Beeinflussen politische Meinungsumfragen Wahlen?

Zwei Personen sitzen am Tisch und führen ein Interview. politische Meinungsumfrage

Politische Meinungsumfragen: Ihnen wird oft vorgeworfen, Meinungsbildung ungebührlich zu beeinflussen.

In Deutschland gab es eine entsprechende Kontroverse erstmals nach der Bundestagswahl von 1965. Zwei Umfrageinstitute hatten zuvor ihre letzten Vorhersagen bei einem Notar hinterlegt. Am Wahlabend wurden sie geöffnet und verglichen. Insbesondere die Allensbacher Prognose traf das Ergebnis gut – ein Sieg der CDU. Allerdings hatte man in den Wochen davor abweichende Zahlen veröffentlicht, die ein Kopf-an-Kopf-Rennen nahelegten. Prompt wurden Vorwürfe laut, man habe die korrekten Zahlen bewusst zurückgehalten, um der CDU bei der Mobilisierung zu helfen.

Bis heute fürchten viele Politiker*innen derartige Einflüsse. Seit den 1970er Jahren führten daher mehrere Länder Gesetze ein, die die Veröffentlichung von Umfragen vor Wahlen einschränken.

 

Welche Wirkungen haben politische Meinungsumfragen?

Es gibt unterschiedliche Annahmen, um welche Einflüsse es sich konkret handelt.

Verbreitet ist die These eines Mitläufereffekts, demzufolge ungefestigte Wähler*innen eher der Seite der Gewinner*innen zuneigen. Zudem werden Effekte der Mobilisierung und Demobilisierung angenommen, also darauf, wer überhaupt zur Wahl geht oder nicht. Die Besonderheiten des deutschen Wahlsystems legen schließlich spezifische Einflüsse wie den „Fallbeil-Effekt“ nahe: Parteien, die in den Umfragen unterhalb der 5%-Hürde bleiben, würden demnach erst recht nicht gewählt.

Bereits der abwertende deutsche Name des Mitläufereffekts zeugt dabei von der normativen Aufladung der Debatte: Als „Mitläufer“ bezeichnete man im Zuge der Entnazifizierung ja Personen, die aus Opportunismus den NS unterstützt hatten.

Wie stark derartige Effekte tatsächlich sind, ist in der Forschung aber umstritten. Sie trennscharf zu isolieren, ist methodisch schwierig. Zudem kommt es stark auf das Wahl- und Parteiensystem an. Britische Unterhauswahlen etwa laufen meist auf einen klaren, übersichtlichen Zweikampf hinaus. In Ländern mit komplizierten Mehrparteienkoalitionen lassen sich Gewinner und Verlierer hingegen gar nicht immer klar antizipieren, da es gut möglich ist, dass die stärkste Fraktion nicht die Regierung stellt – der unterstellte Mitläufer müsste sich dann fragen, ob er die mutmaßlich stärkste Partei oder diejenige mit den besten Koalitionsaussichten wählen soll.

Grundbedingung für alle unterstellten Effekte bleibt, dass politische Meinungsumfragen richtig wahrgenommen werden. Schon das ist nicht banal. Generell nehmen Politiker*innen Umfragen nämlich viel aufmerksamer wahr als die meisten Wähler*innen. Den größten Effekt haben politische Umfragen daher womöglich gar nicht auf eine fluide Wechselwählerschaft, sondern auf die eigene Partei, die durch gute Zahlen beflügelt und durch schlechte deprimiert wird.

Eine besondere Stellung kommt Umfragen daher in parteiinternen Vorwahlen zu, wie es sie in den USA gibt. Denn hier geht es ja eben darum, sich dem eigenen Lager als zukünftiger Gewinnertyp zu verkaufen.

 

Warum sind Umfrageeffekte ein Problem?

Warum genau soll all das problematisch sein? Diese Frage wird selten explizit gestellt. Im Hintergrund steht aber oft ein spezifisches Ideal eigenständiger Staatsbürger*innen, deren Entscheidungen möglichst individuell erfolgen sollen, um die demokratische Qualität der Wahl sicherzustellen.

Diese Vorstellung ist in eine Tradition eingebettet, die bis zur Debatte über die Geheimwahl in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann. Die damals in etlichen Ländern eingeführten Maßnahmen zur Wahrung des Wahlgeheimnisses – Wahlkabinen, standardisierte Urnen, verschließbare Umschläge usw. – sollten darauf hinwirken, dass die Wähler (vorwiegend noch Männer), deren Zahl durch die Erweiterung des Wahlrechts anwuchs, auch mündig und vernünftig wählten. Man glaubte, gerade neue Wählerschichten seien durch Angst oder Korruption noch leicht zu beeinflussen und müssten abgeschirmt werden. Die geheime Wahl sollte Schutz bieten vor handfester Einmischung durch lokale oder religiöse Autoritäten. Sie sollte zugleich die innere Abwägung qualitativ verbessern, indem sie dem Gewissen und der Reflexion Freiraum verschaffte.

Demselben Ziel dienen bis heute viele bekannte Regelungen des Wahlrechts. In der Bundesrepublik untersagt das Bundeswahlgesetz jegliche „Beeinflussung der Wähler durch Wort, Ton, Schrift oder Bild“ in der Nähe von Wahllokalen. In Frankreich dürfen am Wahltag grundsätzlich keine Wahlkampfbotschaften mehr verbreitet werden. Es ist also durchaus im Selbstverständnis der meisten Demokratien verankert, dass Wahlen in einer besonderen inneren Haltung begangen werden sollen, abgesetzt gegenüber dem Getöse des Wahlkampfes.

In der Debatte über die politischen Meinungsumfragen verband sich diese ältere Tradition dann mit zeitgenössischen sozio­logischen Theorien des „außen-geleiteten Menschen“ (David Riesmann), der keinen verbindlichen inneren Kompass mehr besitze. Durch die Fixierung auf Umfragedaten werde die Demokratie in ein oberflächliches Spiegelspiel gegenseitiger Beobachtung und Taxierung verwickelt, statt auf der individuellen Prüfung von guten Gründen zu beruhen.

 

Das Gegenmodell: Politische Meinungsumfragen als Rationalisierungschance

Dass die Rationalität des Urteils angegriffen sei, weisen die Befürworter*innen der Umfragen allerdings zurück. Der französische Demoskop Michel Brulé schrieb schon im Jahr 1969, falls Umfragen tatsächlich einen Einfluss ausüben, sei dieser vielmehr zu begrüßen. Anspruchsvolle Demokratietheorien, so ein zentrales Argument der Verteidiger*innen, sähen ja gerade vor, dass die Bürger*innen strategisch wählen, damit ihre Stimme möglichst effektiv wirkt.  Soll z.B. eine bürgerliche Wählerin die FDP wählen, um ihr über die 5-Prozent-Hürde zu helfen? Oder doch die CDU, um einen sozialdemokratischen Kanzler zu verhindern?

Solche Abwägungen lassen sich begründet erst anhand belastbarer Daten vornehmen. Das Verständnis der Wahl nähert sich damit der ökonomischen Theorie der Demokratie von Anthony Downs an. Letzterer nannte eine Wahl genau dann rational, wenn sie darauf abziele, wie im Hinblick auf gegebene Präferenzen der größte Nutzen erreicht werde. Sobald mehr als zwei Parteien antreten, werde es daher zentral, „vorauszusagen, wie andere Bürger wählen werden“. An die Stelle des Ideals der unabhängigen Wahl tritt jenes der informierten Wahl: Je mehr Informationen über die Absichten anderer, umso rationaler (potenziell) das Urteil.

Bei Downs war das noch eine Modellannahme. Politische Meinungsumfragen traten jedoch an, es effektiv und für alle zu verwirklichen. Die Hoffnung war, dass solche Kalküle grundsätzlich eine vernünftigere Wahlentscheidung hervorbringen als Tradition, Konformismus oder Empfehlungen durch Medien.

 

Für einen reflektierten, mündigen Umgang

Beiden Deutungen stehen sich bis heute oft unversöhnlich gegenüber. Beide können sich dabei auf demokratische Grundsätze beziehen, die man ernst nehmen muss. Demoskop*innen rücken Beschränkungen der politischen Meinungsumfragen vor Wahlen teilweise vorschnell in die Nähe autoritärer Angriffe auf die Pressefreiheit und übersehen dabei die Verwandtschaft zu anderen etablierten Bestimmungen unseres Wahlrechts. Umgekehrt vergessen manche Kritiker*innen, dass Politik durchaus nicht nur eine einsame Gewissensfrage, sondern auch ein interaktives Geschäft ist.

Der erste Schritt zu einem mündigen Umgang mit Umfragen, etwa in der Politischen Bildung, wäre daher, diese unterschiedlichen Logiken explizit zu reflektieren – und sich dann zu fragen, welches Anliegen in der eigenen, gegenwärtigen Gesellschaft eher revitalisiert werden müsste.

 

Der Autor

Michel Dormal

Dr. Michel Dormal ist Privatdozent am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen, wo er 2024 habilitiert wurde. Vorher arbeitete er an den Universitäten Trier und Luxemburg, wo er über politische Repräsentation und Nationsbildung promovierte. Er publizierte u.a. in der Zeitschrift für Politische Theorie und der Femina Politica. Zuletzt befasste er sich mit dem Kohle-Konflikt im Rheinischen Revier und wagte sich in diesem Zuge auch auf das Terrain der Podcast-Produktion.

 

Über „Meinungsforschung und Demokratie“

Politische Meinungsumfragen sind heute allgegenwärtig. Seit jeher provozieren sie aber auch erbitterte Widerstände. Das Buch bietet eine umfassende Analyse der demokratischen Versprechen der Demoskopie und ihrer Fundamentalkritik von den Anfängen bis in die Gegenwart. Michel Dormal entwickelt einen konzeptionellen Vorschlag, wie die Rolle der Umfragen in der komplexen Demokratie der Moderne begriffen und gestaltet werden kann.

 

© Foto Michel Dormal: privat | Titelbild: pexels.com | Alex Green