Zumutung und Machbarkeit. Schwangerschaftskonfliktberatung zwischen rechtlichem Zwang und professioneller Umdeutung
Mechthild Bereswill, Sabine Stange, Louisa Veltin
GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, Heft 1-2024, S. 56-69.
Zusammenfassung
Im Fokus des Beitrags steht das Deutungs- und Handlungswissen von Professionellen in der Schwangerschaftskonfliktberatung bei Pro Familia. Analysiert werden Auszüge aus explorativen Expert*inneninterviews. Die Untersuchung zeigt, dass sich die Interviewten aus einer politischen Perspektive von der gesetzlichen Pflichtberatung distanzieren. Zugleich legitimieren sie jedoch Beratung mit Bezug zu ihrer professionellen Rolle als Berater*innen als generell hilfreiches Angebot. So verschiebt sich die politische Grundsatzkritik im professionellen Diskurs in Richtung einer Affirmation von Beratung im Interesse der zu Beratenden. Zugleich zeigen sich Facetten eines übergreifenden Deutungsmusters: Beratung wird als Möglichkeitsraum der Entlastung, Selbstvergewisserung und Selbstbestimmung vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Tabuisierungen und Stigmatisierungen konstruiert. Die Ergebnisse der explorativen Studie schließen damit sowohl an Zeitdiagnosen zur gesellschaftlichen Bedeutung von Beratung als auch an Diskurse feministischer Beratung an.
Schlüsselwörter
Abtreibung, Schwangerschaftskonfliktberatung, Pflichtberatung, Selbstbestimmung, Pro Familia
Demands and feasibility. Counselling regarding pregnancies in conflict situations between legal obligation and professional reinterpretation
Summary
The article focusses on the knowledge of interpretation and practical knowledge of professionals in the field of counselling regarding pregnancies in conflict situations at Pro Familia by analysing excerpts from explorative expert interviews. The study shows how, from a political perspective, the interviewed experts distance themselves from the legal obligation to provide counselling. However, when it comes to their professional role as counsellors, they legitimise counselling as being generally helpful. As a result, the principle political criticism in the professional discourse shifts towards the affirmation of counselling in the clients’ interest. At the same time, facets of an overarching pattern of interpretation emerge. Counselling is constructed as a possible means of supporting clients in terms of providing relief, self-assurance and self-determination against a backdrop of societal taboos and stigmatisation. The results of the explorative study are aligned with current diagnoses of the societal relevance of counselling as well as of discourses of feminist counselling.
Keywords
abortion, counselling regarding pregnancies in conflict situations, mandatory counselling, self-determination, Pro Familia
1. Einleitung
Das Recht auf selbstbestimmte Schwangerschaftsabbrüche ist ein weltweit hoch umstrittenes Thema. Zuletzt wurden Abbrüche z. B. in Irland, Argentinien und Kolumbien legalisiert, in US-Bundesstaaten wie Florida und Texas oder auch in Polen wurden Gesetzgebungen hingegen, teilweise unter scharfem Protest, verschärft. In Deutschland definiert der § 218 StGB als Rechtsgrundlage für Schwangerschaftsabbrüche diese als „Straftaten gegen das Leben“. Er existiert seit 1871. Seitdem spiegeln sich in den Debatten um eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts gesellschaftliche Auseinandersetzungen und Machtkämpfe um Geschlechterverhältnisse, sexuelle Selbstbestimmung und reproduktive Rechte (Busch/Hahn 2015; Wolff/Hulverscheidt 2021). Kämpfe gegen das Abtreibungsverbot sind fester Bestandteil der bundesdeutschen Frauenbewegung, da das Streben nach Selbstbestimmung zu den wichtigsten Grundsätzen und „Standards feministischen Denkens“ (Achtelik 2016: 8) gehört. Seit 1995 besteht mit dem § 219 StGB die Verpflichtung, vor einer selbst gewünschten Abtreibung eine Beratung in Anspruch zu nehmen (Franz 2015). Diese Beratung wird als Ausdruck gesellschaftlicher Zwänge, die auf gebärfähige Menschen ausgeübt werden, und als Intervention in ihre (körperliche) Selbstbestimmung kritisiert.
Eine der größten Anbieterinnen der sogenannten Schwangerschaftskonfliktberatung ist hierzulande Pro Familia, ein Verband, der sich zugleich in Stellungnahmen und Pressemitteilungen für sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte einsetzt. So begrüßt der Bundesverband Pro Familia 2023 ausdrücklich die Gründung einer „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“, die innerhalb eines Jahres unter anderem außerstrafrechtliche Regulierungen von Schwangerschaftsabbrüchen prüfen soll (Pro Familia 2023; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2023).
Im Aufeinandertreffen des derzeitigen gesetzlichen Auftrags, in der Beratung „Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen“ (§ 219 StGB), einerseits, und der Haltung, Entscheidungen der Beratenen zu respektieren (Pro Familia 2017: 32), andererseits, zeigt sich eine widersprüchliche Konstellation, die den Handlungsspielraum und das Selbstverständnis der professionell Beratenden strukturiert. Es stellt sich also die Frage, wie Professionelle in dieser Organisation die aktuelle Praxis wahrnehmen und einschätzen, wie sie ihre eigene Tätigkeit einordnen und die skizzierten widersprüchlichen Anforderungen in ihre professionellen Handlungsorientierungen integrieren. Vor diesem Hintergrund wird im vorliegenden Beitrag Deutungs- und Handlungswissen Professioneller im Feld der Schwangerschaftskonfliktberatung exemplarisch herausgearbeitet.
Im Folgenden werden zunächst einige Aspekte der Debatten um Abtreibungen und die Entwicklung der Beratungsregelung zusammengefasst, um den Kontext der Untersuchung weiter zu konkretisieren (Kap. 2). Anschließend wird kurz die Organisation Pro Familia vorgestellt und eingeordnet (Kap. 3), um dann die qualitative Untersuchungsperspektive zu erläutern (Kap. 4). In den folgenden beiden Abschnitten werden ausgewählte Passagen aus Expert*inneninterviews mit Fachkräften von Pro Familia analysiert. Hierbei zeigen sich zum einen widersprüchliche Handlungsorientierungen zwischen Legitimation und Abgrenzung von der Pflichtberatung (Kap. 5). Zum anderen werden Perspektiven der Professionellen und ihre Haltungen zum politischen Diskurs über Abtreibung und die Beratungsregelung sichtbar (Kap. 6). Abschließend wird der Frage nachgegangen, inwiefern die herausgearbeiteten Deutungen der Beratungsfachkräfte auf Therapeutisierungsprozesse und Subjektivierungsweisen der Gegenwartsgesellschaft zurückzuführen sind (Kap. 7).
2 Körperpolitik verhandelt – die Beratungsregelung als Kompromiss?
Der Begriff Abtreibung ist aufgrund vielfältiger Debatten bedeutungsgeladen und „Bestandteil der Geschichte der weltanschaulich-moralischen und politischen Auseinandersetzungen“ (Busch/Hahn 2015: 8). Im deutschsprachigen Raum findet er sich gegenwärtig vor allem als politischer Kampfbegriff mit konträren Deutungen. So wird er von Abtreibungsgegner*innen eindeutig ablehnend oder abwertend verwendet, während er zugleich eine zentrale Rolle für emanzipatorisch-feministische Zusammenhänge spielt (Krolzik-Matthei 2019). Sowohl in der Umgangssprache als auch in politischen Debatten wird in den letzten Jahren auch von Schwangerschaftsabbrüchen gesprochen. In diesem Beitrag werden beide Begriffe synonym verwendet. Ferner werden möglichst geschlechtsneutrale Formulierungen gewählt.1
Eine selbst gewünschte Abtreibung ist in Deutschland derzeit nur dann straffrei, wenn die in § 218a StGB genannten Voraussetzungen gegeben sind. Hierzu gehört vor einem möglichen Eingriff unter anderem die verpflichtende Inanspruchnahme einer Beratung bei einer dafür ausgewiesenen Beratungsstelle, wenn keine medizinische oder kriminologische Indikation vorliegt. Rahmenbedingungen und inhaltliche Vorgaben dieser Beratung sind in § 219 StGB und dem sogenannten Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) geregelt.2 Die hier vorgesehene Fristenregelung in Verbindung mit der Pflicht zur Beratung gilt als Kompromisslösung, nachdem mit der deutschen Wiedervereinigung zwei unterschiedliche rechtliche Regelungen und Rechtsauffassungen zu Abtreibungen miteinander verhandelt werden mussten. In der DDR konnten laut dem 1972 beschlossenen „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“, das Schwangerschaftsabbrüche außerstrafrechtlich regelte, Abtreibungen auf Wunsch der schwangeren Person innerhalb der ersten zwölf Wochen ohne Beratungspflicht legal durchgeführt werden. In der BRD galt hingegen seit 1976 eine Indikationenregelung mit Beratungspflicht (Busch/Hahn 2021: 91ff.). Straffreiheit galt demnach nur, wenn sich Betroffene vor dem Eingriff beraten ließen und zugleich eine von vier Indikationen vorlag: eine medizinische, eine sogenannte eugenische, eine kriminologische oder eine durch eine soziale oder persönliche Notlage begründete. Alle Indikationen mussten von Ärzt*innen festgestellt werden, die später nicht den Abbruch vornehmen durften. Ein Schwangerschaftsabbruch hing also grundsätzlich von einer medizinischen Entscheidung und einer beraterischen Beurteilung ab (Busch/Hahn 2021: 91).
Nach intensiven Debatten und Auseinandersetzungen und vorübergehend wirksamen gesetzlichen Regelungen wurde schließlich 1995 das Schwangeren- und Familienhilfe-Änderungsgesetz (SFHÄndG) verabschiedet (BGBl. I S. 1050), durch das unter anderem das seit 1992 geltende Gesetz über „Aufklärung, Verhütung, Familienplanung und Beratung“ (BGBl. I S. 1398) in „Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (Schwangerschaftskonfliktgesetz – SchKG)“ umbenannt wurde. In diesem Gesetz werden verschiedene Aufgaben wie Sexualaufklärung, allgemeine Schwangerschaftsberatung und die Pflichtberatung vor einem gewünschten Schwangerschaftsabbruch geregelt. Die postulierte Ergebnisoffenheit der Beratung (§ 5 Abs. 1 SchKG) steht dabei in einem Spannungsverhältnis zum Strafgesetzbuch, in dem die Fortführung einer Schwangerschaft und der Schutz des ungeborenen Lebens als anzustrebendes Ergebnis der Beratung formuliert sind (§ 219 StGB).
Für Aktivist*innen der westdeutschen Frauenbewegung stellte die Neuregelung von 1995 zwar keine optimale Lösung dar, jedoch wurde sie als deutliche Verbesserung gegenüber der vorher geltenden Indikationenregelung wahrgenommen. Für Aktivist*innen und Menschen aus der DDR hingegen stellten sich die für sie neue strafrechtliche Fixierung und der schwierigere Zugang zu einem Abbruch als ein Eingriff in das bisherige Selbstbestimmungsrecht dar. Politik, Wissenschaft, Medien, Ärzt*innenschaft und Beratungsverbände arrangierten sich letztendlich mit der Neuregelung, die in ihren Grundsätzen bis heute gültig ist (Busch/Hahn 2021: 96f.).
3 Der Fachverband Pro Familia
In Deutschland wird die Schwangerschaftskonfliktberatung in Einrichtungen von konfessionellen sowie nicht konfessionsgebundenen Wohlfahrtsverbänden und anderen freien Trägern und Vereinen angeboten (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2022: 15f.). In diesem Beitrag wird der Fokus auf Pro Familia, einen nicht konfessionsgebundenen, bundesweit, auf Länderebene und in kommunalen Kontexten agierenden Verband gelegt. Pro Familia wurde 1952 in Westdeutschland gegründet mit dem Ziel, den Zugang zu Verhütungsmitteln zu erweitern. 1973 beteiligte sich die Organisation dann mit der Einrichtung von 26 Modellberatungsstellen an dem Bundesprogramm „Ergänzende Maßnahmen zur Reform des § 218“ (Pro Familia Magazin 2012/1: 3f.). Im Hinblick auf die Schwangerschaftskonfliktberatung positioniert sich der Verband im Sinne eines rechtebasierten Ansatzes dafür, dass Schwangere über die Fortführung oder den Abbruch einer Schwangerschaft selbstständig bestimmen können. Dabei zeigt sich aus Sicht des Verbands für die in der Beratung tätigen Fachkräfte eine „Gratwanderung […] zwischen Pflicht und Freiwilligkeit, zwischen Ergebnisoffenheit und gesetzlich festgelegten Zielen, zwischen Legalität und Illegalität“ (Pro Familia 2017: 15). Beschrieben wird damit ein nicht auflösbares Spannungsverhältnis zwischen einer rechtlichen Vorgabe (Pflicht) und dem Freiwilligkeitspostulat von Beratung, dem die Professionellen verpflichtet sind. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwiefern es dadurch zu einer Engführung der eigentlich ergebnisoffenen Beratungssituation kommen kann. Dabei schwingt implizit der gesellschaftliche, rechtspolitische und ethische Konflikt zwischen dem Schutz von ungeborenem Leben einerseits und dem Selbstbestimmungsrecht von Schwangeren andererseits mit. Die Tätigkeit in der Schwangerschaftskonfliktberatung bei Pro Familia ist demnach durch eine widersprüchliche Ausgangssituation gekennzeichnet, in der die Organisation sich eindeutig kritisch gegenüber gesetzlichen Vorgaben positioniert. Aufgrund dieser expliziten Positionierung wurde Pro Familia für die Untersuchung ausgewählt.
1 Im Mittelpunkt der Debatte um Abtreibungen stehen zumeist Frauen, jedoch sind davon alle Menschen mit Uterus betroffen, z. B. also auch Menschen mit einer trans*, inter* oder nichtbinären geschlechtlichen Positionierung. Wenn im Folgenden Bezug zu einzelnen Interviewpassagen genommen wird, orientiert sich die Wortwahl an der zitierten Sequenz.
2 www.gesetze-im-internet.de/beratungsg/BJNR113980992.html [Zugriff: 26.04.2023].
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