Planwirtschaftsdebatte und radikale Demokratietheorie

ZPTh – Zeitschrift für Politische Theorie 2-2024: Planung als antwortende Politik? Eine radikaldemokratietheoretische Lesart der sozialistischen Planwirtschaftsdebatte

Planung als antwortende Politik? Eine radikaldemokratietheoretische Lesart der sozialistischen Planwirtschaftsdebatte

Samia Zahra Mohammed*

ZPTh – Zeitschrift für Politische Theorie, Heft 2-2024, S. 297-318.

 

Schlüsselwörter: Sozialistische Planwirtschaftsdebatte, Socialist Calculation Debate, demokratische Wirtschaftsplanung, radikale Demokratietheorie, Ökologie, Utopie

Zusammenfassung: Dass demokratisches Regieren sowie Ansprüche auf Freiheit und Gleichheit von der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer neoliberalen Gestalt der Gegenwart untergraben werden, ist insbesondere für zeitdiagnostisch ansetzende (radikale) Demokratietheorien nichts Neues. Dennoch bleiben die (Wieder-)Annäherungsversuche zwischen demokratietheoretischen und politökonomischen Diskussionen bisweilen zögerlich – wenn sie überhaupt stattfinden. Interessante Impulse für das wieder verstärkte Diskutieren politökonomischer Fragen unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten kommen aktuell aus einer Richtung, die seit dem Scheitern der sogenannten realsozialistischen Versuche des 20. Jahrhunderts in Verruf geraten ist: Vor dem Hintergrund veränderter gesellschaftlicher und technologischer Voraussetzungen wird neu über die Möglichkeiten und Implikationen demokratisch-sozialistischer Planwirtschaft diskutiert. Der Artikel argumentiert nun dafür, dass sich hier wichtige Anregungen für gegenwärtige Überlegungen zu Wirtschaftsdemokratie finden lassen. Konkret können sich durch eine radikaldemokratische Deutung der Planungsdebatte und durch eine planungsinformierte Perspektive auf radikaldemokratische Überlegungen beide Diskussionen in ihrem Nachdenken über eine gleichere, freiere und demokratischere Zukunft für alle und deren Bedingungen wechselseitig befruchten.

Abstract: The fact that democratic governance and claims to freedom and equality are being undermined by the capitalist mode of production and its neoliberal form is nothing new for theories of (radical) democracy. Nevertheless, the (re)rapprochement attempts between discussions of democratic theory and political economy remain hesitant – if they take place at all. Intriguing impulses for the renewed discussion of political economy issues from the perspective of democratic theory are currently coming from a direction that has fallen into disrepute since the failure of the so-called ‘really existing socialism’ of the 20th century: Against the backdrop of changed societal and technological conditions, the possibilities and implications of democratic-socialist planned economies are being discussed anew. This article argues that important ideas for current reflections on economic democracy can be found here. Specifically, through a radical democratic interpretation of the planning debate and through a planning-informed perspective on radical democratic considerations, both discussions can be mutually enriched in their thinking about a more equal, freer, and more democratic future for all and its conditions.

 

1. Einleitung

Die gegenwärtigen Produktions- und die damit zusammenhängenden sozialen und politischen Verhältnisse stellen ein Problem für eine kollektive demokratische Gesellschaftsgestaltung im emphatischen Sinn dar.1,2 Nicht nur unterlaufen neoliberale Subjektivierungsweisen und vermeintliche Sachzwänge im Namen eines Regierens für den Markt substantielles kollektives Entscheiden über das Zusammenleben (vgl. Brown 2019: 545 ff.). Darüber hinaus kennzeichnete die kapitalistische Produktionsweise von Beginn an ein widersprüchliches Verhältnis zur Freiheit. Ging diese historisch zweifelsohne mit weitreichenden Liberalisierungen einher, hat sie immer schon auch neue Formen der Unfreiheit hervorgebracht: Während die charakteristische doppelt freie Form der abhängigen Lohnarbeit diese Ambivalenz selbst noch beinhaltet (vgl. Marx 1977), zehrt der Kapitalismus gleichzeitig beständig von Formen der Unfreiheit, von denen Unterdrückung in Kontexten der Versklavung und der kolonialen Expansion sowie die Entwertung von Sorge- und Reproduktionsarbeiten nur einige Beispiele darstellen (vgl. beispielsweise Fraser 2022). Zudem wird bei einem Blick über die Gegenwart hinaus auch die Möglichkeit einer demokratischen Zukunft gerade von den Auswirkungen einer kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Ökonomie bedroht: Denn das Zerstören derjenigen Grundlagen, die Leben und damit ein demokratisches, freies und gleiches Soziales erst ermöglichen und selbst wiederum in vielfältiger Weise von diesem abhängen, lässt eine demokratische und freie Zukunft immer unwahrscheinlicher erscheinen. Verstärkt wird dieser ernüchternde Ausblick noch dadurch, dass rechter Autoritarismus und Faschisierung in großen Teilen der Welt und teils ebenfalls als Symptom und Folge des Neoliberalismus eher zu- als abnehmen (vgl. Flügel-Martinsen 2021: 84 ff.).

Wenn trotz dieser gegenwärtigen Lage, die wesentlich durch ihre ökonomische Struktur und deren Auswirkungen geprägt ist, eine nur zögerliche Rezeption gegenüber politisch-ökonomischen Analysen von Seiten der Politischen Theorie und Demokratietheorie zu beobachten ist, gilt dies in besonderem Maße gegenüber Versuchen, alternative, nichtkapitalistische Formen des Wirtschaftens und Zusammenlebens bereits jetzt – also vor ihrem tatsächlichen Eintreten – auszumalen. Insbesondere radikale Demokratietheorien, die ich in diesem Beitrag fokussiere, kritisieren zwar nachdrücklich die Uneingelöstheit der Versprechen von Freiheit und Gleichheit und stellen sich auf die Seite derer, die diese in politischen Prozessen erkämpfen (vgl. Comtesse et al. 2019: 12). Sie sind daher eine wichtige Ressource, um gerade in Krisenzeiten über die Demokratisierung der Demokratie und die Kritik der bestehenden Verhältnisse nachzudenken. Sie verwehren sich in der Regel jedoch gegenüber dem Entwerfen oder gar Begründen von zukünftigen Institutionen – nicht zuletzt aufgrund der Einsicht, dass auch andere Institutionen keine gänzlich herrschafts- oder gar machtfreien Verhältnisse ohne Ausschlüsse produzieren könnten (vgl. Comtesse et al. 2019: 13 ff.; Flügel-Martinsen 2020: 73; Nonhoff 2023). Radikale Demokratietheorien – sowie viele weitere Stränge kritischer Politischer Theorie – sehen ihre Aufgabe daher eher in der beständigen Befragung und Kritik des Bestehenden, in dem Aufweis seiner Kontingenz und damit der Entselbstverständlichung und Entnaturalisierung machtvoll gewordener Verhältnisse als in der Begründung einer neuen Ordnung (vgl. beispielsweise Flügel-Martinsen 2010: 152; Nonhoff 2023).

Angesichts der drastischen Zustände der Gegenwart scheint es jedoch auch gute Gründe dafür zu geben, das Bilderverbot der Kritischen Theorie, das ja bis zur Utopieskepsis bei Marx und Engels zurückzuverfolgen ist (vgl. Marx/Engels 1977: 491 f.), heute aufzuweichen. Mit der Diagnose des kapitalistischen Realismus lieferte der britische Philosoph Mark Fisher (2009) einen besonders überzeugenden: Neoliberale Politiken der Alternativlosigkeit, wie wir sie von Thatcher und Reagan bis in die Gegenwart kennen und zu spüren bekommen, treiben die ökonomische Prekarisierung voran und zeitigen zudem subjektivierende und das kollektive Imaginäre strukturierende Effekte, die eine andere, gar bessere Zukunft kaum möglich erscheinen lassen. Die Unhaltbarkeit dieser gegenwärtigen Zustände vorausgesetzt, sprechen daher motivationale, strategische und auch transformationstheoretische Gesichtspunkte für die Relevanz utopischer Zukunftsbilder in aktuellen politischen Kämpfen (vgl. dazu beispielsweise Wright 2010: 6, 14 ff., 269), die den kollektiven Möglichkeitssinn wecken und konkret in Aussicht stellen können, wie eine andere Zukunft trotz ihrer vermeintlichen Unwahrscheinlichkeit vorstellbar wird.

Zudem kann das explizite Thematisieren von Zukunftsentwürfen in Theorie und Praxis eine Richtung für transformatorische Prozesse anzeigen und diese gleichzeitig der Aushandlung zuführen, anstatt politische Bewegungen auf lediglich implizite Art und Weise zu informieren (vgl. Marschner 2021: 28 f., 35). Dabei bleibt die selbstreflexive Befragung auch von Utopien sowie deren Rückbindung an Kritiken des Bestehenden im Sinne einer Verbindung von negativer und präfigurativer Kritik bedeutsam: Nur so ist es auch innerhalb von Veränderungsprozessen möglich, für ungleiche Machtverhältnisse sowie die Reproduktion und Verlängerung dieser in die Zukunft hinein aufmerksam zu bleiben (vgl. Sörensen 2023: 35 f.) und darüber hinaus den in Teilen wohl unumgänglichen Idealismus von Utopien zu reflektieren. Eine Debatte, die seit den sogenannten realsozialistischen Projekten des 20. Jahrhunderts in Verruf geraten war, gegenwärtig jedoch eine Renaissance erlebt, macht sich genau dieses Nachdenken über ein konkretes Anderes jenseits des Kapitalismus und seiner zerstörerischen wie undemokratischen Effekte zur Aufgabe: Gemeint ist die sozialistische Planwirtschaftsdebatte, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Machbarkeitsstreit zwischen Liberalen und Sozialisten entstanden ist. Ich möchte vor dem Hintergrund der skizzierten theoretischen wie praktischen Gemengelage dafür argumentieren, dass eine radikaldemokratische Einmischung in diese aktuell vital geführte Debatte sich geradezu aufdrängt – sowohl zur weiteren Politisierung der Planungsdebatte als auch zum Zweck der Reflexion ökonomischer Bedingungen radikaler Demokratie heute.

Im Mittelpunkt der Planwirtschaftsdebatte im engeren Sinne (damals wie heute) steht das Problem der Wirtschaftsrechnung als Frage danach, ob sich Allokation, Produktion und Distribution in komplexen Gesellschaften sozialistisch planen lassen, anstatt durch Wettbewerbs- und Preissystem organisiert zu werden. Sie ist dabei angetrieben vom Ziel einer Kollektivierung, Demokratisierung und rationalen Organisation der Ökonomie. Das Anliegen meines Beitrags besteht nun darin, diese bereits bestehende Diskussion für die radikale Demokratietheorie fruchtbar zu machen und exemplarisch zu zeigen, was beide voneinander lernen könnten: Nach einem schlaglichtartigen Einblick in die Debatte, die den Fokus auf deren demokratietheoretische Einsatzpunkte legt (2.), will ich zunächst beide als in gewissen Hinsichten komplementäre Anliegen deuten (3.1), um dann eine geteilte Leerstelle gegenwärtiger Planwirtschaftsentwürfe und radikaldemokratischer Ideen in der ökologischen Frage auszuweisen (3.2). Anschließend argumentiere ich auf Grundlage von Einsichten Donna Haraways und Jacques Derridas, wie, an der Komplementarität und der ökologischen Leerstelle gleichermaßen ansetzend, das emanzipatorische Potential der aktuellen Planwirtschaftsdiskussion gehoben und über sich hinausgetrieben werden kann (4.). So komme ich zu dem Schluss, dass die Idee demokratisch-sozialistischer Planwirtschaft eine entscheidende Wegbereiterin hin zu einer anderen Ökonomie sein kann, die nicht auf das teleologische Ziel eines versöhnten, gänzlich harmonisierten Endes der Geschichte zuläuft und dennoch bessere ökonomische, politische Verhältnisse und gehaltvolle Freiheit und Demokratie in Aussicht stellt.

* Samia Zahra Mohammed, Universität Bremen, 0009-0009-0467-6140, Kontakt: samia.mohammed@uni-bremen.de
1 Der vorliegende Artikel, insbesondere Teil 4, beruht in Teilen auf Passagen und Argumenten, die ich bereits in Mohammed 2023 ausgearbeitet habe.
2 Mein herzlicher Dank gilt sowohl den beiden anonymen Gutachter*innen dieses Artikels, von deren wichtigen Hinweisen der Text sehr profitiert hat, als auch den Herausgebern dieses Themenheftes, Paul Sörensen und Martin Oppelt, für die aufmerksame Begleitung und Unterstützung während des gesamten Prozesses.

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