Eine Leseprobe zum Thema Bertolt Brecht und das epische Theater aus dem Soziologiemagazin, Heft 1-2023.
***
Von der Entfremdung zur Verfremdung. Das epische Theater zwischen Kunst und Marxscher Sozialtheorie
Annabell Lamberth, Philip Dingeldey
Soziologiemagazin, Heft 1-2023, S. 41-64.
Zusammenfassung
Mit dem epischen Theater schuf Bertolt Brecht Anfang des 20. Jahrhunderts eine neue, experimentelle Form des Theaters, die darauf abzielt, die Zuschauer*innen zum distanzierten Nachdenken und Hinterfragen der Gesellschaft anzuregen, also nicht nur Soziales in Kunstform zu behandeln, sondern die Gesellschaft selbst in den Reflexionsprozess zu integrieren. Um dies zu erreichen, setzte er Techniken zur Desillusionierung und Verfremdung ein. Bei Brechts Stücken handelt es sich um Kunstformen, die sozial intervenieren und daher nicht nur der literatur- und theaterwissenschaftlichen, sondern auch der sozialwissenschaftlichen Betrachtung bedürfen. Hierzu liest der vorliegende Aufsatz den Künstler Brecht als Sozialtheoretiker und untersucht, inwiefern die Entfremdungsproblematik bei Marx und die Verfremdung bei Brecht in Verbindung stehen und inwieweit die Verfremdungseffekte die Entfremdungsproblematik zu lösen versuchen. Methodisch wird theorievergleichend und analytisch vorgegangen – was die Beziehung von Marx‘ Entfremdungstheorie und Brechts epischen Theater betrifft. Beispielhaft wird das Verhältnis von Ent- und Verfremdung anhand des Stücks Der gute Mensch von Sezuan beleuchtet.
Schlagwörter
Theater; Entfremdung; Verfremdung; künstlerische Intervention; Marxismus
Brecht: Gesellschaft und Theater
Die Frage nach dem Verhältnis von Theater und Soziologie ist nicht neu. Bereits in den 1970er Jahren kam Uri Rapp (1973, S. 12) zu dem Schluss, das Theater hege „eine spezifische Beziehung zu der Gesellschaft“ die nicht mit anderen Künsten und auch nicht anderen Querschnitt-Soziologien vergleichbar ist. Daher soll der vorliegende Beitrag auf eine spezielle Form des Theaters und seiner sozialen Rolle eingehen: das epische Theater nach Bertolt Brecht. Er wäre dieses Jahr 125 Jahre alt geworden. Die Feierlichkeiten waren ein Großevent – was nicht verwundert, ist Brecht doch nicht nur als gesellschaftskritischer Autor, sondern auch als Theatertheoretiker bekannt, der mit dem epischen Theater Anfang des 20. Jahrhunderts eine experimentelle Theaterform entwickelt hatte. Diese zielt nicht nur darauf ab, Soziales in Kunstform zu behandeln, sondern die Gesellschaft und die politische Positionierung von Inhalten und Protagonist*innen selbst in den Reflexionsprozess zu integrieren.
Daher sollen die enthaltenen gesellschaftlichen Implikationen sozialtheoretisch untersucht werden. Brecht wird nachfolgend nicht nur als Dichter, sondern auch als Sozialtheoretiker gelesen, insofern seine realistische Ästhetik „die Welt dort bloßlegt, wo in ihre Prozesse gesellschaftlich eingegriffen werden, kann“ (Bertolt Brecht. Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, XXII/I, S. 816).
Brechts theatertheoretisches Ziel war es das klassisch-aristotelische Theater mittels Techniken zur Desillusionierung und Verfremdung weiterzuentwickeln1, das Publikum aus der Passivität zu befreien und zum distanzierten Hinterfragen der Gesellschaft anzuregen (Zapf, 1988, S. 352-353). Gesellschaftliche Ungerechtigkeiten sollen derart künstlerisch verarbeitet werden, dass die Rezipient*innen gleichermaßen Kunst genießen und den Inhalt sozialkritisch hinterfragen. (Koller, 1979, S. 15). Damit ist das epische oder experimentelle Theater weiterhin eine Kunstform, die deutlich von der Wechselwirkung zwischen Literatur, Theater, Gesellschaftskritik und marxistischer Sozialtheorie lebt. Bei Brechts Stücken handelt es sich um Kunstwerke, die sozial intervenieren, und daher auch der sozialwissenschaftlichen Betrachtung bedürfen.
Hintergrund seines Schaffens waren die sozialen und politischen Transformationen Anfang des 20. Jahrhunderts. Zentral für Brecht war die Kritik am Kapitalismus, den er als ausbeuterisch, repressiv, extrem und Not verursachend verstand (BFA, XXII/I, S. 72-73). Doch in seinem Werk werden einzelne historische Ereignisse nicht immer explizit behandelt; vielmehr werden soziale Verhältnisse, in der Gewalt und Ausbeutung herrschen, verfremdet dargestellt, auch um das sozialkritische Theater vor dem eigenen Verfall durch Einfühlung in Protagonist*innen zu retten (BFA, XXIII, S. 80). Die Unterdrückung großer Volksmassen, die zwangsläufige Kommodifizierung von Kunst, Bildung, Fähigkeiten und Kenntnissen aller Art, all dies würde das öffentliche Leben und mit ihm auch das Theater verderben. (BFA, XXIII, S. 65) Doch sieht er auch ein großes Potenzial für das Theater mittels neuer Techniken wahre und unverfälschte Darstellungen des Lebens zu vermitteln. Wie Karl Marx kritisiert Brecht den Kapitalismus als materielle Antriebskraft, welche ausbeuterische und ungerechte Produktions- und Klassenverhältnisse hervorbringt. Die marxistische Prägung führt schließlich zur materialistisch-dialektischen Ausrichtung seiner Theatertheorie. Brechts Marxismus beinhaltet die Idee der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse durch das Aufzeigen sozialer und ideologischer Widersprüche. Brecht, der in seinem OEuvre Gesellschaft, Politik und Literatur als Eins dachte, sieht Erklären als Voraussetzung für Veränderung und auch als Aufgabe des Theaters. (Dingeldey, 2015, S. 13) Handeln müssen aber letztlich die Zuschauer*innen selbst.2
Dies versucht er mit dem Stilmittel der Verfremdung zu erreichen, das Vertrautes in einem befremdlichen Licht erscheinen lassen soll, um Betrachter*innen auf Widersprüche in der sozialen Wirklichkeit aufmerksam zu machen (BFA, XXII/I, S. 66-82). Die Abkehr vom Dominieren der Emotionen im klassisch-aristotelischen Theater zugunsten der Vernunft im epischen Theater deutet auf eine Reaktion auf die zunehmenden Rationalisierung im kapitalistischen Zeitalter hin. Brecht versucht mit seinem experimentellen Theater die kulturindustrielle Verschleierung gesellschaftlicher Missstände aufzudecken. Als Marxist hat Brechts OEuvre zumindest implizite Bezüge zur menschlichen Entfremdung im Kapitalismus. Doch wie ist die konzeptuelle Beziehung von Verfremdung und Entfremdung? Unsere These dazu ist: Brechts Verfremdung ist konzeptuell die Negation der Entfremdung, die vertraute Entfremdungssituationen, sprich die als solche nicht mehr bemerkte Entfremdung den Menschen bewusst macht, indem das Vertraute fremd gemacht wird.
In der sozialtheoretischen Forschung spielt diese These bislang keine Rolle, da Brecht (noch) nicht zum Kanon der Sozialtheorie oder der politischen Theorie gehört.3 In der theatertheoretischen und -geschichtlichen Forschung wurde diese Beziehung von Ver- und Entfremdung nur in wenigen kurzen Überblickswerken angedeutet, aber bislang nicht systematisch erforscht (Müller et al., 1985; Koller, 1979). Zudem geht es in der Forschung zu Brechts Verfremdung eher um theatertheoretische Arbeiten und Analysen, weniger um gesellschaftliche Implikationen, Konsequenzen und die marxistische Ideologiekritik. Auch Brecht selbst bezieht sich in seinen Sachtexten zwar häufig auf Marx, arbeitet aber selbst die (semantisch naheliegende) Beziehung von Ent- und Verfremdung nicht aus.
Um dies zu untersuchen, sollen zunächst die grundlegenden Aussagen der Entfremdungstheorie beim frühen Marx dargelegt und Brechts Theorie der Verfremdung erläutert werden. Daraufhin soll der Begriff der Entfremdung im Zusammenhang mit der Verfremdung diskutiert werden. Im Anschluss soll dies anhand des parabolischen Theaterstücks Der gute Mensch von Sezuan veranschaulicht werden. Abschließend werden die Ergebnisse im Fazit zusammengetragen.
Damit ist der vorliegende Artikel auch methodisch zweigeteilt. Zum einen wird theorievergleichend und analytisch vorgegangen – was die Beziehung von Marx‘ Entfremdungstheorie und Brechts Theatertheorie betrifft, die bislang kaum systematisch untersucht wurde. Zum anderen wird diese an einem literarischen Beispiel beleuchtet. Es handelt sich dabei um eine literatursoziologische Vorgehensweise, bestehend aus einer textimmanenten Analyse und Interpretation.
Marx und Brecht
Im Folgenden soll zuerst Marx‘ Begriff der Entfremdung erläutert werden. Die Bedeutung der Entfremdung soll aus ihrer Wirkung auf das Subjekt erschlossen werden. Im Anschluss soll Brechts Theatertheorie dargelegt werden. Dabei soll zuerst auf die Entstehung des epischen Theaters und den Unterschied zum klassisch-aristotelischen Theater eingegangen werden, um im Anschluss die Hauptmerkmale und Ziele des epischen Theaters zu erläutern.
Marx und die Entfremdung
Marx’ Begriff der Entfremdung hat seinen Ursprung im lateinischen Terminus alieniatio, was Entäußerung oder Veräußerung bedeutet. Den Ursprung des Konzepts findet Marx in der Erkenntnistheorie Georg W. F. Hegels (Knopf, 1996, S. 80). Die Entfremdung hat bei Marx zunächst eine ökonomische und rechtliche Bedeutung. Denn alienato bedeutet eine Übertragung von Eigentum und Recht. Marx greift den Begriff auf, um darzulegen, dass sich nur eine bürgerliche Rechtsordnung etablieren kann, wenn (im Kontraktualismus) die Individuen ihre natürlichen Rechte und Freiheiten zugunsten des staatlichen Kollektivs aufgeben. Die Aufgabe dieser Rechte ist der Anfang einer Entfremdung des Menschen von seinem Wesen (Schurig, 1999, S. 328). Ein Zusammenleben ist demnach scheinbar nur mittels Entfremdung möglich, doch führt es zu einer Zerrissenheit des Menschen, da die zwei Sphären des bürgerlichen/familiären und des politischen Lebens, Gesellschaft und Staat unvereinbar sind (Oppolzer, 1974, S. 24-25). Unter diesen Bedingungen steht das Gattungswesen des Menschen im Widerspruch zu seinem materiellen Leben (MEW, XL, S. 518). Der Unterschied zwischen Hegels und Marx’ Entfremdungsbegriff ist somit, dass Ersterer die Entfremdung als hauptsächliches Problem des Bewusstseins betrachtet, während Marx das Bewusstsein als Folge der materiellen Verhältnisse versteht. Folglich muss für Marx die Bewusstwerdung mit der Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse einhergehen. Marx stellt Hegel also vom Kopf auf die Füße, indem er Entfremdung als materielle Abhängigkeit ausweist (Marx Engels Werke, XXI, S. 293).
Marx gibt keine klare Definition der Entfremdung. Diese erschließt sich aber in seinen Ausführungen, insbesondere zum in mannigfaltiger Weise entfremden Proletariat (MEW, XL, S. 513).
Indem die entfremdete Arbeit dem Menschen 1. die Natur entfremdet, 2. sich selbst, seine eigne tätige Funktion, seine Lebenstätigkeit, so entfremdet sie dem Menschen die Gattung; sie macht ihm das Gattungsleben zum Mittel des individuellen Lebens. Erstens entfremdet sie das Gattungsleben und das individuelle Leben, und zweitens macht sie das letztere in seiner Abstraktion zum Zweck des ersten, ebenfalls in seiner abstrakten und entfremdeten Form. (MEW, XL, S. 516)
Der Mensch solle sein Wesen durch die Arbeit formen und damit sein Gattungswesen verwirklichen. Im Kapitalismus ist dieser Prozess gestört, da die Vergegenständlichung die Arbeiter*innen von ihren Produkten trennt, sprich entfremdet. In der Arbeitsteilung verlieren die Arbeiter*innen den Bezug zu ihrem Endprodukt. Außerdem gehört das Produkt nicht ihnen, sondern den Produktionsherr*innen. Diese geben den Arbeiter*innen gerade so viel, wie sie zum Überleben brauchen und reinvestieren den dadurch entstehenden Überschuss, um sich noch mehr Kapital anzueignen. So können Arbeiter*innen kein Kapital anhäufen (MEW, XL, S. 517). Sie haben nur ihre Arbeitskraft, die sie auf dem Markt anbieten können. „Das Verhältnis des Arbeiters zum Produkt der Arbeit als fremden und über ihn mächtigen Gegenstand” (MEW, XL, S. 515).
Während zur bewussten Tätigkeit fähige Menschen nicht nur ihre eigenen Bedürfnisse, sondern auch die der Anderen als wichtig erachten, können entfremdete Subjekte dies nicht. Es handelt sich um eine Zweck-Mittel-Verkehrung. „Der konkrete Inhalt, die wirkliche Bestimmung, erscheint als formell; die ganz abstrakte Formbestimmung erscheint als der konkrete Inhalt.“ (MEW, I, S. 216) Der Zweck der entfremdeten Arbeit ist nicht die Selbstverwirklichung, sondern das nackte Überleben. Sie entfremden sich von sich selbst und von ihren Mitmenschen, die Realisierung ihres Gattungswesens im Tausch- oder Kaufakt bleibt ihnen verwehrt (Quante, 2009, S. 255).
„Ebenso indem die entfremdete Arbeit die Selbsttätigkeit, die freie Tätigkeit zum Mittel herabsetzt, macht sie das Gattungsleben des Menschen zum Mittel seiner physischen Existenz” (MEW, XL, S. 517). Die Menschen werden entwirklicht. Da sie im Kapitalismus nur entfremdet arbeiten, können sie nur jenseits der Arbeit zu sich selbst kommen: „Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus” (MEW, XL, S. 514). Sie suchen im Konsum und in der Religion ihr Mensch-Sein. Religion und Konsum haben eine kompensierende und sublimierende Funktion. Sie sollen das sinnentleerte Dasein übertünchen. Marx zufolge müssen aber die sozialen Ursachen bekämpft werden, die die Religion als tröstende Droge nötig machen (MEW, I, S. 379, siehe auch Oppolzer, 1974, S. 29). „Die Religion ist das ‚Selbstbewusstsein‘ und ‚Selbstgefühl‘ jenes Menschen, der sich entweder noch nicht gefunden oder der sich schon wieder verloren, eben in der Religion entfremdet hat” (MEW, I, S. 378).
1 Wenn „die Theaterkunst eine soziale Kraft darstellt, die in der Lage ist, die Gesellschaft vom Wert gewisser sozialer Richtungen und Wandlungen zu überzeugen” (Silbermann, 1966, S. 389), so versuchte Brecht durch Verfremdung des alltäglichen die Zuschauer*innen dazu anzuregen durch kritisches Denken zu ihrer eigenen Überzeugung zu kommen. (BFA, XXII/I, S. 736)
2 In Anlehnung an die 11. Feuerbachthese formuliert Brecht: „Das Theater wurde eine Angelegenheit für Philosophen, allerdings solcher Philosophen, die die Welt nicht nur erklären, sondern auch zu ändern wünschten.” (BFA, XXII/I, S. 110)
3 Zwar gibt es eine kleinere politisch-philosophische Auseinandersetzung mit Brecht, die sich jedoch eher mit den Inhalten von Brechts literarischen Texten beschäftigen und weniger mit den sozialtheoretischen Konsequenzen der Form des experimentellen Theaters. Zudem stellen einige dieser Texte Brecht in Beziehung zu politischen Denkern oder Sozialtheoretikern wie Antonio Gramsci, Walter Benjamin, Ernst Bloch und Pierre Bourdieu. (Arendt, 2012, 259-310; Haug, 2006; Salomon, 2006; Squierz, 2012) Der direkte Bezug zu Marx fällt dabei jedoch meistens knapp aus.
* * *
Sie möchten gerne weiterlesen? Dieser Beitrag ist im Open Access in Heft 1-2023 unserer Zeitschrift Soziologiemagazin erschienen.
Die Autor*innen
Annabell Lamberth ist studentische Hilfskraft am Projekt td-academy (Plattform für Transdisziplinäre Forschung und Studien) der TU Berlin.
Dr. Philip Dingeldey ist im Wintersemester 2022/23 Gastprofessor für kritische Gesellschaftstheorie an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Mehr Leseproben …
… finden Sie auf unserem Blog.
© Unsplash 2023, Foto: Paul Green