Rechtsextremer militanter Akzelerationismus: Wie ist die Szene organisiert?

Leseprobe Terrorkultur Stojek

Umfassender Einblick in die kulturelle Organisation und strategische Ausrichtung: Leseprobe aus Terrorkultur. Eine strategische Untersuchung des rechtsextremen militanten Akzelerationismus von Nicolas Stojek.

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Terrorkultur, Einleitung: Der Militante Akzelerationismus

Am 22. Juli 2011 positionierte der Norweger Anders Behring Breivik eine Autobombe in einem Kleintransporter im Regierungsviertel Oslo. Bei der Detonation kamen acht Menschen ums Leben. Zu diesem Zeitpunkt war Breivik bereits unterwegs zu seinem nächsten Ziel, einem Sommercamp der Parteijugend der norwegischen Sozialdemokraten. Als Polizist verkleidet setzte er auf die Insel Utøya über und erschoss 69 Menschen, überwiegend Teenager. Breiviks Anschlag, so muss man im Rückblick feststellen, war nur der Beginn des Aufkommens einer Terrorströmung, die heute als Militanter Akzelerationismus bezeichnet wird.

Militante Akzelerationisten mit rechtsextremen Weltanschauungen sind der Ansicht, dass die westlichen Gesellschaften durch Multikulti, Überfremdung, Rassenvermischung, Feminismus und jüdische Steuerung im Hintergrund unweigerlich dem Untergang geweiht sind. Da sich dieser Prozess sowieso nicht aufhalten lasse, ja diese degenerierte Form der Gesellschaft sowieso zu sterben verdient habe, setzen sich die militanten Akzelerationisten ein Ziel: den Gesellschaftszerfall noch zu beschleunigen. Das Mittel der Wahl sind subversive Aktionen aller Art, im Zentrum stehen jedoch Terrorakte. Diese sind vor allem gegen Minderheiten und das Feindsystem gerichtet.

Breivik selbst war kein lupenreiner militanter Akzelerationist. Seine Bedeutung ergibt sich vielmehr durch die Vorbildfunktion, die er für akzelerationistische Rechtsterroristen erfüllte, die vor allem ab 2015 fortfolgend zur Tat schritten. Breiviks nachhaltiger Ruhm in der Szene beruht erstens auf der hohen Zahl der Todesopfer seiner beiden Anschläge und zum zweiten auf dem Manifest, welches er online hinterließ und welches in der Szene rezipiert wurde. Damit wurde Breivik inhaltlich und methodisch zur Inspirationsquelle einer Terrorszene, die sich vorwiegend online organisiert und die mit der Zeit zunehmend an Stärke gewonnen hat. Heute, zahlreiche Anschläge und Manifeste später, halten Beobachter der Szene den Militanten Akzelerationismus für einen wesentlichen Treiber innergesellschaftlicher Spannungen in westlichen Gesellschaften, vor allem in den USA, sogar mit dem Potential, einen Bürgerkrieg signifikant zu befördern (Hoffman und Ware 2024a; Betz 2023).

Bei einem Phänomen von solch hoher Relevanz verwundert es nicht, dass auch die Forschung zum Militanten Akzelerationismus immer umfangreicher wird. Im Zentrum der Forschung stehen vor allem Studien über das Onlineverhalten der Szene, ihre Organisation und die Manifeste selbst. Ein Standardwerk zum Onlineverhalten des Militanten Akzelerationismus ist das Buch Saints and Soldiers: Inside Internet-Age Terrorism, from Syria to the Capitol Siege von Rita Katz (Katz 2022). Katz ist Gründerin des privaten Nachrichtendienstes Search for International Terrorist Entities (SITE) und durch diese Tätigkeit hochspezialisierte Expertin terroristischer Onlinekulturen. In Saints and Soldiers vollzieht sie die Genese der militant akzelerationistischen Internetzszene nach, bietet den bis dato wohl umfassendsten Überblick über die virtuelle Parallelrealität des Milieus und betont die Bedeutung der im Internet entstehenden Terrorkultur (Katz 2022: 118).

Online differenziert sich die Szene je nach den Plattformen, auf denen kommuniziert wird. Eine wichtige Rolle spielen die sogenannten chan-Foren, insbesondere deren dezidiert politisch inkorrekte /pol/- Boards, die als Austauschraum für politisch inkorrekte Diskussionen stehen. Als besonders radikal gelten die Boards 8kun/pol und 16kun/pol (vormals 8chan bzw. 16chan), in denen rassistische und antisemitische Diskussionen mit menschenverachtendem Slang in besonders hohem Maße festgestellt wurden (Baehle et al. 2021).1 Terrorismusaffine akzelerationistische Gruppen waren unter anderem auch auf Facebook und Twitter, den Granden der sogenannten sozialen Netzwerke, aktiv, bevor als Reaktion auf den zunehmend terroristischen Content von akzelerationistischen Terroristen und des Islamischen Staats eine deplatforming-Kampagne einsetzte, in deren Zuge größte und wesentliche Teile der terroristisch genutzten Onlineräume gelöscht wurden.

Als Reaktion zogen die Terroristen auf weniger bis gar nicht regulierte, jedoch optimal verschlüsselte Kommunikationsplattformen wie Telegram oder TamTam um (Weimann und Pack 2023). Mit den effizienten Reaktionen auf das deplatforming bewies die militant akzelerationistische Szene ein großes Vermögen an koordiniertem, kollektiven Verhalten, welches sich auf ungünstige Umwelteinflüsse einzustellen weiß. Diese Eigenschaft ist auch notwendig, denn das Leben der Szene spielt sich weit überwiegend online ab und mangelhafte Anpassungsfähigkeit in der Onlinewelt würde vermutlich das Aussterben der akzelerationistischen Terrorkultur bedeuten (Katz 2022: 1-2; Newhouse 2021).

Die herausragende Bedeutung des Internets ergibt sich daraus, dass akzelerationistische Organisationseinheiten, die formal einigermaßen fassbar sind, aus Boards, Webseiten oder Chatgruppen bestehen. Mit anderen Worten: die relevanteste Organisationsform des Militanten Akzelerationismus besteht aus Online-Entitäten, die per Mausklick gegründet und gelöscht werden können, deren Mitglieder anonym sind und im physischen Raum in keiner Verbindung stehen und deren Kommunikation durch die Nutzung gut verschlüsselter Plattformen so klandestin wie möglich ist.

Trotz dieser Volatilität entstand in den vergangenen Jahren ein diffuses globales Netz an intern differenzierten Gruppierungen und Sub-Bewegungen, wie beispielsweise dem Skull-Mask- Movement (SKM), welches eine aus verschiedenen Gruppen bestehende Bewegung markiert, die sich über das Neonazi-Forum Iron March konstituiert hat (Potter 2022). Zum SKM – der Name stammt vom Markenzeichen der Gesichtsmasken mit Totenkopfmuster, welche die Mitglieder der SKM-Gruppen tragen – gehören Gruppen wie die 2020 aufgelöste Atomwaffen Division (AWD) sowie deren Nachfolgeorganisation The Base wie auch weitere Ableger der AWD, beispielsweise die Feuerkrieg Division (FKD), die Sonnenkrieg Division (SKD), die Totenwaffen Division (TWD) oder die Moonkrieg Division (MKD) (Upchurch 2021; Mattheis 2022). Ideologische und/oder personelle Überschneidungen gibt es zudem zu anderen Gruppen aus dem rechtsextremen Umfeld, wie den Proud Boys, den Oath Keepers, der Boogaloo-Bewegung oder dem KuKluxKlan (Kriner und Lewis 2021a; 2021b).

Darüber hinaus existieren internationale akzelerationistische Ableger in Europa, beispielsweise AWD Deutschland (AWDD) oder die FKD, deren ‚Kommandeur‘ ein 13-jähriger Este war (Behr 2023; Bayerischer Landtag Drs 18/6766; Mackinger 2024; Katz 2022: 187). Kooperationen gibt es zudem mit dem rechtsextremen skandinavischen Nordic Resistance Movement oder den italienischen Rechtsextremisten von Casa Pound. Ideologische und personelle Überschneidungen zu politischen Parteien bestehen ebenfalls auf beiden Seiten des Ozeans – in Deutschland existieren Verbindungen zwischen den rechtsextremen Parteien NPD und Dritter Weg und der AWDD (Seifert 2023; Geisler und Stark 2022); in den USA ist die wohl wirkmächtigste Schnittstelle zwischen Politik und rechtsextremer Peripherie die QAnon-Verschwörungstheorie (Upchurch 2021; Potter 2022; Geisler und Stark 2022; Diehl et al. 2022).

Das inklusive Potential des Militanten Akzelerationismus ist Folge der Unbestimmtheit politischer Zielsetzungen. Statt positive Ziele zu formulieren, vereinigt der Militante Akzelerationismus zunächst einmal verschiedenste systemfeindliche Gruppen, die sich im Krieg gegen das System wähnen, hinter dem Ziel, die bestehende liberale, multikulturelle Gesellschaftsordnung zu zerstören. Die Attraktivität des Militanten Akzelerationismus liegt also zunächst einmal in der Übereinstimmung, dass das bestehende System zerstört werden müsse. Ideologische Differenzen über die Nachkriegsordnung können daher derzeit grundsätzlich noch unbeachtet bleiben (Hughes und Miller-Idriss 2021). Insofern ist der Militante Akzelerationismus als Organisationsprinzip rechtsterroristischer Gewalt zu verstehen (Hoffman und Ware 2024a: 174).

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1 Neben den fast schon obligatorischen abwertenden Bezeichnungen wie nigger oder kike (abwertend für Schwarze bzw. Juden) wird die Black-Lives-Matter-Bewegung als chimpout bezeichnet. Damit wird aggressives, wütendes Verhalten von schwarzen Menschen gemeint, die entsprechend als Affen – eine stereotype rassistische Trope – beleidigt werden (à Kap. 3.1 Freund und Feind und Oxytocin).

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Cover Terrorkultur 150 pxNicolas Stojek:

Terrorkultur. Eine strategische Untersuchung des rechtsextremen militanten Akzelerationismus

Schriftenreihe der Forschungsgruppe TRACE

 

 

 

Der Autor

Nicolas Stojek, Mitglied der Forschungsgruppe TRACE, Bergische Universität Wuppertal

 

Über „Terrorkultur“

Der rechtsextreme Militante Akzelerationismus setzt sich das Ziel, den Zusammenbruch von Gesellschaften mittels Terrorakten zu beschleunigen. Das Buch betrachtet rechtsextreme Attentäter wie die von Christchurch und Halle als Teile eines wachsenden Milieus und untersucht die Strategien akzelerationistischer Terroristen. Schließlich wagt es eine Vorausschau auf das, was den westlichen Gesellschaften möglicherweise bevorsteht.

 

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© Titelbild gestaltet mit canva.com