„Nachhaltigkeit und Soziale Arbeit“: Leseprobe

„Starke und schwache Nachhaltigkeit. Eine Annäherung für die Soziale Arbeit“: Leseprobe aus „Nachhaltigkeit und Soziale Arbeit“ von Yannick Liedholz und Johannes Verch (Hrsg.),  S. 37-41.

 

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Starke und schwache Nachhaltigkeit. Eine Annäherung für die Soziale Arbeit

Yannick Liedholz

 

1 Einleitung

Wer sich aus der Sozialen Arbeit heraus mit dem Nachhaltigkeitsdiskurs auseinandersetzen möchte, der_die betritt allein im deutschsprachigen Raum ein riesiges Feld, in dem es nicht immer leicht ist, sich zu orientieren und einen sicheren Überblick zu erhalten. Das Erkennen der grundlegenden Diskursstränge und Konzeptionen hinter den mannigfaltigen Symbolen von Nachhaltigkeit, denen man im berufspraktischen, wissenschaftlichen oder politischen Alltag begegnet, fällt oft schwer. Welches Grundverständnis von Nachhaltigkeit zeigt sich in diesem oder jenem Fall?

Der vorliegende Beitrag möchte für die Soziale Arbeit eine Perspektive eröffnen, die für eine Orientierung hilfreich sein kann. Es handelt sich um die Unterscheidung von starker und schwacher Nachhaltigkeit, die in der Nachhaltigkeitsliteratur vielfach verwendet und teils noch ausdifferenziert wird in sehr starke, starke, mittlere, schwache und sehr schwache Nachhaltigkeit (z.B. de Haan et al. 2008: 77–80; Grunwald/Kopfmüller 2012: 65–68; Gottschlich 2017: 361f.; Pufé 2017: 105–110). Starke und schwache Nachhaltigkeit können idealtypisch als zwei Pole verstanden werden, die ein Spektrum zur Betrachtung von Nachhaltigkeitsverständnissen aufspannen. Mit dem Wissen um diese Pole lässt sich gut einordnen, was jeweils mit der Rede von Nachhaltigkeit bzw. einer Nachhaltigen Entwicklung gemeint ist.

In diesem Beitrag werden zunächst die unterschiedlichen Prämissen von starker und schwacher Nachhaltigkeit herausgearbeitet. Im Anschluss daran soll begründet werden, warum sich für die Soziale Arbeit eine Position starker Nachhaltigkeit bevorzugt anbieten könnte. Hierfür wird sich direkt auf das Konzept von Ott und Döring (2011) bezogen, das als Greifswalder Ansatz im deutschsprachigen Nachhaltigkeitsdiskurs bekannt ist. Davon ausgehend soll für die Praxis Sozialer Arbeit beispielhaft diskutiert werden, was eine Ausrichtung an eher starker, mittlerer oder schwacher Nachhaltigkeit bedeuten könnte. Die abschließenden Gedanken widmen sich einigen vorschnellen Einwänden gegen starke Nachhaltigkeit.

 

2 Prämissen starker und schwacher Nachhaltigkeit

Im Nachhaltigkeitsdiskurs werden klassischerweise drei Dimensionen angeführt, die eine Nachhaltige Entwicklung prägen: ökonomische, ökologische und soziale Nachhaltigkeit (Kleine 2009: 5). Unter diesen drei Dimensionen werden zahlreiche Aspekte subsummiert. So beinhaltet zum Beispiel die soziale Nachhaltigkeit Fragen von Kultur, Bildung und Gesundheit. Daneben gibt es Vorschläge, weitere Nachhaltigkeitsdimensionen hinzuzufügen. Grunwald und Kopfmüller sprechen sich etwa dafür aus, eine „institutionell-politische Dimension“ (2012: 58, Herv. i. O.) zu ergänzen. Sie argumentieren, dass die „Realisierung nachhaltiger Entwicklung“ nur gelingen kann, wenn „politische oder andere Formen der Steuerung“ (ebd.) existieren, die auf lange Sicht handlungs- und durchsetzungsfähig sind.

Geht man hier (lediglich) den drei klassischen Nachhaltigkeitsdimensionen nach, so lassen sich diese mit Pufé (2017: 99–105) wie folgt verstehen.

Ökonomische Nachhaltigkeit befasst sich mit der „betriebswirtschaftliche[ n] Nutzung eines Systems im Sinne einer Organisation oder eines Unternehmens in einer Weise, dass dieses in seinen wesentlichen Eigenschaften dauerhaft erhalten bleibt und sein wirtschaftlicher Fortbestand so gesichert ist“ (ebd.: 101). Ökonomische Nachhaltigkeit sucht nach einem nachhaltigen „Umgang mit natürlichen Energie- und Materialressourcen“ (Grunwald/Kopfmüller 2012: 57) für die dauerhafte Gestaltung von Produktion und Infrastrukturen. Ebenso fallen Fragen zur „Sicherstellung der Grundversorgung aller Menschen“ (ebd.), zu Wachstum oder Postwachstum, (un)bezahlter Arbeit sowie Einkommen in diese Dimension.

Ökologische Nachhaltigkeit intendiert den Umgang mit einem (globalen) Ökosystem „in einer Weise, dass dieses in seinen wesentlichen Eigenschaften dauerhaft erhalten bleibt und so sein Fortbestand gesichert wird“ (Pufé 2017: 100). Diese Nachhaltigkeitsdimension hebt hervor, dass Naturbestände als „Senke (anthropogener Emissionen) und Quelle (natürlicher Ressourcen)“ dienen und damit Grundlagen bieten, die für den Menschen „direkt und indirekt überlebenswichtig sind“ (ebd.: 101, Herv. i. O.). Im Zentrum dieser Dimension stehen ebenso die vielfältigen anthropogenen „Aktivitäten als Ursachen ökologischer Degradation“ (ebd.: 101, Herv. i. O.) sowie die Möglichkeiten diese Aktivitäten anders zu gestalten bzw. zu begrenzen.

Soziale Nachhaltigkeit richtet sich auf die Ausgestaltung eines sozio-kulturellen Systems „in einer Weise, dass dieses in seinen wesentlichen Eigenschaften dauerhaft erhalten bleibt und sein personalbezogener sowie gesellschaftlicher Fortbestand so gesichert ist“ (ebd.: 102). Von großer Bedeutung ist dahingehend die gesellschaftliche Verwirklichung sozialer Ressourcen wie „Toleranz, Solidarität, Integrationsfähigkeit, Inklusion, Gemeinwohlorientierung, Recht- und Gerechtigkeitssinn“ (ebd.: 102), Bildung, Gesundheit, (Gen39 der-)Partizipation und Beziehungsfähigkeit. Problemfelder sozialer Nachhaltigkeit bestehen unter anderem in Chancen-, Bildungs- und Geschlechterungleichheiten, Vereinsamung, Sucht, Gewalt, „Terrorismus, Zwangsmigration, Arm-Reich-Kluft oder Diskriminierung“ (ebd.).

Anhand dieser drei Nachhaltigkeitsdimensionen lässt sich nun ein wesentlicher Unterschied zwischen starker und schwacher Nachhaltigkeit verstehen. Dieser liegt darin, wie diese beiden Positionen die drei Nachhaltigkeitsdimensionen zueinander in Beziehung setzen und priorisieren. Ausdruck findet dies in zwei bekannten Modellen der Nachhaltigkeit – dem ,Drei-Säulen-Modell‘ auf der einen Seite und dem ,Gewichteten Drei-Säulen-Modell‘ auf der anderen (s. den Beitrag von Verch zu suffizienzkulturellen Transformationen in diesem Band). Schwache Nachhaltigkeit denkt ökonomische, ökologische und soziale Nachhaltigkeit zunächst gleichrangig nebeneinander, wobei ökologische Bestände für ökonomische und soziale Zielsetzungen genutzt und auch aufgezehrt werden dürfen. Das entscheidende Kriterium ist, dass „der Durchschnittsnutzen bzw. die durchschnittliche Wohlfahrt von Menschen dauerhaft erhalten wird“ (Döring/Ott 2001: 321). Starke Nachhaltigkeit gewichtet dagegen die ökologische Dimension stärker und sieht diese mit ihren Naturschätzen, ihrem Klima, ihrer Biodiversität und ihren (auch ästhetischen) Naturräumen als das Fundament einer Nachhaltigen Entwicklung an. Unter Achtung und Erhalt dieses Fundaments können ökonomische, soziale, kulturelle und politische Zielsetzungen verfolgt werden. Ökologische Bestände werden in ihren materiellen, ästhetischen und glücksstiftenden Qualitäten als nicht oder nur sehr beschränkt ersetzbar angesehen.

Ausgehend von dieser Grundunterscheidung kann man weitere Prämissen beider Positionen identifizieren, die nachfolgend angedeutet werden sollen.

Für die Position schwacher Nachhaltigkeit ist eine Gerechtigkeit zwischen den Generationen im Sinne des Leitsatzes einer Nachhaltigen Entwicklung hergestellt, wenn die jeweilige Hinterlassenschaft mindestens „aus einem konstanten summativen Gesamtbestand“ ökonomischer, ökologischer und sozialer „Kapitalien“ (Ott/Döring 2011: 117) besteht. Somit befürwortet schwache Nachhaltigkeit eine „Portfolio-Perspektive“ (ebd.: 111, Herv. i. O.). Solange das Portfolio der Kapitalien insgesamt gleich groß bleibt oder sogar wächst, befindet sich eine Gesellschaft auf einem nachhaltigen Pfad. Dies impliziert auch, dass jede Kapitalart nur einen Teilaspekt des Portfolios darstellt und von den anderen genutzt werden kann, wenn dies eine Maximierung des Portfolios und somit des „menschlichen Wohlergehen[s]“ (ebd.: 111) ermöglicht. Das heißt, die prinzipielle Austauschbarkeit der Kapitalarten untereinander wird bejaht. Dieser Logik folgend ist „der Verlust natürlicher Ressourcen nicht schlimm“, wenn „andere Kapitalformen, Technologien, Infrastrukturen usw. größeren oder mindestens ebenso großen Nutzen für die Menschen stiften“ (ebd.: 119). Eng verbunden ist die Position schwacher Nachhaltigkeit mit der Idee des „technologischen Fortschritt[s]“ (ebd.: 116). Neigen sich bestimmte natürliche Ressourcenvorkommen dem Ende zu oder sind diese nur noch sehr kosten- und energieaufwändig zu fördern, so wird davon ausgegangen, dass passende (technische) ,Substitute‘ gefunden werden können (ebd.: 116f.). Als ein Beispiel wird die Ersetzung fossiler Energien zur Stromgewinnung durch erneuerbare Wind-, Solar- und Wasserenergie genannt (ebd.: 116).

Die Position starker Nachhaltigkeit fordert für eine Gerechtigkeit zwischen den Generationen im Sinne des Leitsatzes einer Nachhaltigen Entwicklung, dass zuvorderst der ökologische Kapitalbestand erhalten bleiben soll. Dies wird unter anderem dadurch begründet, dass das Naturkapital1 aufgrund einer Überlastung durch den Menschen „in Zukunft nicht zum limitierenden Faktor werden“ (Egan-Krieger et al. 2007: 12) dürfe. Um dies dauerhaft zu gewährleisten, wird für das gesellschaftliche Nachhaltigkeitshandeln „eine so genannte ,Constant Natural Capital Rule‘ (CNCR) als Richtschnur“ (ebd.: 12) vorgeschlagen. Diese Richtschnur geht mit verschiedenen Nutzungsregeln von Natur einher, von denen eine lautet: „Schadstoffemissionen dürfen die Aufnahmekapazität der Umweltmedien und Ökosysteme nicht übersteigen, und Emissionen nicht abbaubarer Schadstoffe sind unabhängig von dem Ausmaß, in dem noch freie Tragekapazitäten vorhanden sind, zu minimieren“ (ebd.: 14). Gerahmt werden diese Vorschläge von der Prämisse, dass sich ökologische Kapitalbestände nicht durch soziales oder ökonomisches Kapital ersetzen lassen. Eine prinzipielle Austauschbarkeit der Kapitalarten untereinander wird verneint. Damit werden auch die Substitutionsmöglichkeiten kritisch beäugt und mit Blick auf „die Multifunktionalität vieler ökologischer Systeme“ (Ott/Döring 2011: 163, Herv. i. O.) grundlegend infrage gestellt.

 

3 Mögliche Vorzüge starker Nachhaltigkeit für die Soziale Arbeit

Für die Soziale Arbeit könnte sich an diesem Punkt die Frage stellen, welche der beiden Positionen zu Nachhaltigkeit sich für sie selbst eignen könnte. Möchte man dieser Frage nachgehen, so empfiehlt sich eine gewisse Vorsicht. Denn zunächst einmal treffen hier sehr heterogene Felder aufeinander. Die Soziale Arbeit gibt es ebenso wenig wie die Position starker oder schwacher Nachhaltigkeit, was durch das weite Spektrum von Nachhaltigkeitsverständnissen sowie die vermittelnden bzw. integrativen Entwürfe zum Ausdruck kommt (Ott/Döring 2011: 154). Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass man einen Weg betritt, der bisher kaum durch andere Fußspuren markiert ist. Aus der Sozialen Arbeit heraus plädiert zwar Verch (2020: 173f.) für eher starke Nachhaltigkeitskonzepte, er begründet das an dieser Stelle aber nicht umfänglich. Schubert (2021: 814) hat in ihrem Beitrag die Kontroverse von starker und schwacher Nachhaltigkeit im Blick, eine (deutliche) Positionierung für die Offene Kinder- und Jugendarbeit bleibt jedoch aus. Stamm (2021: 65ff.) zeichnet den Diskurs starker Nachhaltigkeit gewinnbringend nach, allerdings hat er weniger eine begründete Positionierung Sozialer Arbeit zum Ziel. Seine Andeutung, nach der ökozentrische Verständnisse „wichtig“ seien, aber „nicht im Zentrum sozialarbeiterischen Handelns stehen“ (ebd.: 73) können, bietet lediglich einen Anhaltspunkt.

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1 Ott und Döring halten trotz (selbst-)kritischer Einlassungen (2011: 180ff.) an dem Begriff des Naturkapitals fest. Sie sehen zwar die Gefahr, mit diesem ein „Denkmuster[.]“ zu reproduzieren, welches „man auf der konzeptionellen Ebene überwinden“ (ebd.: 180) möchte. Zugleich führen sie „terminologische Vorteile“ (ebd.: 182) des Naturkapitalbegriffs als Mittler zwischen Ökonomie und Ökologie an. Sie verstehen Naturkapital wie folgt: „Naturkapital setzt sich zusammen aus all den Komponenten der belebten oder der unbelebten Natur, darunter besonders den lebendigen Fonds, die Menschen und höher entwickelten Tieren bei der Ausübung ihrer Fähigkeiten zu Gute kommen können oder die indirekte funktionale oder strukturelle Voraussetzungen für Nutzungen i.w.S. sind“ (ebd.: 227).

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Die Herausgeber

Portraitfoto des Budrich-Autors Yannick LiedholzYannick Liedholz

  • Dozent an der Alice Salomon Hochschule Berlin im Studiengang Soziale Arbeit
  • Autor des Buches „Berührungspunkte von Sozialer Arbeit und Klimawandel“ (2021)
  • Doktorand an der Freien Universität zum Thema einer nachhaltigkeitsbildenden Erlebnispädagogik

 

Portraitfoto des Budrich-Autors Johannes VerchJohannes Verch

  • Professor an der Alice Salomon Hochschule Berlin zu Sozialer Arbeit mit dem Schwerpunkt BNE
  • Mitglied Fachforum Frühkindliche Bildung und Partnernetzwerk Außerschulische Bildungswelten der Nationalen Plattform BNE
  • Mitglied Scientists for Future; Deutsche Gesellschaft für Nachhaltigkeit an Hochschulen e.V.
  • Mitglied Sprecher_innenrat der dvs-Kommission „Sport und Raum“
  • Klimarat, Netzwerk Umweltbildung, Netzwerk Bewegung des Bezirkes Marzahn-Hellersdorf
  • BNE-Beauftragter der Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Naturschutz
  • Teammitglied bei think.sportainable/ Denkfabrik des nachhaltigen Sports
  • Teammitglied bei bwgt e.V. / Projekte zur gesundheitlichen, bewegungs- und nachhaltigkeitsorientierten Quartiersförderung

 

Über das Buch

Die Auseinandersetzung mit dem Konzept der Nachhaltigkeit gewinnt in der Sozialen Arbeit an Bedeutung: Wohlfahrtsverbände positionieren sich zu gesellschaftlichen Fragen von Nachhaltigkeit, Träger und Einrichtungen entwickeln Nachhaltigkeitsleitbilder, Fachkräfte erproben Formate einer nachhaltigen Bildungsarbeit, Studierende fordern mehr Nachhaltigkeit an ihren Hochschulen und die Sozialarbeitswissenschaft diskutiert ihre Bezüge zu einer sozial-ökologischen Transformation, Klimagerechtigkeit und Nachhaltiger Entwicklung. Dieser Sammelband bietet eine grundlegende Einführung in die Diskurse um Nachhaltigkeit und eine Bildung für Nachhaltige Entwicklung. Beiträge zu ausgewählten Handlungsfeldern zeigen eine nachhaltigere Praxis Sozialer Arbeit auf.

 

© Titelbild: gestaltet mit canva.com