Eine Leseprobe aus Lebenswelten – Lebensräume: Auf den Spuren junger Menschen in der Großstadt im 21. Jahrhundert von Jennifer Hübner, Kapitel „Vorwort der Herausgeberin“.
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Vorwort der Herausgeberin
„[D]iese Unterschiede zwischen der kindlichen und der erwachsenen Großstadtwelt gehen noch viel weiter. Während die dinglichen Gegebenheiten in den einzelnen Großstadt-Raumteilen von uns zumeist in ihrer Bezogenheit auf eine bestimmte (eben die erwachsene) Sachwelt gelebt werden […], ist das Kind in diese durchaus „erwachsene Welt“ nur schlecht eingepasst. Seiner Struktur gemäß werden daher die Gegebenheiten dinglicher Art in stärkstem Maße „umgelebt“. (Muchow/Muchow 1935, S. 160 in Behnken/Honig 2012)
Der vorliegende Sammelband bildet die zentralen Befunde einer zweijährigen Studie zu den Lebenswelten und Sozialräumen junger Menschen zwischen sechs und 27 Jahren in einer deutschen Großstadt ab. Am Beispiel des Berliner Stadtbezirks Tempelhof-Schöneberg wird herausgestellt, wie sich Kinder und Jugendliche im 21. Jahrhundert in einer verdichteten Stadt sozialräumlich bewegen und welche Plätze und Orte für sie im öffentlichen und halböffentlichen Raum wie relevant werden und welche Funktion sie dabei einnehmen. Raum wird in diesem Verständnis als Bildungspartnerin (in) der (außerschulischen) Jugendbildung gesehen (vgl. Münderlein 2020, S. 16ff.).
„Als gewissermaßen ‚unsichtbarer‘ Teil aller Bildungsaktivitäten stellt der Einfluss des Raumes analytisch eine querliegende Kategorie dar, die sich leicht der Wahrnehmung entzieht und auch im Zusammenspiel von Vertreter/-innen verschiedener Professionen wie Schule und Jugendbildung […] bedacht werden sollte.“ (Münderlein 2020, S. 19)
‚Raum‘ fungiert in dem Forschungsprojekt als Leitperspektive und erfährt mindestens zweierlei Bedeutungen: Erstens zählen Orte und Räume zu den genuinen Samplingbausteinen des Forschungsdesigns. Beforscht wurden der öffentliche und halböffentliche Raum sowie Angebote der außerschulischen Kinder- und Jugendbildung. Letzteres wird in dem Sammelbuch als Bildungsraum tituliert. Der Terminus verdeutlicht die dem Forschungsdesign zugrunde liegende Ausgangsperspektive, dass viele junge Menschen neben den Sozialisationsinstanzen Familie und Schule auch hier ihre Lebenswelt gestalten. Jugendarbeit gilt daher „als Lebensort“ (Böhnisch et al. 1998, S. 3) und eigenständiges Demokratiebildungsangebot (in) der Jugendphase, das auf Mündigkeit und Emanzipation und nicht (nur) auf Kompensation und Not rekurriert.
Zweitens dient der Raumbegriff in der Theorie und Methodologie des Forschungsprojektes als zentrales, sensibilisierendes Konzept. Als Bezugsrahmen bietet sich Raum als relationaler Sozialraumbegriff auch deswegen an, da die „[s]ozialräumliche Orientierung […] die Aneignungschancen und -möglichkeiten von Kindern und Jugendlichen in ihren sozialen Räumen als zentralen Bezugspunkt der Ausrichtung von Jugendarbeit“ (Krisch 2009, S. 7) perspektiviert. Raum als Leitkategorie bietet also ein doppeltes Potenzial und verschränkte in dem Forschungsprojekt sowohl in der Erhebungs- als auch Auswertungsphase beide hier benannten Ansätze.
In einem praxisforschenden Setting wurden unter Einsatz eines methodenpluralen Erhebungsdesigns (Ethnografie, Interviews etc.) fünf verschiedene Sozialräume aus einer relational-raumsoziologischen Perspektive rekonstruktiv beleuchtet und miteinander ins Verhältnis gesetzt. Ausgangspunkt war die räumlich-territoriale Struktur, die durch die kommunale Verwaltung festgelegt ist und in Berlin in sogenannte Bezirksregionen mündet.1
Die Forschung möchte damit an die Studie von Martha und Heinz Muchow aus dem Jahr 1935 in Hamburg anknüpfen. Mit ihrer besonderen Herangehensweise kam ihrer Studie in der lebensweltlichen Raumforschung eine bedeutsame Schlüsselrolle zu. Auch sie stellten die Frage nach dem „Raum, in dem das großstädtische Kind lebt?“ (Muchow/Muchow 1935, S. 80 in Behnken/Honig 2012). In die Tradition ihres räumlichen Zugriffs auf die Gestaltung von Lebenswelten junger Menschen stellte sich das Forschungsprojekt.
Auftraggeberin der Studie war das Jugendamt Tempelhof-Schöneberg. Gleichwohl es sich damit um eine Form von Auftragsforschung handelt(e), ging es den Forschenden in ihrer Umsetzung weniger darum ,nur‘ das abzubilden, ‚was ist‘. Vielmehr sollten die Interessen und Bedarfe junger Menschen rekonstruiert werden, um fernab eines jugendpolitischen Legitimationsdrucks Impulse zur Prüfung und ggf. Erweiterung einer lebensweltorientiertem Infrastruktur zu liefen. Es sollte „ein Wissen generiert werden […], das MitarbeiterInnen bei der Klärung, Darstellung und Weiterentwicklung von Konzeptionen und pädagogischen Interventionskonzepten unterstützt.“ (Scherr 2011, S. 211)
An der Studie waren sowohl Wissenschaftler:innen als auch Praktiker:innen beteiligt, die sich mit Blick auf ihre Erfahrungen in Beruf und Ehrenamt als Expert:innen der außerschulischen Kinder- und Jugendbildung verstehen. Studierende eines sozialpädagogischen Masterstudiengangs der Alice-Salomon-Hochschule Berlin wirkten an dem Forschungsprojekt ebenfalls mit. Ihnen wurde mit diesem Sammelband ebenfalls die Möglichkeit gegeben, ihre Ergebnisse skizzenhaft zu präsentieren.
Das Buch untergliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil wird das der Untersuchung zugrunde liegende Forschungsdesign vorgestellt, zu der die üblichen Parameter Einleitung, Erkenntnisinteresse und Praxisrelevanz, Theorie und Forschungsstand, Ausführungen zur Methodologie und Methoden, das Sampling, Hinweise zu den Gütekriterien und Explikationen zur Ethik zu zählen sind. Diese Darstellung ermöglicht es interessierten Lesenden, Impulse für eigene Ansätze (in) der Praxisforschung zu erhalten und können weitergenutzt werden.
Der zweite Teil stellt die Ergebnisse der Untersuchung in den Mittelpunkt. Er ist unterteilt in fünf Abschnitte, welche die verschiedenen Sozialräume (Bezirksregionen) skizzieren. Vera Prieß stellt die Bezirksregion Mariendorf vor, welche als „Region im Winterschlaf“ zwar eine Vielzahl an Grünflächen aufweist, nicht jedoch ausreichend Spiel- und ausgewiesene Aneignungsflächen für junge Menschen im öffentlichen Raum. Janice Baars beschäftigt sich wiederum in ihrem Kapitel mit dem halböffentlichen Raum Mariendorfs und reflektiert hier den öffentlichen Personnahverkehr (ÖPNV) und kommerzielle Räume. Vera Prieß und Erik Theuerkauf schließen mit Ausführungen zu „Autonomen Jugend(t)räumen“ das Unterkapitel ab. Es folgt der Abschnitt zum Sozialraum Friedenau, den Till Dahlmüller als Quartier der Gegensätze illustriert. Auch deswegen trägt dieses Kapitel den Titel „Das ruhigere Viertel – zwischen Überschaubarkeit und Unsichtbarkeiten“. Lea Thomes setzt sich im Anschluss daran mit den dortigen Praktiken im halböffentlichen Raum auseinander und greift dabei auf Beobachtungen in einem größeren Einkaufscenter zurück. Vera Prieß und Erik Theuerkauf skizzieren für Friedenau abschließend die Entwürfe von „(Un)verplanten (Frei)zeiten“ als Ergebnis einer Zukunftswerkstatt. Melissa Manzel wiederum beschäftigt sich in dem dritten Unterkapitel mit dem urbanen und städtebaulich stark verdichteten Sozialraum Schöneberg Süd und bezeichnet ihn als eine „Lebhafte Region mit vielen Facetten.“ Melisa Avsar und Elmas Wieszorek folgen mit ihren Ausführungen zum halböffentlichen Raum. Vera Prieß und Erik Theuerkauf schließen mit Illustrationen zu „(Un)attraktiven und (un)gefährlichen Räumen“ aus Kinder- und Jugendperspektive ab. Das vierte Unterkapitel stellt den Sozialraum Schöneberg Nord vor. Erik Theuerkauf bezeichnet das Quartier als „umtriebig“ und betitelt den Abschnitt mit „Lokalen Perspektiven zwischen Beharrlichkeit und Mobilität“. Lukas Seubert folgt mit Gedanken zum halböffentlichen Raum und reflektiert das Aufgebot im Rekurs auf den öffentlichen Personennahverkehr. Danach perspektivieren Vera Prieß und Erik Theuerkauf das Quartier als „(Un)sichere[s] (Mit)Erleben“ aus Sicht der jungen Menschen. Im letzten Unterabschnitt beschäftigt sich Anna Schreiber mit dem Sozialraum Tempelhof und bezeichnet ihn als Stadtteil „Zwischen Ruhe und Aufbruch“. Hier leben vergleichsweise viele junge Menschen unter 18 Jahren. Pelin Sor führt daran ihre Beobachtungen im halböffentlichen Raum aus. Vera Prieß und Erik Theuerkauf beenden das Kapitel mit Reflexionen zu „Alters(un)spezifischen SpielRäumen“ in Tempelhof.
Das dritte Kapitel umfasst eine Gesamtschau der Ergebnisse zu den Lebenswelten und Sozialräumen junger Menschen im Bezirk. Eine Analyse der Kinder- und Jugendarbeit im digitalen Raum wird den Ausführungen vorangestellt. Mareen Claus widmet sich dazu den Ergebnissen einer quantitativen Teil-Erhebung, in der sie die Aktivitäten der Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen näher beleuchtet (u.a. Instagram, Website). Im Anschluss fasst die Gruppe der Forschenden ihre Ergebnisse zusammen und bilanziert ihre zentralen Befunde sozialraumübergreifend. Das Buch schließt mit handlungspraktischen Implikationen für die soziale Infrastruktur vor Ort ab.
Der Dank geht an alle an dem Forschungsprojekt Beteiligten, zuvorderst an die jungen Menschen, welche Interesse und Muße hatten, die Forschenden an ihrer Lebenswelt teilhaben zu lassen. Gleiches gilt für die Bereitschaft der Fachkräfte. Der Dank geht ebenso an das auftraggebende und mittelbereitstellende Jugendamt sowie das gesamte Team der Forschenden.
Jennifer Hübner
(Herausgeberin)
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1 Hierbei erfolgt eine Orientierung an den Planungsräumen und Kurzprofilen des Bezirksamtes Tempelhof-Schöneberg. Im Oktober 2021 sind diese Profile und die Einteilung der Bezirksregionen in Planungsräume in überarbeiteter Form veröffentlicht worden. Die Quellenangaben in dem vorliegenden Bericht beziehen sich auf die Bezirksprofile und Planungsräume vor dieser Überarbeitung, also mit Stand September 2021.
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Jennifer Hübner:
Soziale Arbeit und sozialer Raum, Band 7
→ Interview mit Jennifer Hübner
Jennifer Hübner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Alice-Salomon-Hochschule und Doktorandin am Promotionszentrum für Soziale Arbeit in Hessen.
Über „Lebenswelten – Lebensräume“
Wie erleben Kinder und Jugendliche großstädtische Sozialräume? Wie gestalten sich ihre urbanen Lebensräume und -welten? Welche Raumaneignungspraxen nutzen junge Menschen zwischen sechs und 27 Jahren in ‚ihrer‘ Stadt? Das hier abgebildete Forschungsprojekt illustriert die Potenziale und Herausforderungen in den Lebenswelten und Sozialräumen junger Menschen am Beispiel eines Berliner Stadtbezirkes und fragt, welche Handlungsempfehlungen sich aus den Beobachtungen für die Gestaltung des öffentlichen Raums und für die Kinder- und Jugendarbeit als außerschulischer Bildungsraum ableiten lassen. Die sozialraumübergreifende, empirische Studie bietet damit nicht nur einen wichtigen Beitrag zum Qualitätsmanagement und zur Professionalisierung der Kinder- und Jugendarbeit vor Ort und darüber hinaus, sondern zeigt exemplarische Impulse für die Kinder- und Jugendhilfeplanung von Kommunen.
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