Jugend in guter Gesellschaft? Zur biographischen Herstellung exklusiver Zugehörigkeit im Kontext deutscher Adelsverbände
Käthe von Bose
BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Heft 2-2023, S. 207-229.
Zusammenfassung
Radtouren, Abendbälle oder Arbeitsfreizeiten auf einem Gut: In diesem Beitrag werden biographische Erzählpassagen aus Interviews mit Mitgliedern deutscher Adelsverbände untersucht, die auf ihre Teilnahme an Aktivitäten der verbandlichen Jugendarbeit (zurück)blicken. Dabei geht es um die Frage, wie Zugehörigkeit zu diesem exklusiven Kontext hergestellt wird. Exklusivität umfasst hier sowohl eine Form der Besonderheit im Sinne von Privilegierung als auch Exklusion. In der Analyse wird deutlich, dass die Zugehörigkeit zu dieser exklusiven Gemeinschaft zwar als natürlich wahrgenommen wird, jedoch immer wieder hergestellt, ausgehandelt und aufrechterhalten werden muss („doing exclusivity“). Die Kategorien Klasse und Bildung spielen dabei eine wesentliche Rolle.
Abstract
Cycling tours, evening balls or work retreats on an estate: this article examines biographical narrative passages from interviews with members of German nobility associations who look back on their participation in activities of association youth work. The question is how belonging to this exclusive context is constructed. Exclusivity encompasses both a form of distinction in the sense of privilege and exclusion. In the analysis, it becomes clear that although belonging to this exclusive community is perceived as natural, it must be continually constructed, negotiated and maintained (‘doing exclusivity’). The categories of class and education play an important role in this.
1. Einleitung
In dem Roman Tschick von Wolfgang Herrndorf begegnen die beiden jungen Protagonisten auf ihrer Reise einer Gruppe Jugendlicher, die ihnen seltsam vorkommt. Für einen Schulausflug sei die Gruppe zu klein, für eine Familie zu groß und „sie trugen alle so Klamotten“ und „hatten sehr, sehr saubere Gesichter“ (Herrndorf 2012: 123 f.). Die beiden Jungen glauben die Erklärung aus der Gruppe nicht, dass diese zu einer organisierten Radtour gehöre, die sich „Adel auf dem Radel“ nenne. Was sich in dem Roman wie eine kuriose Anekdote liest, ist eine traditionsreiche Praktik der Jugendarbeit deutscher Adelsverbände. Jugendliche aus Familien, die nach den Kriterien der Verbände dem historischen Adel angehören, fahren in mehrtägigen Radtouren gemeinsam von Familie zu Familie und lernen sich dabei kennen. Dahinter steht die Struktur der Adelsverbände, deren Ziel es ist, Geschichte und Traditionen des Adels in Deutschland zu bewahren und die Verbindung untereinander aufrecht zu erhalten (vgl. auch Conze 2000: 392 ff.).
Die Radtour und die Radelnden selbst wirken in Herrndorfs Roman wie aus einer anderen Welt. Dies ist schon insofern treffend, als sich mit dem Adel auf eine gemeinsame Grundlage berufen wird, die in der Vergangenheit liegt. Diese Praktik ist somit in einem doppelten Sinne exklusiv: Zum einen richtet sie sich nur an Kinder und Jugendliche adliger1 Herkunft, zum anderen soll sie zu einem Hineinwachsen in Traditionen des historischen Adels beitragen. Der Begriff der Exklusivität zielt damit sowohl auf eine Form der Besonderheit im Sinne einer privilegierten oder herausgehobenen gesellschaftlichen Position als auch auf die Exklusion anderer, dieser Gruppe nicht zugehöriger. Um dem damit beschriebenen Phänomen nachzugehen, werden in diesem Beitrag biographische Erzählungen von Mitgliedern deutscher Adelsverbände untersucht, die auf ihre Teilnahme an oder ihr Engagement in Aktivitäten der verbandlichen Jugendarbeit (zurück)blicken. Dabei geht es um die Frage, wie in den Narrationen Zugehörigkeit zu dem exklusiven Kontext Adelsverband hergestellt wird.
Damit schließt der Beitrag insbesondere an ein Forschungsfeld an, das sich mit sozialer Ungleichheit in Bildungskontexten aus einer Perspektive auseinandersetzt, die weniger Mechanismen der Marginalisierung untersucht, als vielmehr solche der Privilegierung in den Blick nimmt. An der Schnittstelle von Bildungs- und Ungleichheitsforschung ist die Spannung breit erforscht, die zwischen angeblich herkunftsunabhängigem Bildungserfolg und einem Bildungssystem besteht, das Leistung noch immer eng an soziale und national-kulturelle Herkunft koppelt (Hummrich 2017; Laufenberg 2016; Krüger/Helsper 2014; Bourdieu/Passeron 2007). Die Forschung zu „elitären“ Bildungseinrichtungen wie etwa privaten Internatsgymnasien bietet mit Blick auf Exklusivität wichtige Anschlussstellen (Deppe 2020; Terhart 2020; Helsper et al. 2018; Khan 2011; Gibson 2017; Kalthoff 1997) ebenso wie die Frage nach exklusiver Zugehörigkeit im Kontext eines stets selektierenden Bildungssystems (Hummrich 2011). Während sich dieses Forschungsfeld jedoch mit etablierten Institutionen des Bildungssystems befasst, verstehe ich die Jugendarbeit von Adelsverbänden als einen Kontext non-formaler exklusiver Bildung außerhalb einer institutionellen und pädagogisch-professionellen Rahmung.
Die Forschung zum deutschen Adel ist vorwiegend in den Geschichtswissenschaften angesiedelt, da es sich dabei um ein historisches Phänomen handelt. In einigen historischen Studien finden sich Hinweise auf adlige Jugendarbeit sowie kindliche und jugendliche Sozialisation im deutschen Adel (Wienfort 2006: 122 ff.; Conze 2000: 344 ff., 2021: 82), die für die vorliegende Fragestellung anschlussfähig sind. Die einschlägige Studie der französischen Soziologin Monique de Saint Martin Der Adel. Soziologie eines Standes ist in dieser Hinsicht aufschlussreich (vgl. de Saint Martin 2003 [1993]: 177 ff.), obgleich sich zwischen dem französischen und deutschen Kontext einige strukturelle Unterschiede zeigen.
Im Folgenden skizziere ich zunächst das Forschungsprojekt, auf dem der Beitrag basiert, die methodische Herangehensweise sowie meine eigene autobiographische Verbindung zu dem Feld (2.). Im Anschluss gehe ich darauf ein, inwiefern sich eine Analyseperspektive auf non-formale Bildung anbietet, wenn es um die Jugendarbeit in Adelsverbänden geht, und stelle die Spezifika dieser Jugendarbeit vor (3.). Der empirische Teil des Beitrags (4.) gliedert sich in drei Unterkapitel, in denen ich der Frage nach dem Herstellen exklusiver Zugehörigkeit in der Jugendarbeit nachgehe. Im abschließenden Fazit (5.) erfolgt eine Zusammenführung der Analyseergebnisse und Reflexion ihrer Relevanz für eine sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit exklusiver Bildung.
2. Zum Forschungsprojekt
Der Beitrag basiert auf dem empirischen Material eines ethnografischen Forschungsprojekts zu exklusiver Zugehörigkeit in so genannten Serviceclubs (die bekanntesten: Rotary, Lions) und Adelsverbänden, beschränkt sich jedoch auf den Teil des Projekts, der sich mit Adelsverbänden befasst.2 Die Funktion der Adelsverbände liegt heute, da der Adel keine politische und rechtliche Bedeutung mehr besitzt, darin, für den Gruppenzusammenhalt und die Fortführung adliger Traditionen zu sorgen. Die „Vereinigung der Deutschen Adelsverbände“ bildet das Dach für regional und konfessionell organisierte Adelsverbände sowie historische Adelskorporationen.3 Diese Organisationen und ihre Mitglieder bilden jedoch nicht „den Adel“ in Deutschland ab, da nur ein geringer Anteil aller Träger*innen historisch adliger Namen Mitglied in einer dieser Organisationen ist (Conze 2000: 393).4 Bei weitem nicht alle Personen, deren Namen darauf hindeuten, dass ihre Vorfahren adlig waren, beteiligen sich an den Aktivitäten von Adelsverbänden und deren Jugendarbeit, einige distanzieren sich in kritischer Absicht davon. Und selbst viele derjenigen, die in ihrer Kindheit und Jugend an solchen Angeboten teilgenommen haben, bleiben nicht im Verband.
Das Konstrukt Adel mit all seinen Traditionen und Wertvorstellungen scheint auch in den Kontexten, in denen diese aufrecht erhalten und weitergetragen werden sollen, brüchig zu sein. Der Historiker Eckart Conze führt gesamtgesellschaftliche Individualisierungs- und Nivellierungstendenzen als Schwierigkeit dafür an, eine adlige Gemeinschaft aufrecht zu erhalten, und misst den hier untersuchten Aktivitäten der Adelsverbände eine hohe Bedeutung für eine aktuelle „adelige Sozialisation“ (ebd.: 342) bei. Zugleich könnten die Anforderungen der modernen Gesellschaft der „Singularitäten“ (Reckwitz 2017) oder die Zumutungen der Demokratie (Schönberger 2023) gerade dazu beitragen, dass solche auf lebenslange Zugehörigkeit angelegte und auf Herkunft statt Leistung basierende Netzwerke wieder attraktiver werden. Mich interessiert hier, wie in den verschiedenen Kontexten und Praktiken der Verbände Exklusivität hergestellt und aufrechterhalten wird.
Im Folgenden stelle ich das empirische Material vor, auf dem der Beitrag beruht, und erläutere meine eigene Verbindung zu diesem Feld als eine Form der autobiographischen Situierung.
2.1 Zur methodischen Herangehensweise und zum empirischen Material
Eine biographieanalytische Perspektive, die ich in diesem Beitrag einnehme, bietet sich für das Thema insofern an, als die Mitgliedschaft und das Engagement in Adelsverbänden meist eng mit dem gesamten Lebensverlauf der Interviewten zusammenhängen. Auf die Frage, wie es zu der Verbandsmitgliedschaft kam, antworten die meisten meiner Interviewpartner*innen, dass sich diese fast automatisch durch ihre Herkunftsfamilie ergeben habe, sogar eine „natürliche“ Entwicklung gewesen sei. Die meisten wuchsen bereits im Kindes- und Jugendalter in die Verbandsaktivitäten hinein und blieben fortan auch im Verband, wobei das Engagement je nach Lebensphase variiert. So berichten manche, dass sich ihre Beteiligung zu der Zeit ihres Berufseinstiegs minimiert habe, sich dies aber wieder verändert habe, als ihre eigenen Kinder in dem Alter waren, an Kinder- oder Jugendfreizeiten des Verbandes teilzunehmen. Ein Interviewpartner betont die Besonderheit mancher Adelsverbände, ihren Mitgliedern „von der Wiege bis zur Bahre“ Anschluss zu bieten.
Das empirische Material für diesen Beitrag umfasst zum einen elf leitfadengestützte narrative Interviews (Helfferich 2004) mit Mitgliedern deutscher Adelsverbände. Zusätzlich wurde ein biographisch-narratives Interview einbezogen, das zu Beginn des Forschungsprozesses explorativ mit einer jungen Erwachsenen geführt worden ist, die auf ihre Lebenserfahrungen in einer adligen Familie sowie ihre Teilnahme an verbandlichen Angeboten wie „Adel auf dem Radel“ zurückblickt. Zum anderen habe ich Feldnotizen von Besuchen bei Verbandsmitgliedern sowie auto-ethnographische Feldnotizen einbezogen5, außerdem Zeitschriften und Jugendzeitschriften verschiedener Adelsverbände, in denen auch Aktivitäten der Jugendarbeit dokumentiert werden. Die Altersspanne der Interviewten ist groß. Dies ist für die Verortung der Jugendarbeit im Lebensverlauf relevant. So sind zwei meiner Interviewpartner*innen zur Zeit des Interviews noch in der Jugendarbeit aktiv. Dagegen blicken die übrigen Interviewten auf ihre Erfahrungen in der Jugendarbeit zurück: Eine Interviewpartnerin ist über 30, ein Interviewter Ende 40, fünf sind in den Sechzigern und drei in ihren Siebzigern. Für den vorliegenden Beitrag habe ich aus dem Interviewmaterial vorwiegend biographische Erzählpassagen analysiert. Mit diesem Vorgehen schließe ich an Arbeiten an, die sich mit Synergieeffekten von Ethnografie- und Biographieforschung auseinandersetzen (Becker/Rosenthal 2022; Pape 2018) und biographische Erzählungen auch außerhalb von biographisch-narrativen Interviews als gewinnbringendes Material einbeziehen (Dausien/Thoma 2023).
Inhaltlich konzentriere ich mich in diesem Beitrag weitgehend auf Erzählungen zur Jugendarbeit der Verbände. Diese ist zwar lediglich ein Teil eines Sets an exklusiven Praktiken, die in den Biographien der Interviewten eine Rolle spielen. Die Kinder- und Jugendaktivitäten stellen aber die Kontexte dar, in denen der Kontakt zu den Adelsverbänden biographisch früh geknüpft oder intensiviert wird. Sie sind dadurch besonders relevant für die Frage nach der biographischen Herstellung von Zugehörigkeit.
Die Erhebung des empirischen Materials für das Forschungsprojekt erfolgte hauptsächlich zwischen 2018 und 2022. Im gesamten Forschungsprozess folge ich dem Forschungsstil der Grounded-Theory-Methodologie. Mit deren Konzept des Theoretical Sampling wurde das empirische Material in einem ständigen Wechsel zwischen Datengewinnungs- und Auswertungsphasen erarbeitet (Strauss/Corbin 1996; Strauss 1998). Die Entscheidung, wer interviewt wurde, welche Kontexte aufzusuchen und welche Dokumente zu sichten waren, wurde im Laufe der Forschung Schritt für Schritt nach den Kriterien der minimalen und maximalen Kontrastierung getroffen (Mey/Mruck 2011: 28). Für die Analyse der Daten habe ich das Kodierverfahren der Grounded Theory verwendet (Strauss/Corbin 1996). Für den vorliegenden Beitrag wurden mithilfe des handlungstheoretisch basierten Kodierparadigmas (Strauss 1998: 56 f.) aus den Erzählungen zur Jugendarbeit die nachfolgend in den Unterkapiteln aufgefächerten Kategorien gebildet und im Austausch mit sensibilisierenden Konzepten zu theoretisierenden Schlussfolgerungen verdichtet.
1 Der Begriff „adlig“ nimmt die Selbstbeschreibung aus dem Feld der deutschen Adelsverbände auf. Wie Michael Seelig in seiner Studie über den ostelbischen Adel nach 1945 herausstellt, gibt es „keine Charakteristika, Essenzen oder Substanzen, die bestimmte Sachverhalte – ob Selbstzuschreibungen, Werte, Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster, Lebensstile oder Ähnliches –, grundsätzlich als exklusiv, genuin oder spezifisch adlig ausweisen“ (Seelig 2015: 28), vielmehr sei adlig das, „was in der jeweiligen Zeit als adlig gilt und sich dementsprechend auswirkt“ (ebd.). Welche Bedeutung „adlig“ jeweils erhält und inwiefern dieses Konstrukt mit Vorstellungen von Elite oder Privilegien verbunden ist, ist Teil meiner Forschung.
2 Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – 451039170.
3 Zur Geschichte des Adels nach dem Verlust adliger Privilegien vgl. exemplarisch Langelüddecke 2020; Marburg/von Kuenheim 2016; Seelig 2015; Reif 2012; Conze 2000. Stephan Malinowski arbeitet in seiner Studie (2010) differenziert die Entwicklung und Rolle der Adelsverbände in den Jahren zwischen 1918 und 1933 (vgl. ebd.: 321 ff.) sowie während des Nationalsozialismus (ebd.: 556 ff.) heraus.
4 Die genaue Anzahl ist schwer zu ermitteln. Eckart Conze geht in seiner Studie von etwa einem Achtel aller Personen mit historisch adligen Namen aus (Conze 2000: 393).
5 Im Gegensatz zum Feld der exklusiven Clubs, in dem ich umfangreiche ethnografische Feldforschung durchführen konnte, war der Zugang zum Feld der Adelsverbände deutlich komplizierter. Während es mir mit Hilfe von „Gatekeepern“ möglich war, Mitglieder zu finden, die bereit waren, an einem Interview teilzunehmen oder mich sogar zu sich nach Hause einzuladen und mir ihre Familienerbstücke oder Archive zu zeigen, war es fast unmöglich, Zugang zu Veranstaltungen zu finden, um teilnehmend zu beobachten.
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