„Intersektionale Solidaritäten“: Leseprobe

Leseprobe Mertlitsch Intersektionale Solidaritäten

Eine Leseprobe aus Intersektionale Solidaritäten. Beiträge zur gesellschaftskritischen Geschlechterforschung von Kirstin Mertlitsch, Brigitte Hipfl, Verena Kumpusch und Pauline Roeseling (Hrsg.), Kapitel „Intersektionale Solidaritäten: Einleitung“.

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Intersektionale Solidaritäten: Einleitung

Kirstin Mertlitsch, Brigitte Hipfl, Verena Kumpusch und Pauline Roeseling

 

1) Vorweg

Ugly Duckling @WhatIf „Wenn Ihr Laverne Cox und Chelsea Manning als #transgender akzeptiert, müsst Ihr #Saraswati als #transracial akzeptieren.“

Imperator Nadia mit Abstand bester Account @shehadistan „transracial ist für mich eine Liga mit trans-vermögend oder trans-berühmt: Es existiert nicht wenn es nicht existiert! Leute wie Saraswati müssen dringend aufhören, trans Menschen zu verhöhnen indem sie sich Begriffe für ihre problematischen Identitätskonstrukte aneignen!“

Julius Eisenhauer@Bismarckratte „Das habt ihr davon, wenn ihr anfangt, Geschlecht jeden Tag einfach neu zu wählen.“ #transracial

Joerg Scheller @joergscheller1 „Kommt nun die Ära von transrace?“ Die Antwort ist simpel: Es hat nie etwas anderes gegeben als „Transrace“. Klar umreissbare Identitäten, Rassen, Ethnien waren immer schon Fiktionen.“

Noel Parasan! @RechteStattRechts „Gender und Race sind nicht das Selbe.“ #transracial (Sanyal 2021: 152-153)

Dieser Chatverlauf aus dem Buch Identitti von Mithu Sanyal steht exemplarisch für die komplexe Frage: Was sind Identitäten? Eine einfache Antwort auf diese existentielle Frage ist im Text von Sanyal nicht zu finden. Der Roman handelt von einer Professorin, die an der Universität Düsseldorf im Studiengang „Intercultural Studies/Postkoloniale Theorie“ unter dem Namen Saraswati lehrt und sich dabei selbst als BIPoC identifiziert (Black, Indigenous and People of Color). Gleich am Beginn des Romans stellt sich heraus, dass Saraswati eigentlich Sarah Vera Thielmann heißt, aus Karlsruhe kommt und so weder Migrationserfahrung noch BIPoC-Geschichte vor- bzw. nachweisen kann. Sanyal pointiert in ihrem Roman, dass das Thema des Buches exemplarisch für die Konflikte steht, die aus den Fragen nach Identität und Identitätspolitiken hervorgehen: „Ist Saraswati nun gar nicht Saraswati? Kann ein Mensch sich aussuchen, weiß, of Color oder Schwarz zu sein? Kann die individuelle Antwort eines Menschen hinsichtlich seiner Identität richtig oder falsch bewertet werden? Und allem voran steht die Frage: Wer hat darüber die Deutungshoheit?“ (Sanyal 2021: 360-361)

Eine Buchpräsentation von Identitti mit der Autorin Mithu Sanyal bildete den Auftakt der Online-Tagung A p a r t – Together – Becoming With! Gesellschaftskritische Geschlechterforschung als Beitrag zu einer Allianz für die Zukunft, die 2021 an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt stattfand. Diskutiert wurden Fragen der Identität, ein zentrales Thema im Kontext der Geschlechterforschung, und auch ein zentraler Bezugspunkt dieses Tagungsbandes, der sich mit gesellschaftskritischer Geschlechterforschung und möglichen Allianzen für die Zukunft auseinandersetzt: Inwiefern sind Allianzen und Solidaritäten in einem postidentitären Zeitalter möglich? Oder anders gefragt: Wie und welche (queerfeministischen) Bündnisse und Allianzen können geschlossen werden, wenn keine starren Identitätskonzepte – wie beispielsweise ein „Wir-Frauen“ – mehr bestehen? Sind Intersektionale Solidaritäten möglich? Und wo liegen Gemeinsamkeiten, Hürden und Potentiale solcher (queerfeministischen) Allianzen? Welche Möglichkeiten und Grenzen tun sich in intersektionalen Vergemeinschaftungs- und Solidaritätsprozessen auch im Sinne des Mit-Seins und Mit-Werdens auf – vor allem in Hinblick auf die aktuellen Krisen? Was ist das Verbindende solcher Solidaritäten und Allianzen?

Eine mögliche Antwort zu dieser Frage gibt Sanyal am Ende ihres Romans, indem sie den theoretischen Ansatz der „Verletzlichkeit“ von Judith Butler aufgreift:

[W]as uns alle verbindet, [ist] unsere Verletzlichkeit … Menschsein heißt Verletzlichsein. Aber wir sind nicht nur im Schmerz vereint, wir sind auch in der Liebe vereint. Im Interesse aneinander, in Empathie und Anteilnahme. Wir alle sind dadurch alle. Wir alle sind viele. Wir alle sind alle Geschlechter, alle races, alle Klassen, alle Kasten, wir alle sind ganz unreligiös das Wunder der Schöpfung, und als solches sollten wir zwischendurch ab und zu innehalten und den Schauer der Ehrfurcht vor unserer komplexen Existenz verspüren. (Sanyal 2021: 416-417)

Sanyal spricht die Komplexität unserer Existenzen an und macht deutlich, dass wir durch verschiedene soziale Dimensionen wie Geschlecht, Rassifizierung, Ethnisierung Klassen, Kasten, Religion etc. mitbestimmt werden. „Wir alle sind durch alle“ und „wir alle sind viele“. Wir sind durch Verletzlichkeiten und durch Abhängigkeiten miteinander verbunden, die aber oft nicht entsprechend wahrgenommen und als existenzielle Voraussetzung anerkannt werden. Die Vielschichtigkeit und Komplexität von Existenzweisen und deren Diskriminierungen, die die Autorin thematisiert, werden in der aktuellen Geschlechterforschung als Intersektionalität nach Kimberlé W. Crenshaw (1989) bezeichnet. Intersektionalität bedeutet, dass verschiedene Diskriminierungsdimensionen nicht voneinander isoliert, sondern in ihren Verwobenheiten betrachtet werden. Intersektionalität wird somit zum Dreh- und Angelpunkt der Frage, wie Gemeinsamkeiten trotz Differenzen hergestellt werden können. Die Beiträge in diesem Buch diskutieren die Potenziale, Herausforderungen und Spannungsfelder queerfeministischer, antirassistischer und intersektionaler Bündnisse in ihren lokalen, regionalen und globalen Verbundenheiten.

 

Danksagung

Dieses Buch wäre ohne Interesse des Budrich Verlags an der Tagung A p a r t – Together – Becoming With! und der Anfrage für einen Tagungsband nicht entstanden. Wir bedanken uns daher beim Budrich Verlag, insbesondere bei Vivian Sper und Philip Bergstermann.

Vor allem bedanken wir uns bei allen Autor*innen für die professionelle und kollegiale Zusammenarbeit. Dank gilt auch dem Tagungsteam, insbesondere Gabriele Dietze und Claudia Brunner, Noreen Schneiders und Marco Messier sowie Pauline Roeseling, die auch die Publikation von Anfang an betreut hat. Nicht zuletzt möchten wir uns bei unserer Lektorin Brigitte Geiger, bei Malina Mertlitsch für die Covergestaltung und bei allen Fördergeber*innen bedanken, die im Impressum gesondert aufgeführt sind.

 

2) Ausgangspunkte und Kontexte

Einleitend werden Elemente intersektionaler Solidaritäten befragt und dabei Zugänge für ein solidarisches Miteinander aus einer queerfeministischen und genderspezifischen Perspektive diskutiert, die den Ausgangspunkt für Solidaritäten nicht mehr in einer weltweiten Frauen*- oder Geschlechtsidentität verankern. Diese Skzizzierung Intersektionaler Solidarität behandelt das Thema aus historischen und gegenwärtigen Perspektiven und stellt Bezüge zu den Texten dieses Sammelbandes her. Dabei orientiert sich der Aufbau am Titel der Tagung A p a r t – Together – Becoming With!. In einem ersten Schritt wird thematisiert, dass sich Intersektionale Solidarität in einem Spannungsfeld zwischen Unterschieden und Gemeinsamkeiten („Apart-Together“) und Identitätspolitik und Dekonstruktion bewegt. Daran anschließend werden im zweiten Abschnitt Beweggründe für Solidaritäten, die vor allem durch verschiedene Emotionen und Affekte hervorgerufen werden, besprochen. Im dritten Abschnitt („Becoming With“) wird gezeigt, dass Solidaritäten keine gleichbleibenden Bündnisse sind, sondern sich transformieren, und ein „Solidarisch Werden“ Möglichkeiten eröffnet, sich selbst und die Beziehungen zu anderen zu verändern.

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3D Cover Intersektionale Solidaritäten 150 pxKirstin Mertlitsch, Brigitte Hipfl, Verena Kumpusch, Pauline Roeseling (Hrsg.):

Intersektionale Solidaritäten. Beiträge zur gesellschaftskritischen Geschlechterforschung

auch im Open Access verfügbar

 

 

 

Die Herausgeber*innen

Mag.a Dr.in Kirstin Mertlitsch ist Senior Scientist und Leiterin des Universitätszentrum für Frauen*- und Geschlechterstudien, Universität Klagenfurt. Sie lehrt und forscht im Bereich Gender- und Queer Studies, Intersektionalitäts- und Diversitätsforschung, New Materialism und Kritischer Posthumanismus

Dr.in Brigitte Hipfl ist ao.Prof.in i.R. am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Universität Klagenfurt. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Gender Media Studies und den affektiven Dynamiken von Medien, insbesondere im Hinblick auf Migration, Konvivialität. Solidarität und Erinnerungsarbeit.

Pauline Roeseling, B.Sc. ist Studienassistentin am Universitätszentrum für Frauen*- und Geschlechterstudien, Universität Klagenfurt. Aktuell arbeitet sie an ihrer Masterarbeit im Fach Psychologie und forscht zu Bisexualität, Exklusion und Verbundenheit.

Verena Kumpusch ist Sozialpädagogin und wissenschaftliche Schreibtrainerin. Im Rahmen ihrer Dissertation lehrt und forscht sie u. a. zu Wissensverhältnissen hinsichtlich Gender, Queer, Intersektionalität und Diversität in Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozessen und ist an verschiedenen Hochschulen in Österreich tätig.

 

Über „Intersektionale Solidaritäten“

Verbündet-Sein, Vernetzung und Vergemeinschaftung: Diese Konzepte sind in jüngster Zeit wieder in den Mittelpunkt (queer-)feministischer, genderspezifischer und intersektionaler Theorien und Praktiken gerückt. Die Beiträge des Buchs thematisieren Erfolge und Herausforderungen queer-feministischer, antirassistischer und intersektionaler Bündnisse in ihren lokalen, regionalen und globalen Verbundenheiten.

 

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© Titelbild: gestaltet mit canva.com