnerungen an den sowjetischen Afghanistankrieg gemachten Beobachtungen in Interviewsituationen. Im Rahmen dieser Studie wurden zwischen den Jahren 2011 und 2015 mit über 30 ehemaligen Kriegsteilnehmern an verschiedenen Orten Russlands lebensgeschichtliche Interviews durchgeführt. Dabei fiel auf, dass die Gesprächspartner bei einem Drittel der Treffen gemeinschaftlich Alkohol konsumierten. Davon ausgehend wird aufgezeigt, welche Auswirkung der Alkoholkonsum auf den Erhebungsprozess und die narrative Ausgestaltung der Lebensgeschichte haben kann. Jenseits ethischer und moralischer sowie gesundheitlicher Aspekte ist die dabei Frage von Relevanz, ob Oral History-Interviews vor allem unter methodischen und inhaltlichen Gesichtspunkten scheitern, wenn Alkohol konsumiert wird.

 

Es war ein kalter und verregneter St. Petersburger Februarabend des Jahres 2013, als ich mich mit Sergej traf, einem Veteranen des sowjetischen Afghanistankrieges.1 Mit ihm führte ich ein lebensgeschichtliches Interview im Rahmen einer geschichtswissenschaftlichen Studie über die Erinnerungen an den Militäreinsatz der UdSSR am Hindukusch von 1979 bis 1989. Ziel war es herauszuarbeiten, welche Bedeutung Veteranen ihren Afghanistan-Erfahrungen beimessen und wie sie ihre Autobiographie über das Erlebte konstruieren. Besonders stand dabei das auf Wechselwirkung basierende Verhältnis von individuellen und kollektiven Sichtweisen auf den Krieg im gegenwärtigen Russland im Fokus (Galbas 2019).

Als Treffpunkt hatten Sergej und ich das Einkaufzentrum Gostiny Dvor auf dem Nevskij-Prospekt vereinbart, der zentralen Lebensader St. Petersburgs. Aufgrund des schlechten Wetters entschlossen wir uns, für das Interview nicht lange nach einem ruhigen und wenig frequentierten Ort zu suchen, sondern begaben uns direkt in eine kleine Kantine im Gostiny Dvor, aus der laute Pop-Musik schallte. Während ich zögerte, die Türschwelle zu übertreten, ließ sich Sergej von dem Lärm nicht beeindrucken und steuerte zielsicher einen der freien Tische an, worauf ich ihm schließlich folgte. Am Tisch angekommen, stand vonseiten des Veteranen die Frage nach einem Bier sogleich im Raum. Ehe ich antworten konnte, hatte er sich bereits entfernt und kehrte mit zwei gefüllten Gläsern zurück. Eines davon platzierte er vor mir mit den Worten:

Jetzt trinken wir erst einmal und Sie erzählen mir in Ruhe, wer Sie sind, was Sie machen und danach berichte ich (Interview Sergej 2013).

Für das Forschungsprojekt über die Erinnerungen an den sowjetischen Afghanistankrieg wurden im Zeitraum von 2011 bis 2015 mit 33 männlichen, in Russland lebenden ehemaligen Kriegsteilnehmern narrativ biographische Interviews durchgeführt (Schütze 2012; Rosenthal et al. 2006). Der Ablauf eines solchen Interviews gliedert sich nach gängiger methodischer Diskussion in drei Teile: Der offenen Erzählaufforderung, dem erzählgenerierenden Nachfragen sowie dem formellen Interviewabschluss (Rosenthal 2015: 157 ff.). Der erste Abschnitt umfasst das persönliche Kennenlernen sowie die thematische Einführung, die den Zeitzeugen über die Hintergründe des Anliegens und die allgemeinen Abläufe informiert. Der Gesprächspartner beginnt daraufhin mit seiner autonom gestalteten Haupterzählung. Anschließend werden unklare Sachverhalte nachgefragt oder einzelne Aspekte vertieft. Zudem bleibt Raum, bisher unbehandelte Themenbereiche der Lebensgeschichte zu erschließen. Der offizielle Abschluss ist dahingehend wichtig, um den Autobiographen narrativ nicht in einer für ihn belastenden, sondern in einer stabilen Phase seines Lebens zu belassen.

Die Interviews mit den Afghanistanveteranen verteilten sich auf mehrere Städte in Russland und fanden entweder in öffentlichen Räumen wie Kantinen und Cafés oder in vertrauter Umgebung etwa in Wohnungen oder in Vereinsheimen statt. Die Interviewsprache war primär Russisch. Für mich stellt sie eine während des Studiums sowie zweier Semesteraufenthalte in Moskau und St. Petersburg erlernte Fremd-, für die Veteranen zumindest die zweite Muttersprache dar.2 Lediglich in zwei Fällen erfolgten die Gespräche phasenweise in meiner Primärsprache auf Deutsch, da die Interviewten über die dafür notwendigen Sprachkenntnisse verfügten und diese auch anwenden wollten. Mit dem Einverständnis der Veteranen wurden die Interviews aufgezeichnet und im Anschluss transkribiert. Die Auswahl der Zeitzeugen beruhte auf Kriterien, die sich aus dem Erhebungsprozess entwickelten (Strauss/Corbin 2010). Hierzu gehörten unter anderem der Dienstgrad und -zeit, der Status als Kombattant und Invalide, aber auch die Mitgliedschaft in einem Veteranenverband sowie die ethnische und geographische Herkunft. Im Durchschnitt waren die Interviewten 25 Jahre älter als ich. Die Mehrheit von ihnen wurde im Alter von 18 Jahren zur Armee eingezogen und mussten den Großteil ihres zweijährigen Wehrdienstes am Hindukusch ableisten (Sapper 1994: 99 ff.). Einige der Zeitzeugen lassen sich als „Erinnerungsexperten“ beschreiben, die ihre Kriegserlebnisse in mündlicher oder schriftlicher Form bereits wiedergegeben hatten. Dies war allerdings kein Vorauswahlkriterium, sondern stellte sich meist erst während des Gesprächs heraus.

In den Interviews thematisierten die ehemaligen Interventionsteilnehmer sowohl Ereignisse aus Afghanistan als auch teilweise deren Nachwirkungen in der Sowjetunion nach Ende des Militäreinsatzes. So berichteten Befragte etwa von einer bewussten Reduzierung sozialer Kontakte oder einem übermäßigen Alkoholkonsum. Ein Zeitzeuge beschreibt dies beispielsweise folgendermaßen:

Wir wurden gefragt, was wir nach Afghanistan machen werden [Pause]… Ich werde trinken, danach werde ich trinken, und danach werde ich wieder trinken (Nikita 2014: 8. Zit. in Galbas 2019: 303 f.).

Bei einigen Gesprächen beschränkte sich die Präsenz des Alkohols allerdings nicht nur auf die narrative Ebene.

Ein Charakteristikum der Erhebung war, dass es in jeder der genannten Veteranen-Subgruppen zu gemeinschaftlichem Alkoholkonsum kam, insgesamt in elf lebensgeschichtlichen Interviewsituationen. Die Initiative zum gemeinsamen Trinken ging immer vom Interviewten aus, wobei dies wie im Falle Sergejs entweder gleich zu Beginn in der Einführungsphase oder zum Ende der Haupterzählung beim Übergang zum Nachfrageteil geschah. Ausgehend von meinen Russland-Erfahrungen kam ich der Trinkaufforderung aus Gründen der Höflichkeit in den meisten Fällen nach, allerdings keineswegs immer. Bei den Treffen konsumierten die Gesprächspartner auch in unterschiedlichem Ausmaß. Dies reichte von einem Getränk zum Anstoßen bis hin zu einem sich steigernden Konsum während des Interviewverlaufs. Ich achtete jedoch permanent darauf, einen „klaren Kopf“ zu behalten und nahm nur in entsprechenden Maßen alkoholische Getränke zu mir. Der Verzehr von Alkohol trat ebenfalls in anderen Forschungsprojekten zu den Teilnehmern der sowjetischen Intervention in Afghanistan auf. Die Mitarbeiter einer soziologischen Studie an der Higher School of Economics Moscow berichteten beispielsweise von vergleichbaren Situationen, gingen auf die Trinkangebote allerdings nicht ein (Rozhdestvenskaia et al 2016).

Da in der zugrundeliegenden Untersuchung ein anderer Weg eingeschlagen wurde, gilt es, das Zusammenspiel von Alkohol und Oral History-Interviews näher zu beleuchten. Ausgehend von den gemachten Beobachtungen und Erfahrungen werden die Auswirkungen des gemeinsamen Alkoholkonsums auf den Interviewprozess beschrieben.3 Mit Blick auf den Alkohol ist grundsätzlich auf seine Eigenschaft als gesundheitsschädigendes Suchtmittel hinzuweisen. Aufgrund dieser bekannten Risiken bezieht sich die Darstellung aufgetretener Effekte vor allem auf den Bereich der Erhebung und der Gestaltung der Lebensgeschichten. Bedeutend ist dabei die Frage, ob Interviews unter methodischen und inhaltlichen Gesichtspunkten Gefahr laufen, zu scheitern, wenn Alkohol konsumiert wird. In diesem Zusammenhang versteht sich der vorliegende Beitrag als Gedankenanstoß zur Rolle des Alkohols auf dem Feld anthropologischer sowie kultur- und alltagswissenschaftlicher Forschungen (vgl. Scherer 2019). Zahlreiche Studien mit lebensgeschichtlichen Interviews beleuchten zwar eingehend die Bedeutung und die Folgen des Alkoholkonsums in den jeweiligen Biographien (Hörauf 2016; Litau et al. 2015). Eine Analyse seiner Auswirkungen auf die Interviewsituation selbst bleibt aber weitestgehend unberücksichtigt.

Erhöhung der Gesprächsbereitschaft

Als einen zentralen Effekt des Alkoholkonsums mit den sowjetischen Veteranen lässt sich anführen, dass er ihre generelle Gesprächsbereitschaft förderte, da er eine vertrauensbildende Maßnahme darstellte sowie Sprechanreize gab.

An die in Russland lebenden ehemaligen Kriegsteilnehmer trat ich auf vielfältige Art und Weise heran. Von Deutschland aus gehörten hierzu etwa Telefonanrufe bei ihren Organisationen oder das Platzieren von Anfragen in speziellen Veteranengruppen in den sozialen Netzwerken facebook und vk. Während meiner Forschungsaufenthalte in Russland geschah die Kontaktaufnahme dagegen überwiegend persönlich, wie durch den Besuch von Gedenkveranstaltungen. Über neu gewonnene Bekanntschaften erfolgte schließlich oftmals das Zusammentreffen mit weiteren Gesprächspartnern. Zahlreiche der von mir angesprochenen Zeitzeugen reagierten auf Interviewanfragen mit Ablehnung und Skepsis oder seltener auch mit freudiger Erwartung. Häufig zeigte sich ein gewisses Misstrauen dahingehend, warum sich gerade ein junger Deutscher für den Afghanistankrieg interessiere. Aufkommende Hemmschwellen, einem Fremden über das eigene Leben zu berichten, sind keine Seltenheit bei Oral History-Interviews (vgl. Rosenthal 2002: 11). Die Auskunftsbereitschaft hängt dabei mitunter von unterschwelligen Sympathiefaktoren ab (vgl. Jureit 1999: 194 ff.). Die distanzierte Haltung der Afghanistanveteranen legte sich beispielsweise oftmals, wenn in Ansätzen ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden konnte (vgl. Rosenthal 2002: 9). An diesem Punkt kann dem gemeinschaftlichen Verzehr von Alkohol eine beeinflussende Wirkung auf das soziale Verhältnis zwischen dem Interviewer und dem Interviewten attestiert werden.

Vergleichbar mit dem amerikanischen Einsatz in Vietnam war übermäßiger Alkohol- und Drogenkonsum ebenfalls ein verbreitetes Phänomen innerhalb der sowjetischen Interventionskräfte in Afghanistan (Sapper 1994: 119 ff.). Auf diese Weise versuchten die Soldaten, der Langeweile bei Routineaufgaben im Hinterland zu begegnen oder die Kriegs- und Gewalterfahrungen zu ertragen. Auch wenn keine genauen Statistiken dazu vorliegen, konsumierten Kriegsteilnehmer nach ihrer Rückkehr vom Hindukusch weiterhin exzessiv Rauschmittel (Braithwaite 2012: 190 f.). Neben den Bearbeitungsformen gemachter Erfahrungen lassen sich hierfür weitere Gründe anführen: Dazu zählen etwa während des Einsatzes entstandene Abhängigkeiten oder soziale Anpassungsschwierigkeiten und eine berufliche Perspektivlosigkeit in Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs in der Sowjetunion beziehungsweise Russland in den 1990er Jahren (Sapper 1994: 156 ff.). Auch aktuell ist der Gebrauch von Suchtmitteln unter den ehemaligen Afghanistankämpfern anzutreffen. Im Sommer 2015 lud mich beispielsweise ein Veteran zu seiner Geburtstagsfeier ein, auf der weitere anwesende Interventionsteilnehmer neben hochprozentigen Alkoholika auch Haschisch konsumierten.

Die Rolle des Alkohols im Leben sowjetischer Afghanistanveteranen ist allerdings nicht nur als Folge von Einsatz- und Rückkehrerfahrungen zu betrachten. In zahlreichen Ländern und Regionen wird der Alkoholkonsum weniger als Suchtmittel, sondern vornehmlich als „Kulturgut“ angesehen (Hirschfelder/Trummer 2016; Käppner 2011; Spode 2010; Fikentscher 2008). In diesem Zusammenhang zeigen sich Tendenzen, Rauschzustände als Zeichen von Männlichkeit und Stärke, aber auch von Großzügigkeit auszulegen (Große 2019). Eine solche Einstellung lässt sich etwa in Russland vor allem bei den älteren männlichen Angehörigen der im sowjetischen Sozialismus aufgewachsenen Generationen beobachten (Lokshin 2019; Bota 2018; Krasnov 2003; White 1996).4 Gerade die Aspekte der Großzügigkeit und Gastfreundschaft spielten spürbar bei jenen Veteranen eine hervorgehobene Rolle, die bis dato kaum Kontakt mit Personen aus dem westlichen Ausland hatten. So wurden meine Kosten bei Café-Besuchen von den Gesprächspartnern in der Regel übernommen.

1 Die Namen der Interviewten sind pseudonymisiert.
2 In der Sowjetunion wurden über 120 Sprachen gesprochen. Russisch erlangte erst 1990 den gesetzlichen Status als Amtssprache, war davor allerdings als „Sprache der Kommunikation zwischen den Völkern“ im Schul- und Bildungswesen sowie der Kaderpolitik dominant (Mark 1992; Comrie 1981).
3 Die Beobachtungen beziehen sich dabei lediglich auf männliche Gesprächspartner, da in dem zugrundeliegenden Forschungsdesign die Perspektive der sowjetischen Kriegsteilnehmerinnen aufgrund der Fragestellung und organisatorischen Gründen weitestgehend unberücksichtigt bleiben musste. Das Verhältnis von Alkoholkonsum und lebensgeschichtlicher Erzählung von Zeitzeuginnen bedürfte einer gesonderten Untersuchung. In Bezug auf die vorliegende Analyse gilt mein Dank dem/der mir unbekannten Gutachter/Gutachterin sowie Benjamin Biesinger, Felix Frey, Markus Mirschel und besonders Friedrich Cain für die Anregungen und den Gedankenaustausch.
4 Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist der Alkoholkonsum in Russland gegenwärtig rückläufig (WHO 2019). Bei Jugendlichen zeigt sich zunehmend eine kritischere Einstellung gegenüber dem Alkohol (Bräker 2018: 37 f).

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