Leseprobe aus Schreiben und Dokumentieren in der Sozialen Arbeit. Struktur, Orientierung und Reflexion für die berufliche Praxis von Ute Reichmann, Seite 7 bis 11, Kapitel „1. Einleitung“.
1. Einleitung
Fachkräfte Sozialer Arbeit begleiten und unterstützen Menschen dabei, soziale Probleme zu bearbeiten, die ihnen im Laufe ihres Lebens begegnen. Sie helfen ihnen auch dabei, soziale Verwerfungen und Benachteiligungen zu bearbeiten, die sie nicht oder nur teilweise selbst verursacht haben. Soziale Arbeit hat damit immer auch mit mangelnder Gerechtigkeit, mit ungleichen Bildungschancen, auch mit globalen Ungleichgewichten zu tun. Krisenhafte Entwicklungen, seien sie auf lokaler, auf nationaler oder auf globaler Ebene, betreffen regelmäßig mehr Menschen, die sowieso schon benachteiligt sind. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter bemerken häufig als erste Berufsgruppe die sozialen Folgen von Krisen und müssen sich in ihren Zugängen zu den Adressatinnen und Adressaten, ihren Arbeitsmethoden und ihren Organisationen darauf einstellen.
Die erste Auflage dieses Buches erschien 2016, als in Europa eine verstärkte Zuwanderung von Menschen aus den vor allem syrischen Kriegs-und Krisengebieten zu verzeichnen war. Nun, da die zweite Auflage erscheint, wird Mitteleuropa – im besten Fall – die Corona–Krise weitgehend überwunden haben. Doch zu Beginn dieses Jahres hat Russland die Ukraine mit einem Angriffskrieg überzogen und eine neue Fluchtwelle in noch deutlich größerem Ausmaß trifft Europa und damit auch Deutschland. Mit der Unterstützung, Unterbringung, Versorgung und Integration der Geflüchteten werden zu einem erheblichen Anteil auch Fachkräfte und Organisationen Sozialer Arbeit befasst sein. Soziale Arbeit ist ein weiterhin anwachsendes Berufsfeld, schon gar unter Krisenbedingungen.
Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind auf die Bearbeitung individueller sozialer Problemlagen spezialisiert, auch wenn sie als Folgen übergreifender gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen entstehen. Dokumentationsaufgaben sind dabei Querschnittsaufgaben, die in allen Tätigkeitsfeldern und arbeitsform- und methodenübergreifend anfallen.
Die Bedeutung des Schreibens und Dokumentierens in der Sozialen Arbeit wird von Taylor und White in drei wichtigen Aufgaben gesehen (Taylor/White 2000: 141ff.): Erstens darin, dass Dokumentationstexte in einer immer komplizierter werdenden Arbeitswelt als schriftliche Erinnerungshilfe für die Fachkräfte und Institutionen dienen. Die Qualität der Arbeit hängt dabei untrennbar mit der Qualität der schriftlichen Aufzeichnungen zusammen. Zweitens darin, dass Dokumentationstexte in den Sozialverwaltungen und sozialen Organisationen der Träger als Medien der Kontrolle und Legitimierung dienen. Durch Dokumentation wird gezeigt und nachgewiesen, ob die Aufgabenwahrnehmung den fachlichen und rechtlichen Standards entspricht. Und drittens darin, dass über die Schreibprozeduren und Schreibprodukte der professionellen Dokumentation kommunikative und interaktive Ordnungen hergestellt werden. Diese kommunikativen und interaktiven Ordnungen – also die Art und Weise, wie Fachkräfte untereinander und mit ihren Zielgruppen kommunizieren und interagieren – sind integrierter Teil der Hilfeumsetzung und beeinflussen die Wirkungen der Sozialen Arbeit.
Heiner hatte noch 2007 behauptet, dass durch die Aushandlungskulturen in kollegialen Teams und durch die einzelfallorientierte Arbeit in den Sozialinstitutionen „die Schriftlichkeit der Steuerung von Arbeitsabläufen […] zurück[tritt]“ (Heiner 2007: 207). Im Gegensatz dazu haben Prozeduren der Verschriftlichung im Arbeitsalltag von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern zugenommen. Zumindest für Allgemeine Sozialdienste in der Jugendhilfe lässt sich das als Zunahme der administrativen gegenüber den adressatenbezogenen Aufgaben empirisch belegen (Markert 2000: 71ff.; Beher/Gragert 2001: 237; Seckinger/Gragert/Peuckert/Pluto 2008: 12ff.). Dokumentation in Form von Kontaktdokumentationen, Entwicklungsberichten, schriftlichen Stellungnahmen, Hilfeplanprotokollen, Wirkungsnachweisen und Beiträgen zur statistischen Datenerfassung und damit zusammenhängende Schreibarbeiten binden im Arbeitsalltag enorm Zeit und Energie und stehen manchmal in direkter Konkurrenz zur Interaktionsarbeit mit den Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit.
Hinzu kommt die rapide fortschreitende Digitalisierung in allen Lebens- und Arbeitsbereichen, die auch die Soziale Arbeit betrifft (vgl. Kutscher/Ley/Seelmeyer (2015): 3ff.). Vor der Corona–Pandemie sind insbesondere die dokumentationsintensiven administrativen Arbeitsbereiche schon sehr weitreichend von der Digitalisierung erfasst worden. Die öffentlichen Verwaltungen unterstehen einer durchgreifenden Transformation hin zur eGovernance im Zuge der Umsetzung des Online–Zugangsgesetzes (Gesetz zur Verbesserung des Zugangs zu Verwaltungsdienstleistungen – OZG). Das OZG hat zum Ziel, alle Standarddienstleistungen den Bürgerinnen und Bürgern digital zugänglich zu machen. In den kommenden Jahren werden damit zusammenhängend auch alle internen Prozesse der öffentlichen Verwaltung digitalisiert. Neben dem erklärten Ziel einer besseren digitalen Zugänglichkeit öffentlicher Dienste wird damit auch eine durchgreifende Rationalisierungs- und Effektivierungsstrategie verfolgt, von der auch die sozialen Dienste berührt sind und die sich auf die Träger sozialer Arbeit auswirkt. Dies begründet sich nicht nur daraus, dass der öffentliche Dienst weiterhin unter Kostendruck steht, sondern darüber hinaus spielt auch der zunehmende Mangel an qualifizierten Arbeitskräften eine Rolle, der die Soziale Arbeit schon heute merklich betrifft.
Die Digitalisierung stellt einen medialen Transformationsprozess aller Kultur- und Gesellschaftsbereiche dar, der für die Soziale Arbeit sowohl Professionalisierungschancen als auch erhebliche Herausforderungen bereithält (s. Im Überblick: Digitalisierung). Da während der Corona-Pandemie zum Teil über Monate Kontakte beschränkt wurden, intensivierten die Organisationen ihr Bemühen, die Digitalisierung voranzutreiben als eine Möglichkeit, um die Kommunikation mit den Adressatinnen und Adressaten aufrecht zu erhalten. Im Kontaktberuf Soziale Arbeit wurde alles versucht, Beratung und Unterstützung unter Distanzbedingungen weiter zu ermöglichen – meistens auf digitalem Wege. Die Digitalisierung als Transformation aller Lebensbereiche hat durch die Corona-Pandemie insgesamt einen erheblichen Schub erhalten. Wie weitgehend diese Entwicklung die Soziale Arbeit als Beruf auf Dauer verändern wird, ist noch nicht absehbar.
Dokumentation Sozialer Arbeit ist zunehmend als digitale Dokumentation zu verstehen. Damit gilt einmal mehr, dass dieser eigenständige Arbeitsbereich innerhalb der Sozialen Arbeit eigene professionelle Anforderungen bereithält, auf die Ausbildung und Studium nicht immer optimal vorbereiten. Besonders in den sozialen Diensten in den öffentlichen Verwaltungen steigert sich durch die Digitalisierung der Standardisierungsgrad und damit der Druck, Arbeitsprozesse zu formalisieren, damit sie besser zu den Vorgaben der Fachsoftwaresysteme passen.
Dokumentationsaufgaben, die im Kontext öffentlicher Sozialverwaltungen anfallen, werden in ihrer „Verwaltungsförmigkeit“ oft als „fremder“, gar „fremdbestimmter“ Teil der professionellen Arbeit wahrgenommen. Das Bedienen der Dokumentationsroutinen wird beim Berufseinstieg im bürokratischen Arbeitsumfeld als selbstverständlich vorausgesetzt, ohne dass im Studium oder in der Praxisphase der Ausbildung ausreichend darauf vorbereitet wurde. In der Praxis treffen dann gerade bei der Dokumentation manchmal unterschiedliche oder gar entgegengesetzte Erwartungen aufeinander, wobei umfassende, aber unklar definierte fachliche Standards mit bürokratischen Vorgaben in Widerspruch geraten können.
Soziale Arbeit hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eigenständige Profession herausgebildet. Das war von einem Prozess fachlicher Weiterentwicklung, Ausdifferenzierung und Spezialisierung in nahezu allen Arbeitsfeldern begleitet. Die Arbeit wird in komplexen Hilfesettings geleistet, bei denen spezialisierte Fachkräfte und häufig auch unterschiedliche Organisationen und Hilfesysteme zusammenarbeiten. Dabei müssen die Aktivitäten unterschiedlicher Professionen, Organisationen, Hilfesysteme und Rechtskreise1 koordiniert werden. Dadurch steigen die Anforderungen an die Dokumentation, durch die Informationen gespeichert und kommuniziert, Koordinierungs- und Organisationsaufgaben verschriftlicht und zukunftsbezogene Planungen entwickelt werden müssen. Die Dokumentation als Querschnittsbereich Sozialer Arbeit wird für eine gute Arbeitsqualität immer bedeutender.
Dieses Buch ist als Einführung in die Dokumentation der Sozialen Arbeit konzipiert und richtet sich an Studierende und Lehrende an den Hochschulen, Berufspraktikantinnen und -praktikanten, Berufsanfängerinnen und -anfänger sowie berufserfahrene Fachkräfte. Es soll einen Einblick geben in Dokumentation als einem bislang unterbelichteten und äußerst relevanten Querschnittsbereich Sozialer Arbeit. Die sozialen Organisationen strukturieren und prozessieren die Soziale Arbeit, die in ihrem Rahmen geleistet wird, vermittels Dokumentation. Und nur auf der Basis von Dokumentation lässt sich die Arbeitsqualität im Hinblick auf professionelle Grundlagen, Umsetzung im praktischen Arbeitsalltag und die Strukturen der Organisationskontexte reflektieren, evaluieren und weiterentwickeln.
Der Anspruch des Buches ist, auf aktuelle, in der Praxis gelebte Dokumentationskulturen Bezug zu nehmen, gegenwärtige Dokumentationsformate und -anforderungen zu berücksichtigen und beispielhaft darzustellen und dynamische Entwicklungen aufzugreifen und kritisch zu reflektieren. Daraus ergab sich die unumgängliche Notwendigkeit, mit dieser zweiten, gründlich überarbeiteten und ergänzten Auflage die rasant fortschreitende Digitalisierungsentwicklung aufzugreifen und in das Buchkonzept zu integrieren.
Die digitale Transformation als technologie-getriebene Dynamisierung der Kommunikation und Interaktion verändert die Lebenswelten der Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit, die Arbeitswelten der Fachkräfte, die Organisationen und Organisationsumwelten, in denen sie arbeiten, die Infrastrukturen, die Geräte und die Technologie, die sie nutzen, die Art und Weise ihrer Kommunikation, das soziale Zusammenleben und die gesamten privat, beruflich und öffentlich genutzten Medien.
Damit stellt die Digitalisierung einen vielfältigen und in keiner Weise absehbaren Veränderungsprozess der gesamten Profession Soziale Arbeit dar, der sich auf alle ihre Aspekte auswirkt: Ihren Aufgaben- und Gegenstandsbereich, das berufliche Wissen, die Methoden und Interventionen und die professionellen Standards und Normen. Damit steht zu erwarten, dass das, was der Profession gegenwärtig als Grundlage dient und in diesem Buch als professionelle Grundlage der beruflichen Dokumentation präsentiert wird, sich ebenfalls verändern wird. Die digitale Revolution trifft die Soziale Arbeit als Interaktions- und Vermittlungsprofession ins Mark. Dabei beschränkt sich dieses Buch auf Aspekte der Digitalisierung, die sich auf Dokumentation beziehen.
Die Gliederung des Buches, die sich am Ablauf von Schreibprozessen und ihre Einbettung in den Arbeits- und Organisationsalltag orientiert, wurde grundsätzlich beibehalten. Einige Kapitel wurden aufgrund des hohen Überarbeitungsbedarfs neu formuliert. In anderen wurden nur wenige und kleine Ergänzungen und Korrekturen angebracht. Mehrere zusätzliche Kapitel wurden eingefügt, die sich ausdrücklich mit der Digitalisierung der Dokumentation Sozialer Arbeit beschäftigen. Beibehalten wurden die praktischen Hinweise anhand von Beispielen und die konkreten Schreibübungen und Mustergliederungen für unterschiedliche praktische Aufgabenzuschnitte.
Wichtige Fachbegriffe werden in Fußnoten und in Exkursen erläutert. Thematische Doppelungen waren aus Gründen der praktischen Handhabbarkeit nicht immer zu vermeiden.
Dokumentation, wie sie in diesem Buch verstanden wird, umfasst den Schriftverkehr, die Aktendokumentation und das schriftliche Informations- und Organisationsmanagement in den Sozialorganisationen in Papier- wie digitaler Form. Zusätzlich werden Formen des beruflichen Schreibens behandelt, die primär der fachlichen Reflexion dienen. Alle Schreib- und Dokumentationsaufgaben gehören als integrierter Teil zur Umsetzung der Hilfeprozesse. Sie werden entsprechend den Merkmalen und den fachlichen und ethischen Anforderungen der Profession entwickelt und dargestellt.
Um den Text anschlussfähiger an gegenwärtige Theoriediskurse zu machen, wurde der in der ersten Auflage verwendete Begriff der Institution durch den der Organisation ersetzt. Erst relativ spät hat sich die Soziale Arbeit als Profession mit den organisationsbezogenen Aspekten des Berufs beschäftigt. Der Organisationsbegriff reflektiert einen professionellen Ansatz, der handelnd und gestaltend alle Hierarchieebenen betrachtet – von der Fallarbeit bis zu den Planungs- und Leitungsfunktionen. Bei Literaturreferenzen wurde die jeweilige Terminologie übernommen.
Die gesetzlichen Bezüge wurden auf den zum Zeitpunkt des Erscheinens aktuellen Stand gebracht. Beispielsweise trat im Jahr 2021 eine neue Fassung des SGB VIII in Kraft. Der Text wurde auf dadurch notwendige Änderungen durchgesehen und, wenn nötig, aktualisiert.
Eingeschobene Exkurse (Im Überblick: …) geben einen kurzen Überblick über Themen von übergeordneter Bedeutung. Im Serviceteil werden in Fortbildungen häufig gestellte Fragen, Literaturreferenzen und Lösungsvorschläge für die Übungen präsentiert.
___
1 Als Rechtskreis wird ein institutionelles Hilfesystem bezeichnet, dessen Rahmenbedingungen auf einem bestimmten Sozialgesetzbuch beruhen. So regelt das SGB II die Grundsicherung für Arbeitssuchende über die JobCenter, das SGB III die Arbeitsförderung durch die Arbeitsagentur, die SGB IV bis VII und das SGB XI die allgemeinen Sozialversicherungen, das SGB VIII die Jugendhilfe, das SGB IX die Behindertenhilfe und das SGB XII die Sozialhilfe. Die Angebote unterscheiden sich hinsichtlich der Abrechnungs- und Kostenstruktur, der Organisations- und Arbeitsformen und der Professionen der Fachkräfte. Zur ganzheitlichen Aufgabenwahrnehmung und zur Vermeidung von Parallelstrukturen werden rechtskreisübergreifende Kooperationen umgesetzt; aktuelles Beispiel: Jugendberufsagenturen unter Beteiligung von JobCenter, Agentur für Arbeit und Jugendhilfe am Übergang zwischen Schule und Beruf.
***
Sie möchten gern weiterlesen?
Jetzt „Schreiben und Dokumentieren in der Sozialen Arbeit“ versandkostenfrei im Budrich-Shop bestellen
→ Interview mit Autorin Ute Reichmann
Die Autorin
Nach einem vielfältigen Studium und selbstständigen Tätigkeiten im Bereich Kunst und Theater arbeitete Ute Reichmann mehr als zwanzig Jahre in verschiedenen Positionen und Funktionen in der Sozialen Arbeit. Berufsbegleitend war sie forschend und in der Hochschullehre tätig und promovierte in Sozialer Arbeit. Lange Jahre war Ute Reichmann eine der Sprecher*innen des Netzwerks für rekonstruktive Soziale Arbeit. Inzwischen ist sie als Fachbereichsleiterin in einer großen Kommunalverwaltung tätig.
Über „Schreiben und Dokumentieren in der Sozialen Arbeit“
Schreiben und Dokumentieren sind wichtige Bestandteile der Organisation Sozialer Arbeit. Diese Einführung reflektiert die institutionelle Dokumentationskultur innerhalb der Sozialen Arbeit und diskutiert berufsspezifisch angemessene Standards schriftlicher Kommunikation. Das Buch bietet anwendungsorientierte Hilfen und Übungen zur Verbesserung der professionellen Schreibkompetenz und gibt Textbeispiele für verschiedene Aufgabenbereiche. Es richtet sich damit an Studierende wie Lehrende und neue wie erfahrene Fachkräfte Sozialer Arbeit. In dieser gründlich überarbeiteten Neuauflage wird außerdem das Transformationsthema Digitalisierung praxisorientiert vorgestellt und diskutiert: Welche Entwicklungsmöglichkeiten werden eröffnet und können Effizienzversprechen eingelöst werden?
© Titelbild gestaltet mit canva.com