Proteste gegen die Corona-Maßnahmen und ihre Bezüge zum Jahr 1989

ZRex – Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung 2-2024: „1989“ als Mythos – Apokalypse als Neuanfang. Eine tiefenhermeneutische Fallanalyse der apokalyptischen Narrative und der Wendebezüge auf den Corona-Protesten

„1989“ als Mythos – Apokalypse als Neuanfang. Eine tiefenhermeneutische Fallanalyse der apokalyptischen Narrative und der Wendebezüge auf den Corona-Protesten

Fiona Kalkstein & Marius Dilling

ZRex – Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung, Heft 2-2024, S. 169-189.

 

Zusammenfassung: Der Beitrag widmet sich der Frage, welche psychosoziale Rolle die Bezüge zu „1989“, die damit verwobenen apokalyptischen Narrative und Verschwörungsideen auf den Corona- und den nachfolgenden Protesten spielen. Grundlage bildet eine tiefenhermeneutische Fallanalyse. Es zeigt sich, dass die kollektiven Narrative auf den ostsächsischen Protesten einerseits ermöglichen, Aggression kompromisshaft auszuagieren und andererseits dazu beitragen, Ohnmacht, Schwäche und Schuldgefühle abzuwehren. Dass das ideologische Angebot, die Ereignisse um den Gesellschaftszusammenbruch wieder dauerhaft in die Gegenwart zu holen, auf derart fruchtbaren Boden stößt, wird mit der jüngeren deutsch-deutschen Geschichte als ambivalenten Erfahrungsraum in Verbindung gebracht. Während über das Geschehen gesprochen werden kann, ist die emotionale Relevanz sowohl gesellschaftlich als auch individuell unzureichend verarbeitet.

Schlüsselbegriffe: Apokalypse, Verschwörungsmentalität, Rechtsextremismus, Mythos, Palingenese, 1989

 

“1989” as a myth – apocalypse as a new beginning. A depth hermeneutic case analysis of the apocalyptic narratives and the references to reunification at the Corona protests

Summary: The article investigates the psychosocial role played by references to “1989”, the associated apocalyptic narratives and ideas of conspiracy prevalent in the protests against the pandemic measures as well as subsequent protests. The basis is a deep hermeneutic case analysis. It is shown that the collective narratives at the East Saxon protests enable aggression to be acted out in a compromising manner on the one hand and help to ward off feelings of powerlessness, weakness and guilt on the other. The fact that the ideological offering to bring the events surrounding the collapse of society in 1989 back into the present on a permanent basis finds such fertile ground is associated with recent German-German history as an ambivalent space of experience. While the events can be talked about, the emotional relevance is insufficiently processed both socially and individually.

Keywords: Apocalypse, conspiracy mentality, right-wing extremism, myth, palingenesis, 1989

 

In Ostsachsen verfängt der Montagsprotest seit nunmehr vier Jahren – jeden Montag mit schwankenden Teilnehmer:innenzahlen (Hellweg/Riepenhausen/Kalkstein 2024). Protestiert wird „für Demokratie“ und „Frieden mit Russland“, für bezahlbare Gas- und Strompreise, gegen eine staatliche Impfpflicht („Impfzwang“) oder für eine „Zukunft für unsere Kinder“ und häufig für eine „Wahrheit“, die ans Licht kommen soll. Gestartet ist er als Protest gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie im April 2020. Zu Beginn gab es Irritationen über den Charakter dieser Proteste, die sich in der gesamten Bundesrepublik entwickelten. Die ersten systematischen Beobachtungen der größeren Demonstrationen dokumentierten Symbole aus unterschiedlichsten politischen Spektren und Teilnehmer:innen aus politischen und subkulturellen Milieus, die man zunächst nicht gemeinsam auf Demonstrationen vermuten würde: Es fanden sich Deutschlandfahnen und extrem rechte Symbole wie u. a. Reichskriegsflaggen – aber eben auch Friedenstauben, Peace-Zeichen, es nahmen Esoteriker:innen und eher dem links-alternativen Spektrum zuzuordnende Menschen teil (Liekefett/Bürner/Becker 2023; Frei/Schäfer/Nachtwey 2021; Hanloser 2021). Die Einschätzungen bewegten sich zwischen Auffassungen, es handele sich um eine Bewegung, die „in der Gesamtschau […] eher von links kommt und nach rechts geht“ (Frei/Schäfer/Nachtwey 2021: 253) und „auch anti-autoritäre Züge“ (ebd.: 252) aufweise, und Einschätzungen, die stärker den autoritären und politisch rechten Charakter der Bewegung hervorhoben (Schließler/Hellweg/Decker 2020; Dilling et al 2022; Teune 2021; Quent/Richter 2021). Die Teilnehmenden selbst verorten sich dabei vorrangig in der politischen Mitte (Grande et al. 2021). Das Protestmilieu ist heterogen, entsprechend halten Liekefett/Bürner/Becker (2023) fest, dass hier „Hippies next to right-wing extremists“ demonstrieren. Eine repräsentative Befragung (Grande et al: 19 ff) kommt zu dem Ergebnis, dass der diese Heterogenität zusammenhaltende Kitt das Misstrauen gegenüber der Regierung sowie der Glaube an Verschwörungen „welcher Art auch immer“ (Grande et al. 2021: 23) ist. Diese seien ferner häufig antisemitisch gefärbt (Schließler/Hellweg/Decker 2020; Frei/Schäfer/Nachtwey 2021; Liekefett/Bürner/Becker 2023; Dilling/Celik 2023). Eine solche Verquickung von Verschwörungsideen mit esoterischer, eher optimistischer New-Age-Spiritualität – ein Phänomen, welches auch als Conspirituality (Ward/Voas 2011) bezeichnet wird – wird auch in einer tiefenhermeneutischen Fallanalyse der Corona-Proteste beobachtet (Knasmüller et al. 2023).

Parallel zu den Verschwörungserzählungen finden sich auch Widerstandserzählungen auf den Protesten. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie werden dabei als Einläuten einer globalen Diktaturentwicklung interpretiert – z. B. als Testlauf für künftige ‚Klima-Maßnahmen’ mit ähnlichen Einschränkungen der Grundrechte (Decker et al. 2022a; Dilling et al. 2022). Die Protestierenden positionieren sich als Hüter:innen einer bedrohten Demokratie, sie rekurrieren auf demokratische Symbole und beziehen sich auf demokratische Werte (Frei/Nachtwey 2021; Hanloser 2021), wie die Benennung des Publikationsorgans von Querdenken („Demokratischer Widerstand“), der systematische Rekurs auf das Grundgesetz oder die Selbstbezeichnung als „Corona-Rebellen“ illustrieren. In den neuen Bundesländern stechen zusätzlich die explizite Bezugnahme auf „1989“, den damals erfolgreich herbeigeführten Zusammenbruch des Systems der DDR und die Wende- sowie die Transformationszeit hervor (Leistner/Wohlrab-Sahr 2022; Leistner/Garitz 2022, Brieger/Panreck 2022; Warda 2021).

Die nachfolgende Analyse ist Teil eines Forschungsprojekts, welches aus analytisch-sozialpsychologischer Perspektive untersucht hat, warum sich in Ostsachsen abseits der Großstädte eine so ausdauernde Protestbewegung gegen die Corona-Maßnahmen etabliert hat, welche sozialen und massenpsychologischen Dynamiken die Voraussetzungen für diese Proteste bilden und welche Rolle Verschwörungsmythen spielen. Im Folgenden wollen wir die Funktion der Bezüge zu „1989“ und ihrer Verschränkung mit den apokalyptischen Narrativen betrachten, die sich immer wieder auf den lokalen Protesten finden. Dazu stellen wir eine tiefenhermeneutische Fallanalyse eines Interviews mit einem Protestteilnehmer und -organisator vor. Für ihn ist die Corona-Impfung ein absichtsvoll induzierter Massenmord an der Bevölkerung, den vielleicht nur wenige Auserwählte überleben werden. Im Interview werden zahlreiche Parallelen zu 1989 sowie die anschließende Zeit der sozialen und gesellschaftlichen Transformationen in der Region hergestellt. Ziel der Analyse ist es, unbewusste kulturelle Konfliktfiguren in ihrem Zusammenhang zu den apokalyptischen Narrativen und den Wendenarrativen herauszuarbeiten, um so besser die soziokulturellen Voraussetzungen zu verstehen, in denen (Verschwörungs‐)Mythen in der Bundesrepublik gedeihen können.

1 The night is just darkest before the dawn: Mythos und Apokalypse

Die zeitgenössischen Verschwörungserzählungen, wie etwa die Vorstellung, die Corona-Impfung sei ein durch eine mächtige Elite induzierter Massenmord, werden auch als Verschwörungsmythen (Pfahl-Traughber 2002; Nefes/Romero-Reche 2020)1 bezeichnet. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihnen wird der potenziell gesellschaftskritische Gehalt des Mythosbegriffs häufig nicht weiter thematisiert (vgl. dazu kritisch Decker et al. 2022b). Dies betrifft insbesondere die Frage nach den sozialen und historischen Funktionen von Mythen in einer Gesellschaft, die ihre Mythen selbst hervorbringt (ebd.). Wir möchten uns zunächst dem Begriff nähern. Mythen sind allgemein als erzählte Geschichten definiert, die eine Anhängerschaft haben und ein Glaubensbekenntnis oder ein „Credo“ enthalten, welches sich „auch angesichts ihrer eindeutigen Widerlegung“ (Segal 2007: 11ff.) hartnäckig hält. Es lassen sich moderne und antike/frühe Mythen unterscheiden. Frühe Mythen gelten dabei anthropologisch als ein erster Versuch, sich die Welt zu erklären und ihr die Unberechenbarkeit und damit auch ihre Bedrohlichkeit zu nehmen. Sie sind „Bestimmung des Unbestimmten“ (Blumenberg 1979: 186). Moderne (politische) Mythen sindMythen, die sich halten, obwohl das Wissen um die Funktionsweise der Welt heute wesentlich weiter fortgeschritten ist. Ernst Cassirer (2010 [1925]: 52ff.) ging zum Beispiel zunächst davon aus, dass die Wissenschaft den Mythos überwinden kann – bis er selbst vor den Nationalsozialist:innen fliehen musste. In der Auseinandersetzung um den Aufstieg des Faschismus (ebd. 2015 [1946]), den er als politischen Mythos verstand (ebd.: 300 ff.), argumentierte er vor allem mit einer (noch) nicht vollendeten Aufklärung (vgl. ausführlich Krois 2014). Horkheimer und Adorno (2017 [1944]) sahen den Mythos als Teil der Dialektik, die der Aufklärung und ihrem Wissenschaftsverständnis immanent ist. Durch die Neigung, die Welt quantifizierbar und beherrschbar zu machen, werden das Subjektive und das Unbeherrschbare schnell selbst zum Mythos (ebd: 28ff.). Moderne (Verschwörungs‐)Mythen weisen häufig eine Hybridisierung mit apokalyptischen Motiven auf, welche mit der Hoffnung auf „die Neugestaltung der Gesellschaft“ (Vondung 2018: 164) verknüpft werden. Diese sind für die politische Agitation deshalb interessant, da die Apokalypse eine „radikale Verwandlung der Wirklichkeit“ (ebd.: 160) verspricht (vgl. auch Löwental 2017 [1949]:19 ff). Die Herbeiführung der Apokalypse fällt nach Vondung in modernen Mythen dem Menschen selbst zu, er spielt darin eine aktive Rolle2. Die aktivistische Mobilisierung für politische Ziele im modernen Mythos ist seiner Ansicht nach in besonderem Maße im Nationalsozialismus gelungen (ebd.: 162 ff.; 168). Der Faschismustheoretiker Roger Griffin (1991; 2002) bezeichnet die Hoffnung auf Zerstörung der bestehenden Ordnung und die anschließende Wiedergeburt der „bereinigten“ Nation als Palingenese und betrachtet sie als ein Wesensmerkmal faschistischer Ideologie. Vondung hält fest: „Die moderne politische Apokalypse ist aktivistisch. Aber sie ist weder rechts noch links“ (Vondung 2018: 162). Mit Roland Barthes (2010 [1957]: 303) lässt sich erwidern: „Statistisch betrachtet ist der Mythos rechts.“

Ausgangspunkt unserer sozialpsychologischen Perspektive ist, dass sich Verschwörungsmythen und apokalyptische Ideen vor allem dann etablieren, wenn sie unbewusste Wünsche und Bedürfnisse erfüllen (Schließer/Hellweg/Decker 2020) oder dazu beitragen, potenziell wiederkehrende Bewusstseinsinhalte verdrängen zu können. Freud (1961a [1900]; 1961b [1932]) verortete den Hang zum Mythos auf einer ähnlichen Ebene wie den Traum – beide sind für ihn Ausdruck unbewusster Wünsche, Triebregungen und Konflikte. Mit dem Ödipus-Mythos setzt er sich dann konsequenterweise in der Traumdeutung (1961a [1900]: 269 ff) auseinander. Er sieht dessen Popularität gerade darin begründet, dass der Ödipus-Mythos es erlaubt, in der Fantasie unbewusste ödipale Wünsche zu befriedigen, die im realen Leben der Verdrängung unterliegen (ebd.). Und genau wie im Traum sind für ihn auch im Mythos die Wunscherfüllungen verdeckt, sie treten nicht unmittelbar in Erscheinung. Im Ödipus-Mythos komme das ödipale Begehren als Unfall daher, Ödipus schläft aus Versehen mit seiner Mutter, wodurch die verbotene Tat entschuldbar wird.

Das verdrängte Begehren für die Mutter verweist dabei auch auf kulturelle Normen, namentlich auf das Inzesttabu (Freud 1940 [1913]: 150). Insofern enthält das Unbewusste nicht nur biografisch, sondern auch kulturell Konflikthaftes, Verworfenes und Verpöntes (vgl. dazu Lorenzer 1986: 27 f; König et al. 2020: 112). Wenn Verschwörungsmythen und apokalyptische Fantasien in größeren Bewegungen Bedeutung erlangen, stellt sich für den sozialpsychologischen Ansatz die Frage nach den verdeckten Wunscherfüllungen genauso wie nach den historisch-konkreten Bedingungen, die diese Entwicklung begünstigen. Es geht darum, die subjektive Funktion der Mythen der Gegenwart „an die gesellschaftliche Struktur“ (Horkheimer 1992 [1933]: 121) zu knüpfen, denn sie haben konkret etwas mit der Welt, ihren Anforderungen, Zwängen, Entbehrungen und Zurichtungen zu tun. Diese Arbeit kann als ein solcher Versuch verstanden werden.

1 Pfahl-Traughber (2002) unterscheidet zwischen real existierenden Verschwörungen, Verschwörungshypothesen, Verschwörungsideologien und Verschwörungsmythen. Diese Begriffe unterscheiden sich allen voran in der graduellen Abnahme der Korrekturfähigkeit der getroffenen Annahmen sowie der Reichweite der angenommenen Verschwörung.
2 Die extrem rechte Strategie des Akzelerationismus schließt hier an: Um den herbei ersehnten Untergang demokratischer Gesellschaften („Tag X“) zu beschleunigen, wird versucht, einen „Rassenkrieg“ herbeizuführen (vgl. Quent 2019).

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