„Professionalität und Professionalisierung in pädagogischen Handlungsfeldern: Soziale Arbeit“: Leseprobe

Grünes Mosaik. Professionalität und Professionalisierung

Eine Leseprobe aus „Professionalität und Professionalisierung in pädagogischen Handlungsfeldern: Soziale Arbeit“ von Fritz Schütze.

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Professionalität und Professionalisierung in pädagogischen Handlungsfeldern: Soziale Arbeit

Kapitel 3: Die Professions- und Wissenschaftsarchitektur der Sozialarbeit

Sozialarbeit ist, wie ich schon eingangs angedeutet habe, zunächst einmal eine Profession und keine Wissenschaftsdisziplin an sich und für sich – wie das auch nicht die Medizin ist. Der Sozialen Arbeit als Profession liegt ein komplexer Wissenschaftsaufbau zugrunde, wie das auch – in noch höherem Maße – in der Medizin als Profession der Fall ist. In den beiden Professionen gibt es aber auch professionalistische Wissensbestände, die nicht aus den jeweiligen wissenschaftlichen Fundierungsdisziplinen abgeleitet werden können. Dabei handelt es sich um handlungs- und personenbezogene Erfahrungs- und Reflexionsbestände, die freilich sozialwissenschaftlich vertieft und systematisiert werden können. Das gilt im Übrigen auch für die Medizin. Dort in der Medizin geht es um implizite Wissensbestände wie „volkswissenschaftliche“ Vorstellungen (Herzlich, Flick u. a. 1998) von Gesundheit, Krankheit und Physiognomien von Krankheit, die als „Alltagsmenschen“ auch Ärzte haben, und um die Typisierungen der Ärzte von ihren Patienten und von deren Fähigkeiten, Bereitschaften und Verpflichtungsgefühlen, an den medizinischen Behandlungsregimen mitzuwirken. In beiden Professionen gibt es zudem metaprofessionell-reflexive Einschätzungs-, Klärungs- und Kritikverfahren, die sich mit den Fehlern bei der Arbeit und mit den Paradoxien des professionellen Handelns beschäftigen (in der Medizin z. B. Balintgruppen; in diesem besonderen Klärungsarrangement ist die Bereitschaft, über eigene Fehler zu kommunizieren und zu reflektieren, enorm hoch.) Die Aussage, dass die Soziale Arbeit keine Wissenschaft, sondern „nur“ eine Profession ist, bedeutet entsprechend keineswegs, dass sie nicht im Zuge ihrer Arbeit fortlaufend erkenntnisgenerierend wäre. Durch ihre permanenten Erkundungs-, Analyse- und Reflexionsaktivitäten schafft sie – sobald ihre Aktivitäten nicht ausschließlich automatisiert (in Reaktion auf eindeutige Kategorisierungen von Aktivitätsnotwendigkeiten) ablaufen, was bei guter Sozialer Arbeit nur in wenigen Bereichen von beruflichen Standardverrichtungen der Fall ist – einen virulenten Nachdenk- und Erkenntnisüberschuss. Dieser fortlaufende Erkenntnisdruck animiert die eigenständigen Erkundungsaktivitäten der sozialen Arbeit und die thematisch entsprechenden Forschungsaktivitäten der Sozialwissenschaften, wenn letztere sich denn mit Problemstellungen der Sozialen Arbeit beschäftigen und auf die Stimmen dort – sowohl auf die der Professionellen als auch auf die der Klienten – hören, zu neuartigen Fragestellungen und Forschungsanstrengungen. Im Gegensatz zu vielen anderen Forschungsanstrengungen in den Sozialwissenschaften sind diese Fragestellungen fall-, prozess- und fehleranalytisch; sie sind in den konventionellen Sozialwissenschaften traditionell wegen des seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts dominanten statistisch-repräsentativen Generalisierungsinteresses und des (jeweils einzelgesellschafts-bezogenen) Kollektivaussagen- Interesses vernachlässigt worden.

Zudem ist auch noch festzustellen, dass die Fragestellungen der Sozialen Arbeit wegen des Totalisierungscharakters sozialer Probleme einen die wissenschaftlichen Disziplingrenzen überschreitenden Charakter haben. Sozialarbeit bringt wegen der Problemstellungen der Klienten immer wieder neue Hybridgebiete der professionellen Praxis und damit dann auch der kreativen wissenschaftlichen Problem- und Handlungsforschung hervor: z. B. die Erforschung der Problem- und Handlungsfelder der Suchttherapie, der Schulsozialarbeit, der Mediation, der Schuldnerberatung, der Jugendgerichtshilfe (vgl. Kraimer 2013), der Betreuung von besonders stigmatisierten und ausgegrenzten Migrationsgruppen, der psychosoziale Beratung im Kontext von Pränataldiagnostik, an der auch Sozialarbeiterinnen mitwirken (Ackermann 2005) sowie der psychosoziale Beratung im Bereich der humangenetischen Kinderwunschbehandlung, bei der die psychosoziale bzw. sozialarbeiterische Beratungszuwendung empfindlich fehlt, sobald die Behandlungssituation schwierig wird, weil sich kein Erfolg einstellt (vgl. Hoffmann 2017). Diese neuen grenzüberschreitend-interdisziplinären Forschungsgebiete erzwingen fortlaufend neuen Forschungsbedarf, wie das auch in den Grenzbereichen der Medizin z. B. bei der Behandlung der als psychosomatisch angesehenen oder der vermutlich durch Autoimmunreaktionen hervorgerufenen Krankheiten der Fall ist (vgl. Werwick 2012 sowie Perleberg, Schütze und Heine 2006). Die entsprechenden „forschungsprovozierenden“ Hybridgebiete entstehen und existieren mit besonderer Notwendigkeit gerade auch im Gesamtfeld der Sozialen Arbeit (einschließlich der Sozialpädagogik), weil diese Profession wegen des Totalitätszuschnitts ihrer Fallprobleme das „gesamte Leben“ impliziert und deshalb zur fortlaufenden interdisziplinären Grenzüberschreitungen gezwungen ist. Diese Grenzüberschreitungen überspringen z. T. sogar die fachliche Gesamteingrenzung der Sozialwissenschaften; sie führen teilweise weit in die Fachgebiete der Medizin, der Psychologie, der Rechtswissenschaften und der Wirtschaftswissenschaften hinein.

Man kann also mit gutem Gewissen behaupten, dass die Soziale Arbeit eine intensiv und extensiv erkenntnisgenerierende Profession ist, die viele neue Forschungsfragestellungen und sogar Forschungsfelder anregt, obwohl sie selbst keine Wissenschaft im eigentlichen Sinne ist. Im Folgenden möchte ich kurz den Professionsaufbau der Profession der Sozialen Arbeit, ihre Wissenschaftsfundierung und die generelle Struktur ihrer Arbeitsbögen in drei Aufzählungslisten wichtiger Merkmale schematisieren.

 

3.1 Die Professionsmerkmale der Sozialarbeit

Die Professionsmerkmale der Sozialarbeit sind – grob skizziert – folgende:

a) Die Profession der Sozialarbeit verfügt über eine höhersymbolische Sinnwelt, die akademisch in einem Studium innerhalb einer „Professionsschule“ angeeignet werden muss. Dieses Studium beinhaltet:

− den Zugriff auf Fundierungswissenschaften wie (verstehende) Psychologie bzw. Psychotherapie17, Erziehungswissenschaft, Soziologie und Ethnologie (letzteres in den lateinamerikanischen Ländern),

− die hybridisierende Kombination von Wissenschaftsdisziplinen im professionellen Arbeitsbogen unter der Orientierungsleitung von Praxisfragestellungen,

− die Aneignung von Untersuchungsstrategien der Problembearbeitung sowie

− die Einübung in generelle Interventionsstrategien.

b) Die Profession der Sozialarbeit weist einen intensiven Klientenbezug auf; es geht stets um die Untersuchung und Bearbeitung der historischen Fallsituation des Klienten.

c) Der professionelle Beruf der Sozialarbeit liefert der Sozialarbeiterin biographische Sinnquellen; er wird, wie das schon Everett Hughes (1971, S. 326–359, 364–386) konstatierte, zum integralen Teil ihrer persönlichen Identität.

d) Umgekehrt werden auch die eigenen biographischen Erfahrungen (außerhalb von Sozialarbeitsthematiken im engeren Sinne) zu zentralen Sinnquellen und zur wichtigen Erkenntnisressource im Zuge der professionellen Erkundungs- und Interventionsarbeit, aber auch in der diese fundierenden fallbezogenen qualitativ-rekonstruktiven Forschungsarbeit.

e) Sozialarbeiterinnen zeichnet wie Ärzte eine ambivalente, z. T. auch dezidiert kritische, Haltung gegenüber Organisation als fremdsteuernder Kontrolle und Handlungsplattform der eigenen professionellen Arbeit aus (Strauss et al. 1964/1981, Kap. 15 und 13, aber auch 5 und 12; Elliot Freidson 1975, Kap. 5 und 7).

f) Viele Sozialarbeiterinnen weisen wie auch viele Ärzte eine reflexive Bewusstheit gegenüber der grundlegenden Paradoxalität und dem systematischen Störpotential professioneller Arbeit auf, also insbesondere für die Paradoxien und systematischen Fehler bei der Arbeit. Wenn auch nicht jede Sozialarbeiterin – wie auch nicht jeder Arzt – in jeder Handlungssituation selbstkritisch und fehlersensibel ist, so wird aber doch die reflexive Bewusstheit im Kontext und im Wege von speziellen Metaklärungsverfahren wie Supervision, Balintgruppen, Fallbesprechungen usw. erwartet, eingeübt und zur professionellen Selbstkritiknorm gemacht.

g) Die Profession der Sozialarbeit verfügt wie die Profession der Medizin eindeutig über eine eigene höhersymbolische professionelle Sinn- und Sozialwelt, die Diskursarenen und zentripetale Orientierungsausrichtungen der professionellen Akteure auf diese Diskursarenen aufweist. In den Diskursarenen laufen Debatten über die Authentizität echter und unechter professioneller Arbeit – in der Medizin „Quacksalbereien“ genannt – ab. In den Diskursarenen – oft auch in Verbindung mit dem kleineren sozialen Reflexions- und Diskursrahmen von Einzelsupervisionen und (vornehmlich heterogen zusammengesetzten, d. h. einrichtungsdivergenten und -unabhängigen) Gruppen-Supervisionen, welche die größeren Tagungs- und Publikations-Diskursarenen noch zusätzlich fundieren sowie thematisch und stilistisch speisen – finden auch Debatten über Kriterien der Authentizität und umgekehrt auch über Kriterien der Kritik an der Fehlerhaftigkeit des professionellen Sozialarbeitshandelns statt, wie das z. B. in der Medizin mit Debatten über alternativmedizinische Behandlungsverfahren der Fall ist.

h) Länger als in den übrigen Professionen sind in der Sozialarbeit hybridisierende Vermischungen unterschiedlicher fundierungswissenschaftlicher theoretischer und methodischer Erkenntnisressourcen angegangen und ausprobiert worden, und diese Hybridisierungen sind grundsätzlich erkenntnisproduktiv, solange sie nicht die Identität der Sozialarbeit als Profession zerstören. Dies würde z. B. der Fall sein, wenn Sozialarbeit als Spezialgebiet der Psychotherapie oder ausschließlich als außerschulische Bildungsarbeit angesehen würde. Hybridisierungen sind grundsätzlich kreativ; sie bringen grenzüberschreitende Ideen und Objekte hervor. So führte in Soziologie und Linguistik die sequenzialistische Betrachtungsweise von sprachlichen Interaktionsaktivitäten zur Entdeckung der „turn-taking machinery“, des Systems der Regeln des Sprecherwechsels, das von dort aus seinen Siegeszug durch Linguistik, Ethnolinguistik, Schulpädagogik, Psychotherapie-Forschung usw. antrat (vgl. Sacks, Schegloff und Jefferson 1974; vgl. auch Kallmeyer und Schütze 1976, S. 14f ). In der frühen Sozialarbeit bei Mary Richmond führten hybridisierende Betrachtungen zwischen Sozialarbeit, sozialphänomenologischer Betrachtung und Psychiatrie zur symbolischen und symptomatischen Interpretation von stilistisch auffälligem Alltagsverhalten von Klienten als verdecktem Ausdruck von tieferliegenden Problembefindlichkeiten (s. im vorstehenden Kap. 2 das Beispiel der symbol-interpretativ umsichtigen Sozialarbeit mit Winifred Jones, das sich bereits vor fast einhundert Jahren ereignet hat. – Richmond 1922).

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17 Zur Einschränkung der Zuschreibung des Charakters einer Fundierungsdisziplin (zur partiellen Grundlegung der Profession der Sozialen Arbeit) auf die verschiedenen Varianten der verstehenden Psychologie und Psychotherapie siehe die erste Anmerkung in Unterkapitel 9.5.

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3D Cover SchützeFritz Schütze: Professionalität und Professionalisierung in pädagogischen Handlungsfeldern: Soziale Arbeit

Professionalität und Professionalisierung pädagogischen Handelns, Band 3

 

 

Der Autor

Prof. Dr. Fritz Schütze, Professor für Allgemeine Soziologie/Mikrosoziologie (pensioniert), Institut für Gesellschaftswissenschaften, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Die Reihenherausgeberin

Prof. Dr. Cathleen Grunert, Arbeitsbereich ,Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Soziokulturelle Bedingungen von Erziehung und Bildung‘, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

 

Über „Professionalität und Professionalisierung in pädagogischen Handlungsfeldern: Soziale Arbeit“

Im Mittelpunkt des dritten Bands dieser Reihe steht die professionelle Arbeitslogik der Sozialen Arbeit, die Autor Fritz Schütze in der Fallanalyse und Fallarbeit verankert sieht. Diese Perspektive wird anhand zahlreicher empirischer Beispiele ausformuliert. Der Band deckt Kernprobleme beruflicher Anforderungen der Sozialen Arbeit und die professionellen Handlungsmittel ihrer Bearbeitung auf. Reflexionsfragen ermöglichen den Leser*innen eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Text.

 

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