Rechts und radikal liberal. Zur inneren Verwandtschaft von Rechtsextremismus und Libertarismus
Elias Hechinger
Soziologiemagazin, Heft 1-2022, S. 39-58.
Zusammenfassung
Während sich die frühe politische Rechte durch einen völkisch-nationalistischen Antikapitalismus auszeichnet, lassen sich innerhalb der Neuen Rechten diesbezüglich neue Entwicklungstendenzen beobachten. So treten im deutschsprachigen Raum libertäre Akteur*innen, spätestens seit dem Erstarken der Alternative für Deutschland (AfD), vermehrt im politischen wie auch gesamtgesellschaftlichen Diskurs auf. Der vorliegende Beitrag untersucht die Frage, welche Anknüpfungspunkte von marktradikalen respektive libertären Ansichten an rechtsextreme Einstellungen bestehen. Nach einer Erläuterung der Termini Neue Rechte und Libertarismus wird gezeigt, dass zwischen einer radikal wirtschaftsliberalen und rechtsextremen Weltauffassung partielle Gemeinsamkeiten bestehen. So bilden ein spezifischer Antiegalitarismus, eine Naturalisierung gesellschaftlicher Sachverhalte sowie eine gemeinsame Feindbildkonstruktion die verbindenden Elemente beider auf Ungleichwertigkeitsvorstellungen fußenden Ideologien. Dies führt zu neuen Allianzen und Bündnissen innerhalb des neurechten Spektrums und folglich zu einer Erweiterung desselben.
Schlagwörter
Libertarismus; Marktradikalismus; Rechtsextremismus; Sozialdarwinismus; Neue Rechte
Einleitung
Im deutschsprachigen Raum ist das Magazin eigentümlich frei das wohl bekannteste Forum für libertäre bzw. radikal (wirtschafts-)liberale1 Debatten. Im Editorial einer aktuellen Ausgabe beschreibt Andre F. Lichtschlag, Herausgeber und Chefredakteur des Magazins, die aktuelle politische Lage und gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen aus libertärer Sicht. Dort heißt es unter anderem Corona sei eine künstlich aufgebauschte Pandemie, der Klimawandel existiere nicht, es gebe zwar „ein paar unverbesserliche Nazis und Irre“ und „hin und wieder werden auch Frauen, Schwule oder Fremde beschimpft“, dies alles stehe aber in keinem Verhältnis, „was uns die Propaganda an Klimawahn, Gender-Gaga oder der täglichen Dosis Rassismuspopismus zumutet“ (Lichtschlag, 2021, S. 3). All dergleichen seien nur Vorwände, „um immer nur noch hemmungsloser umzuerziehen, umzuverteilen und abzukassieren“ (ebd., S. 3). Die Gesellschaft befinde sich allgemein auf dem Weg, bzw. schon direkt in der Diktatur, gedeckt durch die „Propagandapresse“, die die „größte und einzige Oppositionspartei in Deutschland“ (ebd., S. 3), gemeint ist die AfD, mundtot macht. Das Editorial endet mit den Worten „Kein Fußbreit den neosozialistischen Ausbeutern aller Couleur! Mehr Freiheit!“ (ebd., S. 3).
Das verwendete Vokabular erinnert hierbei weniger an klassisch liberale Argumentationsmuster, sondern vielmehr an den Jargon der Neuen Rechten. So affirmieren zahlreiche Artikel des Magazins die bei Rechtsextremen beliebte Verschwörungstheorie des „Großen Austauschs“, was für Armin Pfahl-Traughber (2020) ein Hinweis darauf ist, dass die deutsche Neue Rechte mit den Libertären über gewisse Schnittmengen verfügt. Die Annahme einer partiellen Überschneidung von Rechtsextremen und Libertären verdichtet sich bei der genaueren Betrachtung weiterer Aussagen prominenter deutschsprachiger Libertärer. So fordern der Volkswirt Hans-Hermann Hoppe, der noch in den 1970er Jahren bei Jürgen Habermas promovierte, und Markus Krall, Hauptgeschäftsführer von Degussa Goldhandel und Träger des Roland-Baader-Preises, ganz offen die Abschaffung der Demokratie zugunsten einer reinen Privatrechtsgesellschaft mit monarchistischen Zügen (Hoppe, 2005; Krall, 2020). Andre F. Lichtschlag spricht sich ferner in der neurechten Sezession für einen Schulterschluss zwischen „Konservativen“ und Libertären aus (Lichtschlag, 2003). Lichtschlag forderte in einem Artikel in der Welt ebenfalls, mit Bezug auf Hoppe und Friedrich August von Hayek, den Entzug des Wahlrechts für „Nettostaatsprofiteure“, wonach nur noch Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen aus der freien Wirtschaft wählen durften (Lichtschlag, 2006). In libertärer Lesart dürfen folglich nur „Leistungswillige“ ein demokratisches Grundrecht wahrnehmen, der Rest sind „staatsabhängige Asoziale“ (Lichtschlag, 2006), denen man politische Meinungs- und Willensbildung abspricht.
Erstaunlicherweise existiert in der deutschsprachigen (sozial-)wissenschaftlichen Forschung eine Lücke bezüglich der Verbindung von Libertarismus und der Neuen Rechten, wurden doch Begriffe wie libertär und Libertarismus eher dem US-amerikanischen Kontext wie beispielsweise der Tea-Party Bewegung oder dem Cato-Institute zugeordnet, was auch den mangelnden Forschungsstand zum Thema Libertarismus in Deutschland erklärt. Ausnahmen bilden die Recherchen des Soziologen Andreas Kemper (2020a, 2020b) sowie des Historikers Quinn Slobodian und Politikwissenschaftlers Dieter Plehwe (2020), deren Arbeiten sich mit Markus Krall sowie demokratiefeindlichen Netzwerken und Umsturzphantasien innerhalb des deutschsprachigen libertären Spektrums auseinandersetzen, im Rahmen dieses Artikel aber nicht weiter vorgestellt werden können. Die Neue Rechte wird aktuell international zwar gut erforscht, hinsichtlich marktfundamentalistischer Akteur*innen und Netzwerke sowie der inneren Verwandtschaft beider Ideologien existiert jedoch augenscheinlich ein Vakuum.
Der vorliegende Beitrag untersucht die Frage, welche Anknüpfungspunkte von marktradikalen respektive libertären Ansichten an rechtsextreme Einstellungen bestehen. Da sich die Neue Rechte als antiliberal charakterisieren lässt und der Libertarismus per definitionem eine radikal liberale politische Philosophie darstellt, stellt sich die Frage, wie die Verbindung dieser beiden Positionen gelingen konnte, sind sie doch dem Anschein nach miteinander unvereinbar. Zur Beantwortung der Forschungsfrage sollen im ersten Schritt in aller Kürze die zentralen Charakteristika der Neuen Rechten präsentiert werden. Im Anschluss daran werden die konstitutiven Merkmale des Libertarismus vorgestellt. Daran anschließend soll die Frage geklärt werden, wie sich der Wunsch nach größtmöglicher individueller und wirtschaftlicher Freiheit mit Nationalismus und völkischem Denken vereinen lasst. Im Zentrum stehen hierbei sozialdarwinistische Ansichten, eine Naturalisierung komplexer gesellschaftlicher Sachverhalte sowie der offene Kampf gegen linksgerichtete Kräfte, die als „Scharnier“ zwischen Rechtsextremismus bzw. der Neuen Rechten und dem Libertarismus fungieren.
Strategische und politische Ziele der Neuen Rechten
Zwar wird die Bezeichnung `Neue Rechte´ in politikwissenschaftlichen und journalistischen Diskursen in verschiedenen Zusammenhängen verwendet, allgemein dient der Begriff jedoch als Bezeichnung für eine Intellektuellengruppe, die sich hauptsächlich auf die Ideen der „Konservativen Revolution“ zu Zeiten der Weimarer Republik stützt (Pfahl-Traughber, 2006, S. 44; Salzborn, 2014, S. 63f.). Bei der Neuen Rechten handelt es sich jedoch nicht um eine homogene Gruppe oder um Akteur*innen, die sich in formalen Organisationen zusammenschließen. Feste Organisationsstrukturen, Parteien oder Vereine existieren nicht, vielmehr handelt es sich um ein Netzwerk unterschiedlicher Publizist*innen. Hinsichtlich der Berufung auf die Konservative Revolution, ein von Armin Mohler (1950) geprägter Begriff, bestehen jedoch ideologische Gemeinsamkeiten (Pfahl-Traughber, 2019). Die politischen Ziele der Neuen Rechten bestehen im Wesentlichen aus der Intellektualisierung des Rechtsextremismus durch die Formierung einer intellektuellen Metapolitik sowie in der Erringung einer (rechten) „kulturellen Hegemonie“ (Salzborn, 2017, S. 35; Griffin, 2000; Weis, 2017). Im Zentrum der Neuen Rechten steht somit die Auffassung, dass ein geistiger Wandel einem politischen Wandel vorausgehen müsse. Das metapolitische Anliegen der Neuen Rechten betont insofern die intellektuellen Schwächen des „klassischen“ Rechtsextremismus neonazistischer Prägung und setzt ihm eigene, theoretisch und konzeptionell fundierte Politikansätze entgegen. Die metapolitische Intellektualisierung zielt daher darauf ab, völkische Positionen, die ein Kernmerkmal der Neuen Rechten sind, umfangreich mit Referenzen aus Geisteswissenschaften und Ideengeschichte zu begründen (Salzborn, 2017, S. 37).
Zentraler Topos der Neuen Rechten ist die Annahme der Ungleichheit aller Menschen, wie sie im Rechtsextremismus konstitutiv ist. Diese Ungleichheit wird nach wie vor ethnisch, aber nicht mehr explizit rassistisch zu begründen versucht. Der daraus resultierende Antiuniversalismus mündet nicht, wie in der NS-Ideologie, in der Vernichtungs- sondern in einer Segmentierungsvorstellung, der konsequenten räumlichen Separierung und geopolitischen Trennung von Menschen nach ethnisch-kulturalistischen Kriterien, was auch als Ethnopluralismus bezeichnet wird (Salzborn, 2017, S. 39). Ein völkischer Nationalismus in Verbindung mit einem autoritären Etatismus, der sich außenpolitisch in ethnopluralistische Konzepte übersetzt, sind weitere gesellschaftliche Ideale der Neuen Rechten. Eine zentrale Rolle kommt ferner den (intellektuellen) Eliten zu, denen eine Führungsverantwortung zugeschrieben wird, wodurch Elitevorstellungen als Gegensatz zum Gleichheitsideal verkündet werden (Pfahl-Traughber, 2019).
Die Ideologie der Neuen Rechten besteht folglich aus diversen Aspekten, die traditionell dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnen sind. Allen voran das Primat der Ungleichheit bzw. ein Antiuniversalismus, eine „Freund-Feind“-Dichotomie, das Postulat der Homogenität bzw. der Soziobiologie, ein völkischer Nationalismus sowie ein autoritärer Etatismus sind konstitutive Merkmale der Neuen Rechten. Damit strebt die Neue Rechte die Überwindung der Normen und Regeln des demokratischen Verfassungsstaates an; insofern ist die Bekämpfung der liberal- rechtsstaatlichen Demokratie an sich als Ziel dieser Strömung zu verstehen.
1 Die Begriffe marktradikal, libertar oder radikal (wirtschafts-)liberal werden synonym verwendet.
* * *
Sie möchten gerne weiterlesen? Dieser Beitrag ist im Open Access in dem Heft 1-2022 der Zeitschrift Soziologiemagazin erschienen.
© Unsplash 2022, Foto: Mika Baumeister