„Wir wollen Einstiege vermitteln, die Horizonte eröffnen.“ – Interview mit den Herausgeber*innen von „Objektive Hermeneutik”

Grafik zum Interview mit den Herausgeber*innen des Buchs "Objektive Hermeneutik"

Buchcover in rot-beiger Farbe zum Buch Handbuch Objektive Hermeneutik

Objektive Hermeneutik
Handbuch zur Methodik in ihren Anwendungsfeldern

von Andreas Franzmann, Marianne Rychner, Claudia Scheid, und Johannes Twardella (Hrsg.)

 

 

 

Über das Buch

Die Objektive Hermeneutik ist eine weit verbreitete rekonstruktive Forschungsmethode, die im gesamten Spektrum der Geistes- und Sozialwissenschaften Anwendung findet. Das vorliegende Handbuch führt in grundlegende Begriffe und Verfahren ein, gibt Einblicke in die Analyse spezifischer Datentypen wie Interaktionsprotokolle, Interviews, Briefe, biographisches Material oder Bilder und veranschaulicht das Vorgehen an konkreten Beispielen. Dadurch bietet das Handbuch Orientierung für Studierende und Forschende, die ein konkretes Datenmaterial mit der Objektiven Hermeneutik untersuchen möchten.

 

Liebe Herausgeber*innen, bitte fassen Sie den Inhalt Ihrer aktuellen Publikation Objektive Hermeneutik  für unsere Leser*innen zusammen.

Das Buch enthält neben einer erzählenden Darstellung der Geschichte der Objektiven Hermeneutik, einer Einführung in die Methode und einem bisher nur als grauem Papier zugänglichen grundlegenden Text von Ulrich Oevermann, dem Begründer der Methode, vor allem eine Reihe von Aufsätzen, in denen beispielhaft dargelegt wird, wie die Objektive Hermeneutik in verschiedenen disziplinären Feldern bereits angewendet wurde und weiter genutzt werden kann, um Gegenstände unterschiedlicher Ausdrucksmaterialität zu erschließen. So wird deutlich, dass trotz des gemeinsamen Ansatzes verschiedene Spielarten im konkreten Vorgehen möglich sind und jede vorgelegte Interpretation immer auch falsifizierbar bleibt.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch herauszugeben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?

Nach der Emeritierung von Ulrich Oevermann im Jahr 2008 war klar, dass es kein Zentrum mehr gab, wo methodische Anwendungen – im Sinne einer Kunstlehre – und theoretische Erkenntnisse integriert werden. Das war zuvor etwas anders, weil alle, die diese Methode erlernen wollten, wussten, dass es beispielsweise das Forschungspraktikum in Frankfurt und Kurse anderswo gab, die einen Maßstab in der Anwendung der Methode aufzeigen konnten und wo diese im Vollzug und produktiven Streit erlernt werden konnte. Objektive Hermeneutik wurde zwar vielfach angewendet, ohne Auseinandersetzung mit Kolleg:innen vor Ort am konkreten Material und ohne theoretische Einbettung schien es für viele jedoch schwierig, die Ebene von Deskription bzw. Paraphrase von Material produktiv zu überwinden, und das brachte oftmals eine gewisser Beliebigkeit in der Auswertung mit sich, die dem Potential der Objektiven Hermeneutik nicht gerecht wurde. Oder gute Ansätze von Interpretationen scheiterten an zu hohen Ansprüchen bzw. der Unsicherheit, ob nun „wirklich“ objektiv-hermeneutisch interpretiert wurde. Und trotz dem Vorhandensein mehr oder weniger ausführlicher Methodenliteratur blieb gerade auch für den wissenschaftlichen Nachwuchs oft unklar, wie Interpretationsergebnisse konkret dargestellt werden können. Nun zeigt der Band, dass dies auf sehr unterschiedliche Weise möglich ist, und zwar bezogen auf eine Breite von Einsatzgebieten und Materialtypen in den erziehungs-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschungslandschaften.

Wir können mit diesem Band nicht das Problem der nicht immer einfachen Vermitteltheit von Methode, Methodologie und Grundlagentheorien auflösen. Alles, was wir wollen, ist, Interessierten und Forschenden einen Überblick über bestehende Analysen zu verschaffen und damit Anregungen und Hilfestellungen für die Forschungspraxis zu geben. Zugleich sollten auch theoretische Fragen und unterschiedlichen Ansätze und Horizonte der bisherigen Forschungen berücksichtigt werden. Oder, um es ganz einfach zu sagen: Wir wollen Einstiege vermitteln, die Horizonte eröffnen, und zudem aufzeigen, dass es eine Forschungstradition gibt, die zusätzlich rezipiert werden kann. In den Beiträgen wird jeweils auch auf weitere Literatur und damit auch auf Netzwerke von Forschenden hingewiesen. Allein das ist sicher hilfreich für manche.

 

Wo liegen aus Ihrer Sicht die größten Stärken der Methode?

Wer mit der Objektiven Hermeneutik arbeitet, wird rasch merken, dass sie nicht nur geeignet für die Erschließung unterschiedlicher Ausdrucksgestalten ist, sondern auch ein eigenständiges wissenschaftliches Arbeiten ermöglicht, das immer wieder zu – gemessen am Stand der Forschung – neuen, ja überraschenden Ergebnissen führt. Aber die Objektive Hermeneutik ist nicht allein eine Methode, sondern ein ganzer Forschungsansatz, ein Paradigma, das allerdings aus einer Methodenentwicklung heraus entstanden ist. Entscheidend ist, dass sie anders als einige andere Methoden (auch solchen aus der qualitativen Forschungstradition) nicht klassifikatorisch vorgeht, sondern auf die Rekonstruktion der inneren Logik ihres Forschungsgegenstandes abzielt.

 

Welche Aspekte der Objektiven Hermeneutik werden Ihrer Einschätzung nach künftig an Bedeutung gewinnen?

Wir hoffen, dass das Handbuch dazu beitragen wird, dass denjenigen, die auf der Suche nach einer Methode sind, mit der sie wissenschaftlich arbeiten können, oder die bereits entschieden sind und mit der Objektiven Hermeneutik arbeiten wollen, deutlich wird, welche Möglichkeiten für eine innovative Forschung sich durch diese ergeben. Sie ermöglicht eine besondere analytische Tiefe und damit Einblicke in andere, neue Herangehensweisen, die die Sozial-, Erziehungs- und Geisteswissenschaften angesichts der Herausforderungen unserer Zeit dringend brauchen und die uns Forschenden auch Selbstbewusstsein in Bezug auf die eigene wissenschaftliche Innovationskraft vermittelt.

 

Darum sind wir Autor*innen bei Budrich

Einige von uns hatten schon vorher gute Erfahrungen mit der Verlag Barbara Budrich gemacht. Deswegen sind wir an ihn mit der Frage herangetreten, ob er unser Projekt eines Handbuches zur Objektiven Hermeneutik unterstützen würde. Der Verlag reagierte mit einer großen Offenheit und war sofort bereit, das Handbuch herauszugeben. Dafür und für die professionelle Kooperation, die schließlich in einen erfolgreichen Abschluss des Projektes mündete, sind wir ihm sehr dankbar.

 

Kurzvitae in eigenen Worten

Foto von Andreas Franzmann vor einem weißen HausAndreas Franzmann: Als ich in Frankfurt Philosophie, Soziologie und Psychoanalyse studierte, wollte ich empirische Detailanalyse mit anspruchsvoller theoretischer Modellbildung verbinden. Eingelöst fand ich dieses Programm der Kritischen Theorie am ehesten in der Objektiven Hermeneutik. Ich bin dann bei Oevermann über die Affäre Dreyfus und die Soziologie der Intellektuellen promoviert worden und habe anschließend viele Jahre zur Professionalisierungstheorie gearbeitet. Vor allem zur Wissenschaft, Medizin, Jura, aber auch zur Sozialen Arbeit. Heute bin ich bei einem Träger in der Jugendhilfe (Erziehungshilfe gGmbH, Siegburg) Fachbereichsleiter im Bereich Pädagogische Diagnostik und nutze die Objektive Hermeneutik für ein Verstehen der Fallgeschichten von Kindern und Jugendlichen und die Beratung von Jugendämtern. Zugleich bin ich Privatdozent an der Goethe Universität Frankfurt im Fach Soziologie.

Portraitfoto von Marianne Rychner vor weißem HintergrundMarianne Rychner: Nach Abbruch des Gymnasiums und Matura (Schweizer Abitur) auf dem 2. Bildungsweg habe ich in Bern Geschichte studiert. Im Nebenfach Soziologie hat Claudia Honegger jeweils Ulrich Oevermann zu Blockseminaren eingeladen, in denen wir analog zum Forschungspraktikum in Frankfurt gelernt haben, uns intensiv mit Materialien auseinanderzusetzen. Nach der Abschlussarbeit in Geschichte über Männlichkeitsvorstellungen in der Schweizer Armee habe ich bei Claudia Honegger (Erstgutachterin) und Ulrich Oevermann (Zweitgutachter) promoviert zur Logik ärztlichen Handelns. Derzeit arbeite ich an der Hochschule Luzern Wirtschaft und an den pädagogischen Hochschulen Nordwestschweiz und Bern.

Portraitfoto von Claudia Scheid im GrünenClaudia Scheid: In meinem soziologischen Studium, das ich bei Tilman Allert in Tübingen begann, hatte ich schnell erkannt, dass mich vor allem die sozialwissenschaftliche Betrachtung von Familie und Bildung fasziniert. In Frankfurt habe ich dann bei Ulrich Oevermann und auch am Institut für Psychoanalyse studiert, auch ein bisschen Philosophie und Ethnologie. Promoviert habe ich dann über psychosomatische Erkrankungen bei Ulrich Oevermann. Ich bin Professorin in den Bildungswissenschaften an der Uni Innsbruck, Spezialgebiete: Familie, Sozialisation, Bildung, Professionen, Methodologie (insbesondere Bildanalysen).

Foto von Johannes Twardella vor einem BücherregalJohannes Twardella: Nach einem Studium der Fächer Germanistik, Sozialwissenschaften, Philosophie und Kunstpädagogik (in Frankfurt am Main und Münster) promovierte ich bei Ulrich Oevermann über ein religionssoziologisches Thema, schrieb meine Doktorarbeit über den Koran. Im Anschluss daran machte ich ein Referendariat, begann dann als Lehrer an einem Frankfurter Gymnasium (der Freiherr-vom-Stein-Schule) zu arbeiten, bis ich für mehrere Jahre an die Goethe-Universität abgeordnet wurde, wo ich in der Lehrerbildung tätig war und bei Andreas Gruschka habilitierte. Danach bin ich an die Schule zurückgekehrt, arbeite seitdem wieder als Lehrer (an der Elisabethenschule) und bin als Privatdozent an der Goethe-Universität tätig.

 

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Buchcover in rot-beiger Farbe zum Buch Handbuch Objektive Hermeneutik

Andreas Franzmann, Marianne Rychner, Claudia Scheid, und Johannes Twardella (Hrsg.):

Objektive Hermeneutik. Handbuch zur Methodik in ihren Anwendungsfeldern

 

 

© Titelbild: gestaltet mit canva.com, Herausgeber*innenfotos: privat