„Politik im Zeitnotstand“: Leseprobe

Cover Jürgen P. Rinderspacher Politik im Zeitnotstand

Eine Leseprobe aus Politik im Zeitnotstand. Katastrophen, Krisen, Kriege, Transformationsprozesse von Jürgen P. Rinderspacher, Kapitel „Einleitung“.

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1 Einleitung

Dass wir in Krisenzeiten leben, scheint spätestens seit der Bundestagsrede von Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar 2022, in der er eine „Zeitenwende“ propagierte, zur neuen Normalität unseres Daseins zu gehören. Diese Normalität ist gekennzeichnet von einer Reihe von Bedrohungslagen (Möllers/van Ooyen 2023), die uns rund um die Uhr in den Leitmedien und den sozialen Netzwerken in allen Einzelheiten präsentiert werden. Und obwohl wir sie inzwischen im Schlaf aufzählen können, bleibt es letztlich bei dem diffusen Unbehagen, die Welt sei aus den Angeln geraten und wir könnten im Grunde nur wenig dagegen tun. Dieses Buch will in aller Bescheidenheit dazu beitragen, mehr Licht in dieses Dunkel zu bringen, indem es einen zentralen Treiber dieser Entwicklung ausleuchtet – den Faktor Zeit1.

Der Begriff Kipppunkt ist ebenfalls in aller Munde und bezeichnet eine Situation, in der es kein Zurück mehr gibt, wenn ein sich selbst beschleunigender Prozess aus dem Ruder läuft. Immer öfter hechelt die Politik mit ihren Bemühungen, eine Normalität herzustellen, die wenigstens so ähnlich ist, wie die, die wir einmal kannten, den Naturgesetzen und anderen Dingen, die nicht verhandelbar sind, hinterher: Bei der Bewältigung von Naturkatastrophen durch Feuer, Wasser, Erdbeben; beim Versuch der Bewältigung von Pandemien, die durch ein milliardenfaches, sich nach seiner eigenen Logik vermehrendes Virus unser Alltagsleben ins Kippen bringen; aber auch durch einen Krieg, den zwar Menschen angezettelt haben und in dem es Menschen sind, die sich unsägliches Leid antun, der aber nicht einfach durch menschliches Tun wieder einzufangen ist, wenn er erst einmal entbrannt ist.

Wie weit müssen wir uns – Politik und Zivilgesellschaft und jede*r Einzelne – dem Diktat des Faktors Zeit überhaupt unterwerfen? Im Zusammenhang mit dem Klimawandel hört man immer wieder, dass die Natur – auch und insbesondere in zeitlicher Hinsicht – nicht mit sich verhandeln lasse. Entsprechende Protestaktionen auf den Straßen, die den Verkehrsteilnehmer*innen zeitweilig die Bewegungsfreiheit nehmen, werden genau damit gerechtfertigt. Ebenso wie der starke Druck, den der Staat auf Haubesitzer*innen oder Fahrzeughalter* innen ausübt, sich durch eine Transformation ihrer privaten Lebensweise am großen gesellschaftlichen Ziel einer klimaneutralen Gesellschaft, die schon sehr bald erreicht sein soll, zu beteiligen, auch mit eigenem Geld. Doch immer öfter stellt sich heraus: Je mehr der Faktor Zeit im Spiel ist, der in der einen oder anderen Weise zum Handeln drängt, desto größer ist auf der anderen Seite die Gefahr sozialer Verwerfungen und der Aushöhlung demokratischer Strukturen in unserem Land. Beispielsweise bedeutet die Beschleunigung von Verfahren zur Errichtung von Windkraftanlagen (Hoeft et al. 2017; Braun 2023) durch ein „überragendes öffentliches Interesse“, das die Bundesregierung seit 2022 in solchen Fällen beansprucht, eine Einschränkung von – tatsächlich sehr zeitraubenden – Partizipations- und -Widerspruchsrechten der Bürger*innen, die sich diese im Sinne von „mehr Demokratie wagen“ seit Willy Brandts Zeiten gegen einen seinerzeit wenig bürgerfreundlichen Staat erkämpft haben.

Unter anderem um dieses Dilemma geht es. Der regierungsamtlich erklärte Zeitnotstand scheint immer öfter das Soziale an der sozial-ökologischen Transformation zu verhindern. Der Zeitnotstand schleift, ob in diesem Kontext oder im Verlauf der Corona-Pandemie, die Burg bürgerlicher Freiheitsrechte, lässt selbst Anti-AKW-Aktivist*innen die Gefahren der Kernkraft relativieren und nicht wenige Ostermarschierer zu Militärexperten werden, die sich nun, angesichts des Überfalls auf die Ukraine, für die Lieferung von Kampfflugzeugen ins Zeug legen. Ein Dilemma, wie gesagt, von dem niemand behaupten kann, die Lösung in der Tasche zu haben oder gar davonzukommen, ohne in der einen oder anderen Form Schuld auf sich zu laden.

Dieses Buch begibt sich mitten in dieses Spannungsfeld hinein. Der Plan ist, aus Sicht der sozialwissenschaftlichen Zeitforschung zu untersuchen, in welcher Weise und in welchem Ausmaß der Faktor Zeit beim bisherigen Gang der Dinge in Katastrophen, Krisen, Kriegen und Transformationsprozessen eine Rolle gespielt hat und welche Rolle er künftig spielen wird. Wer eigentlich bestimmt hier das Tempo – und mit welcher Berechtigung? Braucht es nicht mehr Synchronität und Koordination der Einzelmaßnahmen beim sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft? So liefern sich die Akteure der etablierten Politik untereinander und mit den zivilgesellschaftlichen Klimaaktivist*innen wöchentlich einen medialen Überbietungswettbewerb in Sachen „Ausstieg aus…“ und „Verbot von…“, der, weit weg von den trägen Gesetzen tatsächlichen gesellschaftlichen Wandels, den Bürgerinnen und Bürgern zunehmend als bloße Spiegelfechterei erscheint.

Um diese Zusammenhänge zu erhellen ist es hilfreich, abwechselnd sowohl die Perspektive des einzelnen Bürgers/der einzelnen Bürgerin einzunehmen, als Aktivist*in und Betroffene(r), als auch die Sicht der etablierten Politik. Erstere sind vertreten – daran muss hin und wieder erinnert werden – von jenen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes, die sich bereit erklärt haben, auch in Zeiten multipler Krisenlagen, die kaum zu stemmen sind und in denen es nur wenig Lorbeer zu gewinnen gibt, dennoch das Abenteuer der grundlegenden Umgestaltung der alten Karbon-Gesellschaft und das Versprechen des guten Regierens in denkbar unsicheren Zeiten zu wagen. Dabei gilt „bad governance“ in aller Welt für sich als einer der großen Krisenfaktoren. Die allseits bestätigte Krise der Demokratie als Staatsform lädt nicht eben dazu ein, sich ernsthaft darin zu engagieren; nicht zufällig sind ehrenamtliche Bürgermeister*innen in den Kommunen zu einem knappen Gut geworden.

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1 Für Durchsicht, Korrekturen und viele gute Ideen danke ich Dietrich Henckel, Uwe Becker und Stefan Boes, ebenso Hilke Bauermeister für die kreative fachliche Beratung. Mein ganz besonderer Dank geht an meine Frau Sabine Rinderspacher; ohne die vielen Gespräche über Einzelthemen des Buches wären manche Kapitel nicht entstanden. Und ohne den sanften Zeitdruck und viel Ermutigung hätte dieser Band wahrscheinlich nicht recht-zeitig erscheinen können. Meine liebe Tochter Elena hat mir sehr geholfen, indem sie die Abbildungen angefertigt hat. Allen vielen herzlichen Dank dafür! Mein Dank geht nicht zuletzt an den Lektor dieses Bandes, Herrn Bergstermann, für die kooperative, unterstützende Zusammenarbeit, die viel Spaß gemacht hat!

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3D Cover Jürgen P. Rinderspacher Politik im Zeitnotstand 150 pxJürgen P. Rinderspacher:

Politik im Zeitnotstand. Katastrophen, Krisen, Kriege, Transformationsprozesse

Autoreninterview

 

 

 

Der Autor

Jürgen P. Rindespacher, Foto Lukas GruenkeDr. Jürgen P. Rinderspacher, Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften (IfES) der Universität Münster

 

 

 

Über „Politik im Zeitnotstand“

Zeitdruck ist zur zentralen Herausforderung für politisches Handeln geworden. Katastrophen, Krisen, Kriege und der große Transformationsprozess hin zur Klimaneutralität überlagern sich und gewähren wenig Spielraum für Kommunikation und demokratische Prozesse. Freiheit, Wohlstand und nicht zuletzt das Recht auf eigene Zeit scheinen durch die Gegenmaßnahmen der politisch Verantwortlichen immer öfter in Frage gestellt. Wenn allerdings nicht rechtzeitig gehandelt wird, sind diese Güter ebenfalls bedroht. Gibt es Wege, die aus diesem Rechtzeitigkeits-Dilemma herausführen?

 

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