Eine Leseprobe aus Theorien der Sozialen Arbeit. Ein Kompendium und Vergleich (6., überarbeitete Auflage) von Helmut Lambers, Kapitel „Einleitung“.
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Einleitung
In diesem Lehrbuch geht es um Theorien der Sozialen Arbeit, nicht um Theorien in der Sozialen Arbeit. Letztere werden in kaum überschaubarer Präsenz über referenzwissenschaftliche Beiträge der Psychologie, Anthropologie, Theologie, Philosophie, Politologie, Soziologie, Rechtswissenschaft, Medizin und seit Längerem auch der Ökonomie beigesteuert. Dieses Buch widmet sich der Theoriebildung, die Soziale Arbeit – und, um historisch genau zu bleiben: Sozialpädagogik und Sozialarbeit – als eigenständige wissenschaftliche Disziplin(en) zu begründen versucht.
Um ein Bild über die Theorie Sozialer Arbeit zu bekommen, muss man im Plural sprechen. Die Theorienlandschaft Sozialer Arbeit stellt sich dabei eher als eine Suchbewegung nach Theoriefundierung dar. Entsprechend stehen wir vor einer Ansammlung von unterschiedlichen Theorien, Theorieentwürfen oder Theoriefragmenten, bei denen Anzeichen für das Zustandekommen eines konvergierenden, mehr oder weniger in sich geschlossenen Theoriegebäudes Sozialer Arbeit vordergründig nicht in Sicht ist. Allerdings gibt es mehr Gemeinsames als Trennendes.
Seit den Versuchen, Soziale Arbeit (Sozialpädagogik und Sozialarbeit) als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren, ist es nicht gelungen, eine für ihre Profession einheits- und identitätsstiftende Theorie zu entwickeln (Schrödter 2007, S. 3). Für die subjekttheoretisch ausgerichtete Sozialpädagogik bleibt festzustellen, dass es bis heute nicht zu einer Einigung darüber gekommen ist, was das Soziale in der Pädagogik eigentlich sei und was als das Pädagogische im Sozialen zu verstehen und zu leisten in der Lage ist (Dollinger 2006, S. 19; 2007, S. 7f und Henseler 2000, S. 9). Auch in der relativ jungen, eher am Systembegriff ausgerichteten Sozialarbeitswissenschaft ist kein gemeinsames Theoriegebäude in Sicht. Deutlich wird dies vor allem in der sehr unterschiedlichen Inanspruchnahme systemtheoretischer Verstehenskonzepte.
Im Studium der Sozialen Arbeit stehen unterschiedliche Theorien neben- und gegeneinander. Diese Ausgangslage macht es erforderlich, sich in Ausbildung und Studium mit den verschiedenen Entwicklungen sozialpädagogischer und sozialarbeitswissenschaftlicher Theorien auseinanderzusetzen. Da es sich in der Theorieentwicklung Sozialer Arbeit um einen fortwährenden Diskurs handelt, niemals aber um ein abschließbares Theoriegebäude, gehört die Auseinandersetzung mit diesem Theoriediskurs zu den Grundlagen des Studiums der Sozialen Arbeit.
Die Theorieentwicklung der Sozialpädagogik und Sozialarbeit wird nachfolgend in fünf Stationen vorgestellt. Dabei wird unterschieden zwischen der:
- ersten sozialpädagogischen Theorieentwicklung,
- ersten fürsorgewissenschaftlichen Theorieentwicklung,
- zweiten sozialpädagogischen Theorieentwicklung,
- sozialarbeitswissenschaftlichen Theorieentwicklung und
- der Theorieentwicklung einer Wissenschaft Soziale Arbeit.
Die zentralen Aussagen der Theorien werden einführend in ihren Grundzügen skizziert, vorangestellt ist ein kurzer biografischer Abriss des behandelten Theorievertreters bzw. der Theorieverteterin. Anschließend werden in einem Diskussionsteil vertiefende und diskursive Aspekte besprochen. Der abgekürzte Weg, den ein Kompendium zur Erschließung seines Gegenstandes eröffnet, kann die Auseinandersetzung mit den Originaltexten nicht ersetzen. Zur weiteren Vertiefung folgen daher Literaturempfehlungen zu den einzelnen Theorien in einer kleinen Übersicht.
Auf eine systematische Bewertung der vorgestellten Theorien wird hier bewusst verzichtet. Das soll Studierenden mittels eigener reflexiver Auseinandersetzungen in entsprechenden Seminaren und im vertiefenden Selbststudium vorbehalten bleiben. Kommentierungen und Anfragen, die den Reflexionsprozess fördern sollen, sind hingegen häufig anzutreffen. Zudem wird Wert darauf gelegt, dass in diesem Kompendium keine Theorieentwicklung bewusst ausgeklammert wird; weder im Sinne einer Bedeutungszuschreibung für den Diskurs innerhalb der Sozialen Arbeit noch mit Blick auf eigene theoretische Vorlieben.1
Anliegen dieses Buches ist es, die unterschiedlichen Theorien sowie ihren jeweiligen diskursiven Kontext nicht nur zeitlich und sachlich geordnet in den Blick zu nehmen, sondern auch einen Vergleich zu ermöglichen. Als Vergleichskategorien dienen begriffsgeschichtliche, gegenstandsbezogene, formaltheoretische sowie wissenschafts- und bezugstheoretische Merkmale der Theoriebildungen. Auch der Entwicklungsstand bisheriger Typisierungsversuche und die dabei auftretenden Probleme werden ausführlich in den Blick genommen und darauf bezogen ein eigener Typisierungsversuch vorgestellt. Zum Abschluss werden drei Themenkomplexe erörtert, die in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit im Fachdiskurs der Sozialen Arbeit bekommen haben. Das betriffft die Themen Lebensführung, Empowerment und Sozialraumorientierung. Abschließend erfolgt ein kurzer Ausblick auf die Vielfalt der Theorien der Sozialen Arbeit. Ist sie Ausdruck eines Dilemmas?
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1 Engelke; Borrmann; Spatscheck (2018, 2008) klammern bspw. die Theorien von Wolf Rainer Wendt und Michael Winkler mit der Begründung aus: „Beide Theorien haben nach Meinung vieler Leserinnen und Leser und auch nach unserer Meinung nicht mehr die Bedeutung im wissenschaftlichen Diskurs der Sozialen Arbeit, wie sie sie vor 10 Jahren gehabt haben“ (2008, S. 9, und 2018, S. 11). Zudem werden systemtheoretisch-konstruktivistische Ansätze der Theoriebildung bei Engelke weitestgehend ignoriert. Die „Meinung“, dass in den letzten zehn Jahren die Theorien von Winkler und Wendt von einem Bedeutungsrückgang gekennzeichnet sind, wird hier nicht geteilt. Das trifft auch auf die in dem Lehrbuch praktizierte Ausklammerung systemtheoretisch-konstruktivistischer Ansätze der Theoriebildung Sozialer Arbeit zu.
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Helmut Lambers:
Theorien der Sozialen Arbeit. Ein Kompendium und Vergleich
6., überarbeitete Auflage
Der Autor
Helmut Lambers (Dr. phil., Dipl.-Pädagoge und Dipl.-Sozialpädagoge) ist Professor i. R. für Fachwissenschaft Soziale Arbeit am Fachbereich Sozialwesen der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Münster.
Arbeits- und Lehrschwerpunkte sind: Geschichte, Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit, Sozialmanagement, Systemtheoretische Reflexionsgrundlagen Sozialer Arbeit.
Über „Theorien der Sozialen Arbeit“
Helmut Lambers führt in die komplexe Theorielandschaft ein und sorgt für die nötige Orientierung. Neben der Einführung in die verschiedenen Theorien nimmt er einen Theorienvergleich vor und stellt die unterschiedlichen wissenschaftlichen Erkenntniskonzepte, Gegenstandsbestimmungen, Typisierungsversuche und die gemeinsamen Schnittmengen der Theoriebildungen in den Vordergrund.
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© Titelbild: gestaltet mit canva.com