Ferdinand Tönnies und der Protestantismus

Kieler sozialwissenschaftliche Revue 2-2023: Die Stadt als Schauplatz der Reformation. Blickfelder auf den Protestantismus bei Ferdinand Tönnies

Die Stadt als Schauplatz der Reformation. Blickfelder auf den Protestantismus bei Ferdinand Tönnies1

Alexander Wierzock2

Kieler sozialwissenschaftliche Revue, Heft 2-2023, S. 95-107.

 

Unter den schwierigen publizistischen Bedingungen des nationalsozialistischen Deutschlands veröffentlichte Ferdinand Tönnies, der als Lehrbeauftragter für Soziologie seit September 1933 vom Hochschuldienst an der Universität Kiel entfernt worden war, eine letzte große Monographie. Die Rede ist von seiner Schrift Geist der Neuzeit, deren erster Teil 1935 erschien. Ein zweiter Teil konnte nicht mehr publiziert werden, da Tönnies vor einer potenziellen Fertigstellung im April 1936 starb.3 Mit diesem Alterswerk verfolgte der bekannte Soziologe das lange vor Augen gehabte Ziel der systematischen Theoretisierung einer angewandten Soziologie, das heißt eine Geschichtsanalyse auf Basis der von ihm geprägten Begriffsdichotomie Gemeinschaft und Gesellschaft.4 Der von Tönnies gewählte Titel Geist der Neuzeit erinnert heute wie damals an Max Webers 1904/05 publizierte Artikelfolge Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (Weber 2010), wobei ebenfalls ein Bezug auf den ersten Band Die Genesis des kapitalistischen Geistes von Werner Sombarts Der moderne Kapitalismus (Sombart 1902) erkennbar ist. Nicht zufällig bemerkte der Soziologe und Historiker Alfred von Martin, der den Geist der Neuzeit 1937 rezensierte, dass das Buch so wirke, als sei es „vor 30 Jahren“ erschienen (Martin 1937: 94).

Tatsächlich lässt sich Tönniesʼ letztes Werk als späte Reaktion auf die großen Debatten an der Wende zum 20. Jahrhundert verstehen, insofern disziplinübergreifend die Frage nach dem Kapitalismus als „Motor der Moderne“ aufgeworfen wurde (Wilke 2006: 106). Diese Diskussion thematisierte diverse Fragen, wie die nach der Zweckmäßigkeit des zeitspezifischen Epochenbegriffs Kapitalismus, und hinterfragte dabei auch die Lebensmacht, welche die kapitalistische Gesellschaftsform auf die Menschen ausübe, und wie dieser Kulturdynamik zu begegnen sei. Die meisten Kontroversen löste aber wohl die Frage aus, wodurch und seit wann in der Geschichte die kapitalistische Erwerbswirtschaft zu einem in alle Lebensbereiche hineinwirkenden Wirkungsfaktor geworden war. Die Versuche, die historischen Wurzeln der kapitalistischen Moderne freizulegen, führten zu einer lebhaften Debatte darüber, ob und inwiefern religiöse Mentalitäten die Entstehung des Kapitalismus begünstigt hätten. Es waren insbesondere Weber und Sombart, die zu den Hauptprotagonisten dieser Kontroverse gehörten, aber auch viele weitere Gelehrte ergriffen das Wort: Darunter waren beispielsweise Georg von Below, Lujo Brentano, Felix Rachfahl, Ernst Troeltsch und eben auch Ferdinand Tönnies.5

Ausgehend von diesem Hintergrund soll hier ein Zugang zu Tönniesʼ religionssoziologischen Betrachtungen hergestellt werden, allerdings nicht mit dem Zweck, ihn in das heterogene Gelände der Kapitalismusanalysen um 1900 einzuordnen, sondern vielmehr, um sein Verhältnis zum Protestantismus präziser zu kartieren. Mit der Frage nach der Rolle des Protestantismus für Tönnies wird dabei ein Aspekt seines Werkes beleuchtet, der bisher nahezu unerforscht geblieben ist, so wie generell seine Gedanken zum Bereich des Religiösen im Forschungsdiskurs bisher verhältnismäßig wenig beachtet wurden. Bei einer Tagung der „Arbeitsgruppe Religionssoziologie“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, die vor 25 Jahren stattfand, war diese Leerstelle bereits dem Soziologen Wilfried Gebhardt aufgefallen: „Trotz der vielfältigen Aufmerksamkeit, die Tönnies und seine Arbeiten […] gefunden haben, ist die Bedeutung der Religion in seinem Werk unerörtert geblieben“ (Gebhardt 1995: 290, Fußnote 1). An dieser Feststellung hat sich bis heute nichts Gravierendes geändert (siehe für einige Ausnahmen Andresen 2006; Zander-Lüllwitz / Zander 2005: 614-628 sowie Waßner 1991).6

Zur Annäherung an die Thematik gliedert sich der vorliegende Beitrag in drei Teile: Der erste Abschnitt knüpft an Tönniesʼ Theorie des sozialen Wandels an und skizziert seine Begriffsdichotomie von Gemeinschaft und Gesellschaft im Hinblick auf ihre geschichtsbezogenen Anwendungsdimensionen. Um die Umrisse dieser historischen Sozialtheorie und ihre epistemologischen Annahmen stärker zu konturieren, wird hier auf Tönniesʼ Rezeption von Max Webers Protestantismus-Studie eingegangen – auch um das intellektuelle Verhältnis beider Soziologen kurz etwas zu beleuchten. Der anschließende Abschnitt nimmt in den Blick, wie Tönnies die Reformation des frühen 16. Jahrhunderts in seine historische Sozialtheorie eingefügt hat, wobei aufgezeigt wird, dass er diese religiöse Erneuerungsbewegung aufs Engste mit der Stadt als verdichtetem Kommunikationsraum verbunden betrachtete. Abschließend wird herausgestellt, wie Tönnies von seiner Zielvision einer zukünftigen „konfessionslosen Kulturepoche“ her den Protestantismus seiner eigenen Zeit beurteilte (2010a: 128). Ausgehend von Tönniesʼ Auseinandersetzung mit dem Protestantismus möchte der Beitrag den intellektuellen Standort des Soziologen gegenüber der Religion und ihren sozialen Formen insgesamt näher bestimmen.

1. Die Entwicklung vom Mittelalter zur Neuzeit bei Tönnies

Tönnies gehört zu den Gründungsfiguren der frühen deutschen Soziologie. Neben seiner Tätigkeit als langjähriger Vorsitzender und später als Präsident der DGS ist er durch seine typologischen Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft, die in den 1920er Jahren zum gesellschaftsanalytischen Standardrepertoire der Soziologie schlechthin gehörten, an der Etablierung des Faches als eigenständiger Disziplin mitbeteiligt gewesen (Tönnies 2019). Was versucht Tönnies mit der Gegenüberstellung der Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft zu unterscheiden? Zunächst bleibt ganz grundlegend festzuhalten, dass er zwei unterschiedlich gelagerte Formen des Zusammenlebens voneinander abzugrenzen versucht. Gemeinschaft ist dabei als eine Sozialform zu denken, in der die Menschen gewohnheitsmäßig durch Sitte und Religion miteinander verbunden sind. Gesellschaft ist dagegen eine durch Politik und Öffentlichkeit vermittelte Sozialordnung, in welcher die Individuen aufgrund vertraglich geregelter Konventionen interagieren. Ist die Gemeinschaft auf einer überschaubaren Bedarfsökonomie aufgebaut, wird die Gesellschaft durch eine komplexe Marktwirtschaft strukturiert. Handeln die Menschen in der Gemeinschaft überwiegend emotional, werden sie in der Gesellschaft überwiegend durch Kosten-Nutzen-Kalkulationen angeleitet. Vereinfachend betrachtet ist es der polare Gegensatz zwischen Gemüts- und Vernunftmenschen, auf dem Tönnies’ dualistische Kategorisierung fußt.

Zugleich ist in den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft auch der Gegensatz von Tradition und Moderne eingeschrieben. Auf dieser Ebene gehen die Begriffe von einer reinen Typologie in den Problemkomplex einer historischen Sozialtheorie über. Dieser Translationsprozess wird in der Forschungsliteratur zuweilen übersehen, wenn Tönnies einer formalen und damit ahistorischen Soziologie zugerechnet wird (Lenger 2012: 129). Die bei dem Sozialtheoretiker vorhandene Geschichtsbetrachtung ist aber nichts Sekundäres; vielmehr hat er bei der Konstruktion der Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft von vornherein eine Gesamtinterpretation der Geschichte als Geschichte allesMenschlichen von der Antike bis zur Gegenwart im Auge gehabt. Eben deshalb hat Tönnies die Soziologie als erweiterte Adaption der Geschichtsphilosophie begriffen. „Die angewandte Soziologie“, heißt es hierzu in einem im Jahr 1907 vor der Gehestiftung zu Dresden gehaltenen Vortrag, „ist nichts als […] Philosophie der Geschichte.“ (Tönnies 1907: 28, alle folgenden Hervorhebungen im Original) Der im Kontext des hier vorliegenden Aufsatzes relevante Grundgedanke seiner Gesamtbetrachtung der historisch-kulturellen Welt ist dabei, dass der Übergang von Gemeinschaft zu Gesellschaft mit dem des Mittelalters zur Neuzeit konvergiert.7

Wie gestaltet sich dieser Wendepunkt bei Tönnies? Der Soziologe Rainer Waßner meint, dass Tönnies die christliche Erneuerungsbewegung „in ihrer Entwicklung zum Protestantismus als geistiges Pendant zum weltumspannenden Übergang von Gemeinschaft zu Gesellschaft“ verstanden habe (Waßner 1991: 440). Diese Einordnung stützt sich auf eine Stelle im Geist der Neuzeit, in der Tönnies ausführt, dass „der große Abfall, der als Reformation gedeutet wurde, […] an der Pforte der Neuzeit“ stehen würde (Tönnies 1998: 202).8 Das erweckt den Eindruck, Tönnies hätte an zentraler Stelle – ähnlich wie Max Weber – der protestantischen Reformation eine sozial-historische Relevanz bei der Entstehung des kapitalistischen Zeitalters zugeordnet. Tatsächlich äußert sich Tönnies über die von Weber angestoßene Diskussion über den Einfluss des Calvinismus und der puritanischen Sekten auf eine dem Kapitalismus adäquate Lebensführung durchaus positiv9: Anders als Weber, der diese unterschiedlichen religiösen Strömungen dem Kunstbegriff des asketischen Protestantismus subsumiert, hält Tönnies deren Bedeutung für die Entstehung einer kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung in der Neuzeit aber nie für zentral. Aus diesem Grund sind die innerweltliche Askese sowie die durch sie bedingte Berufspflicht ebenso wie andere, religiös motivierte Ideen nur von untergeordneter Bedeutung in Tönniesʼ historischer Sozialtheorie. Geistig-moralische Orientierungen, die auf bestimmten religiösen Maximen basieren, sind für diesen Sozialtheoretiker lediglich spezielle Teilerscheinungen im Prozess des Werdens von Gesellschaft aus Gemeinschaft – andere gesetzmäßig verlaufende soziale Ursachen sind aus dieser Perspektive für die Genese der modernen Lebensführung weitaus konstitutiver.

Dass Tönnies gegenüber Webers Forschungsprogramm teilweise große Vorbehalte hatte, verdeutlicht seine frühe Reaktion auf Die protestantische Ethik und der Kapitalismus. Nach der Lektüre des ersten Teils dieser Abhandlung, den Tönnies im November 1904 las, notierte er sich in seinem Notizbuch am 11. November 1904 die wertende Kurzbemerkung: „Am Aeußerlichen klebend.“10 Lässt sich an diesem Attest einer vermeintlichen Oberflächlichkeit des jüngerenWebers bereits ein gewisser Grad an Geringschätzung erkennen, so werden diese kritischen Töne gegenüber Sombart – der bekanntlich ebenfalls der innerweltlichen Berufsaskese eine viel geringere Bedeutsamkeit für die Genese der kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung beimaß als Weber (Lenger 2012: 129–135) – noch lauter. In einem Brief an den damals in Breslau lehrenden Ökonomen aus dem Juli 1905 schrieb Tönnies, dass ihm „Webers Sachen“ – mittlerweile hatte er auch die zweite Abhandlung über die protestantische Ethik kennengelernt – „außerordentlich nahe“11 gegangen seien. Die historischen Zusammenhänge seien aber „einfacher und elementarer, als er [Weber] sie darstellt“12, präzisierte er seinen Einwand.

1 Der folgende Beitrag basiert auf einem Vortrag, der im November 2017 auf der Tagung „Reformationen finden Stadt“ unter dem Titel „Von der Reformation zur konfessionslosen Kulturepoche. Tönnies und der Protestantismus“ im Evangelischen Forum St. Anna in Augsburg gehalten wurde. Veranstalter dieses Symposiums waren der Südwestdeutsche Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung e.V., in Zusammenarbeit mit dem Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg, dem Evangelischen Forum St. Anna und dem Stadtarchiv Augsburg.
2 Alexander Wierzock ist Historiker. Er promoviert an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Biografie über den Soziologen und politischen Intellektuellen Ferdinand Tönnies (1855–1936). Außerdem ist er derzeit am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen im DFG-Projekt „Ferdinand Tönnies: Eine digitale Briefedition“ beschäftigt (alexander.wierzock@kwi-nrw.de).
3 Ein fragmentarisches Manuskript des zweiten Teils wurde in den 2010er Jahren in Unterlagen des Tönnies- Schülers Ernst Jurkat im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde wiederentdeckt, nachdem es durch den Zweiten Weltkrieg als zunächst verschollen galt. Siehe Tönnies 2016.
4 Die Begrifflichkeiten bilden gleichzeitig den Titel von Tönniesʼ Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft, das 1887 in erster Auflage erschien. Siehe ders. 2019.
5 Zu Weber und Sombart, die lange die Diskussion über die Genese des Kapitalismus bestimmten, siehe das Kap. „Die Entstehung des Kapitalismus: Weber contra Sombart“ in Lehmann 1996: 94–108.
6 Des Weiteren hat die Tönnies-Werkausgabe mittlerweile einen Band vorgelegt, der Tönniesʼ religionssoziologische Schriften enthält. Siehe Tönnies 2010.
7 Für eine ausführliche Analyse der begrifflichen Architektur des Hauptwerkes von Tönnies sei hier auf Bond 2013 sowie Merz-Benz 1995 verwiesen.
8 Ganz ähnlich äußert er sich auch an anderer Stelle. Siehe ders. 1926: 62 ff.
9 So nannte er das Werk zustimmend eine „meisterhafte Arbeit“ (Tönnies 2023b: 490).
10 Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, Tönnies-Nachlass, Cb 54.43:02, S. 54.
11 Tönnies an Sombart, 30.07.1905, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, VI. HA, NL Werner Sombart, Nr. 9 f.
12 Ebd.

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