Eine Leseprobe aus den Seiten 67 bis 69 aus Wahlrecht und Parteiensystem. Zur Theorie und Empirie der Wahlsysteme von Dieter Nohlen (8., aktualisierte Auflage), Kapitel „3 Wahlsysteme und Parteiensysteme: Eine problemorientierte Einführung“.
Über „Wahlrecht und Parteiensystem“
Inwiefern formen Wahlrecht und Wahlsystem die Parteiensysteme? Lassen sich gesetzmäßige Beziehungen feststellen? Welche Bedeutung kommt den gesellschaftlichen und politischen Kontexten zu? Zur Prüfung dieser Fragen dienen theoretisch-methodische Überlegungen und systematisch vergleichend ausgewertete historische Erfahrungen aus liberal-pluralistischen Staaten in aller Welt. Das Buch versteht sich als eine allgemeine Einführung in die Lehre von den Wahlsystemen, zielt aber zugleich auf eine neue theoretische Grundlegung des Forschungsfeldes. Die Neuauflage enthält wichtige Aktualisierungen.
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3 Wahlsysteme und Parteiensysteme: Eine problemorientierte Einführung
3.1 Grundlegende Begriffe
Wahlsysteme können in einem engen und einem weiten Sinne konzeptualisiert werden. In vielen politischen Debatten über Wahlsysteme – vor allem in denjenigen Ländern, die über keine ausgeprägte Wahltradition verfügen – wird das Konzept sehr weit ausgedehnt, umfasst mitunter alles, was den Wahlprozess betrifft, einschließlich des Wahlrechts und der Wahlorganisation. Aus analytischen Gründen wird im Folgenden hingegen ein enges Konzept bevorzugt. Demgemäß beinhalten Wahlsysteme den Modus, nach welchem die Wähler ihre Partei- und/oder Kandidatenpräferenz in Stimmen ausdrücken und diese in Mandate übertragen werden. Mittels Wahlsystemen werden Stimmenergebnisse (data of votes) in spezifischer Weise (im Falle von Parlamentswahlen) in Mandatsergebnisse (parliamentary seats) übertragen. Wahlsysteme regeln diesen Prozess durch Festlegung der Wahlkreiseinteilung, der Wahlbewerbung, der Stimmgebung und der Stimmenverrechnung. Dieses enge Konzept hat größeren Nutzen sowohl für das Studium der politischen Auswirkungen von Wahlsystemen als auch für die politische Debatte um die Einführung oder Reform von Wahlsystemen.
Wahlsysteme bilden einen Ausschnitt des umfassenderen Begriffs Wahlrecht, der jedoch auch im engeren Sinne verstanden werden kann. Im engeren Verständnis beschränkt sich sein Inhalt auf die rechtlichen Voraussetzungen des Wählens und des Gewähltwerdens. Der Begriff Wahlrecht wird indes häufig auch für den Gegenstandsbereich verwendet, der mit Wahlsystem viel präziser und treffender bezeichnet werden kann.
Die grundlegende klassifikatorische Unterscheidung von Wahlsystemen ist die zwischen Mehrheitswahl und Verhältniswahl. Diese Alternative hat die klassischen Debatten zur Wahlsystemfrage beherrscht, obwohl unhinterfragt blieb, welches die definitorischen Merkmale der Systeme seien bzw. auf welcher Ebene die Unterscheidung vorzunehmen sei. Mal wurden die technischen Regelungen, mal die Funktionen und politischen Intentionen von Wahlsystemen zu Unterscheidungsmerkmalen erhoben, mal beide zugleich und zwar in der Weise, dass die technischen Elemente für die eine, Intentionen und Funktionen für die andere Alternative definitorisch ins Spiel gebracht wurden. Davon wird Kapitel 5 handeln. Vorläufig kann gelten, dass die kategoriale Unterscheidung zwischen Mehrheitswahl und Verhältniswahl sich an Intentionen und Funktionen von Wahlsystemen festmacht. Diese Unterscheidung hat nichts an ihrer Berechtigung eingebüßt, auch wenn die mit ihr in einigen Schriften (u.a. Hermens 1941; Duverger 1959) verbundenen Aussagen über den Strukturierungseffekt, den die Grundtypen von Wahlsystemen auf die Parteiensysteme ausüben, in ihrer Abstraktheit heute kaum noch vertreten werden können.
Parteiensysteme werden nach ihrer Struktur analysiert „anhand solcher Merkmale wie Anzahl, Größe, Machtverteilung, Standort und strategische Konstellation der Parteien zueinander, was nicht ausschließt, in dynamischer Hinsicht die Veränderungen dieser Merkmale für sich oder in Relation zueinander im Zeitablauf zu untersuchen und womöglich strukturell zu erklären“ (E. Wiesendahl in: Nohlen/Schultze 31989: 667). Eine Variable zur Erklärung der Organisations- und Funktionseigenschaften von Parteiensystemen stellt das Wahlsystem dar.
3.2 Wahlsysteme: Grundfragen und Forschungsansätze
In der politischen und der wissenschaftlichen Debatte über Wahlsysteme und deren Verhältnis zu den Parteiensystemen sind es zunächst drei Grundfragen, die kontrovers diskutiert werden. Sie betreffen die Bedeutung der Wahlsysteme, ihre Wirkungsrichtung und die Bewertung ihrer möglichen Folgen. Dies sind die Dimensionen, die in der – international gesehen – immer aktuellen Diskussion über Wahlsysteme und Parteiensysteme je nach Forschungsansatz in unterschiedlicher Weise akzentuiert werden.
3.2.1 Wie bedeutend sind Wahlsysteme?
Über die Bedeutung des Faktors Wahlsystem für das Parteiensystem, das politische System und die politische Entwicklung eines Landes im Allgemeinen herrscht in Wissenschaft und Politik keine Einigkeit. Zum einen manifestiert sich die Kontroverse in der Frage, ob es sich beim Wahlsystem um eine unabhängige oder eine abhängige Variable handelt. Viele Forscher neigen geradezu dogmatisch (und nicht nur aus forschungsstrategischen Gründen) zur Parteinahme für die eine oder andere Position, derweil die Sowohl-als- auch-Annahme sicherlich wissenschaftlich angemessener und fruchtbarer ist. Zum anderen kommt der Widerstreit der Meinungen in der Bewertung des Faktors Wahlsystem im Vergleich mit anderen Faktoren, die auf die untersuchten abhängigen Variablen einwirken, und in Annahmen über die Reichweite seiner unterstellten Auswirkungen zum Ausdruck. Ist das Wahlsystem wichtiger als andere institutionelle Faktoren, wie beispielsweise das Regierungssystem (etwa das Verhältnis von Parlament und Regierung), wichtiger auch als soziopolitische Faktoren, etwa die Struktur der Gesellschaft oder vorherrschende Konfliktregelungsmuster?
Einige Wissenschaftler haben in der Vergangenheit dem Wahlsystem allergrößte Bedeutung beigemessen. Sie haben das Schicksal der Demokratie an die Frage geknüpft, welches Wahlsystem existiert. So wurde etwa der Untergang der Weimarer Republik auf die Verhältniswahl zurückzuführen versucht (Hermens 1941). Diese These ist wie die darin zum Ausdruck kommende Bedeutungszuweisung an das Wahlsystem sicherlich übertrieben. Sie verkennt, dass politische Entwicklung in der Regel Folge einer Vielzahl von (miteinander verwobenen) Faktoren unterschiedlicher Herkunft ist. Auf einen einzigen kausalen Faktor abhebende Erklärungen führen deshalb durchweg in die Irre.
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