„Lobbyismus in der deutschen Politik“: Leseprobe

Leseprobe Winter Lobbyismus in der deutschen Politik

Eine Leseprobe aus Lobbyismus in der deutschen Politik. Ein Überblick von Thomas von Winter, aus dem Kapitel „Einleitung“.

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1 Einleitung

Die öffentliche Debatte über Lobbyismus ist ein Tummelplatz für Spekulationen und Mythenbildung. Da die Aktivitäten von Lobbyisten äußerst vielfältig sind, in den verschiedensten Foren und Institutionen entfaltet werden und sich zu einem Gutteil auf informellem Wege vollziehen, nährt dies Annahmen wie die, dass sich politische Entscheidungsprozesse über weite Strecken intransparent vollzögen und von Kräften beeinflusst, wenn nicht gar dominiert würden, die – ohne demokratisch legitimiert zu sein – den Politikinhalten ihren von einseitigen Interessenstandpunkten geprägten Stempel aufdrückten. Demnach gäben Politikergebnisse nicht den Willen des Parlaments und der durch Wahlen legitimierten Regierungsmehrheit wieder, sondern wären das Resultat undurchsichtiger Machenschaften und Machtkämpfe, in denen ressourcenstarke Interessengruppen über schwächere Gruppen, aber auch über das Allgemeininteresse triumphierten. Ein ungezügelter Lobbyismus führt – dieser Sichtweise zufolge – im Ergebnis zu einer Verzerrung des Volkswillens. Für solche Annahmen lässt sich in der Tat eine Fülle von eindrucksvollen Indizien anführen: Großspenden von Unternehmen an Parteien, die Mitgliedschaft von Politikerinnen und Politikern in Verbänden und die Ausübung von Verbandsfunktionen, persönliche Loyalitätsbeziehungen zwischen Politikerinnen bzw. Politikern und Interessengruppen, exklusives Expertenwissen von Interessengruppen, spektakuläre Durchsetzungserfolge von Interessengruppen bei einzelnen politischen Streitfragen sind nur einige davon. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, wenn man aus einzelnen Befunden zu politischen Erfolgen und generellen Einflusschancen von Interessengruppen folgern würde, eine Interessengruppe, die sich in einem Gesetzgebungsprozess durchgesetzt hat, sei immer erfolgreich und Chancen könnten stets eins zu eins realisiert werden. Wer dies tut, der verwechselt verschiedene Aspekte des Lobbyings, die aus guten Gründen unterschieden werden, gerade weil sie auf eine höchst komplexe und manchmal widersprüchlich erscheinende Weise miteinander verknüpft sind. Es wäre verfehlt, Aktivität mit Effektivität, die Verfügung über Ressourcen wie Geld, Personal und Expertenwissen mit politischer Macht und den Zugang zu politischen Entscheidungsträgern mit Einfluss gleichzusetzen. Im Übrigen wird bei der Kritik an der vermeintlichen Intransparenz des Lobbyings häufig übersehen, dass ein großer Teil der entsprechenden Vorgänge durchaus transparent ist, weil sie sich entweder in der Öffentlichkeit oder in einem formellen, zumindest einer Teilöffentlichkeit zugänglichen Rahmen abspielen, etwa bei öffentlichen Anhörungen im Parlament, bei Anhörungen in den Ministerien, in Beiräten, Expertenkommissionen oder korporatistischen Gremien.

Bei näherer, das heißt vor allem systematischer Betrachtung stellt sich Lobbying dar als ein politischer Prozess, der äußerst vielfältig und damit anspruchsvoll und fehleranfällig ist. Schon der Beginn des Prozesses, die Definition des eigenen Interessenstandpunktes, ist alles andere als trivial. Interessengruppen müssen in einem Gesetzgebungsprozess oft erst herausfinden, in welcher Weise sie von den geplanten Maßnahmen betroffen sind, um ihre eigenen Präferenzen bestimmen zu können, und es kommt nicht selten vor, dass sich diese Präferenzen im Laufe eines Gesetzgebungsprozesses ändern bzw. angepasst werden müssen. Ferner sind bei der Umsetzung solcher Ziele gelegentlich Handlungsweisen von Lobbyisten bzw. Lobbyistinnen zu beobachten, die die Bezeichnung Taktik, geschweige denn Strategie kaum verdienen. Selbst wenn ein strategisches Konzept irgendwann vorliegt und mit hohem Ressourcenaufwand umgesetzt wird, garantiert dies keineswegs den Durchsetzungserfolg. Das politische Geschäft bietet zahlreiche Beispiele dafür, dass ein vermeintlich mächtiger Akteur trotz einer solchen Strategie am Ende eines Gesetzgebungsverfahrens grandios scheitert.

Um mit den Unwägbarkeiten des politischen Betriebes umzugehen und ein rationales Konzept für das eigene Handeln entwickeln zu können, verwenden Interessengruppen bzw. die von ihnen beschäftigten oder beauftragten Lobbyistinnen und Lobbyisten einen großen Teil ihrer Ressourcen darauf, Dinge zu tun, die mit Lobbying im landläufigen Sinne, also dem Einwirken auf die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger, wenig zu tun haben. Sie eignen sich Expertenwissen an, oft durch eigene Recherchen oder Forschungsprojekte, und sie betreiben Monitoring, das heißt, sie beobachten den politischen Prozess unter dem Gesichtspunkt, wann, gegenüber wem und mit welchem Standpunkt sie sich positionieren müssen. Effektives Lobbying setzt voraus, in Bezug auf die Pläne von Regierung und Parlament und die Verfahrensstände von Gesetzgebungsprozessen immer auf dem neuesten Informationsstand zu sein, die Interessen und Strategien möglicher Konkurrenten und Bündnispartner zu kennen und beurteilen zu können und auch die Debatten in der Öffentlichkeit, in den Massenmedien und im Netz mitzuverfolgen. Erst auf der Grundlage eines befriedigenden Informationsstandes sind Interessengruppen in der Lage, politische Ziele zu formulieren, ihre Positionen bei verschiedenen politischen Streitfragen zu definieren und entsprechende Strategien zu entwickeln. Bei Letzterem geht es vor allem darum zu entscheiden, ob man eher im Stillen wirken und durch Gespräche Politikerinnen und Politiker überzeugen und Bündnispartner unter den Interessengruppen gewinnen oder ob man den Gang in die Öffentlichkeit antreten will. Gerade ein massives Auftreten in der Öffentlichkeit erzeugt oft den Eindruck, dass eine Interessengruppe in der Lage sei, Druck auf die Politik auszuüben und ihre Anliegen auch gegen Widerstand durchzusetzen, getreu dem Motto „Wo Rauch ist, ist auch Feuer“. Aber auch das kann eine Fehleinschätzung sein. Die Mobilisierung der Öffentlichkeit oder von Mitgliedern und Bürgerinnen und Bürgern kann ein Mittel sein, um eigenen Forderungen, die man in verschiedenen Foren im Gespräch mit politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern vorträgt, zusätzlich Nachdruck zu verleihen; sie kann aber auch ganz im Gegenteil Ausdruck der Hilflosigkeit, nämlich eine Kompensation für den fehlenden Zugang zu den politischen Entscheidungsträgern sein. Interessenvertreter sozialer Randgruppen bezeichnen manchmal die Presseerklärung ironisch als „das schärfste Schwert“ ihrer Organisationen. Umgekehrt ist die Mobilisierung der Öffentlichkeit für ressourcenstarke Organisationen eine durchaus zweischneidige Angelegenheit. Interessengruppen, die massiv für ihre eigenen Anliegen werben, rufen ihre Gegner auf den Plan, provozieren Widerstand von anderen Gruppen, die zuvor vielleicht eher zurückhaltend agiert haben, und können politische Entscheidungsträger dazu veranlassen, sich nun besonders standhaft gegenüber dem Druck vermeintlich einseitiger Forderungen von Interessengruppen zu geben.1

Interessengruppen haben somit immer nur einen begrenzten Einfluss darauf, ob und in welchem Maße ihre lobbyistischen Aktivitäten zum Erfolg führen. Denn selbst im Falle optimaler Voraussetzungen, wenn eine Gruppe über viele und unterschiedliche Ressourcen verfügt und strategisch gut aufgestellt ist, ist ihr Handeln immer mit den Interessen und Strategien anderer Interessengruppen ebenso wie mit denen der politischen Entscheidungsträger konfrontiert und findet damit in einem Interaktionszusammenhang statt, dessen Effekte für die einzelnen Beteiligten nur begrenzt kalkulierbar ist. Dies gilt auch für den Inhalt der Politikergebnisse, die der politische Prozess hervorbringt. Es wäre daher zum Beispiel verfehlt, aus der Zunahme der Zahl der Interessengruppen in den letzten Jahrzehnten und der von ihnen ausgehenden lobbyistischen Aktivitäten, die vor allem durch die Nutzung des Internets noch einmal sprunghaft gestiegen ist, abzuleiten, dass der politische Einfluss dieser Gruppen generell gestiegen sei. Plausibel ist vielmehr die gegenteilige Annahme, der zufolge mit dem Anstieg der Zahl der Akteure die Konkurrenz um Anteile an der politischen Macht zunimmt und damit der Einfluss der einzelnen Interessengruppe sinkt (Noweski 2012: 119f.).

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1 „The lobby group making spontaneous noise is like the brainless bird making sound at seeing some bread in the garden and thus attracting twenty other birds plus the cat“ (van Schendelen 2005: 259).

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Lobbyismus in der deutschen Politik. Ein Überblick

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Der Autor: Prof. Dr. Thomas von Winter

Thomas von WinterIch bin habilitierter Politikwissenschaftler und habe von 1995 bis 2000 als Professurvertreter an den Universitäten in Hamburg und Marburg gearbeitet. Von 2000 bis 2020 war ich hauptberuflich als Parlamentsbeamter in der Verwaltung des Deutschen Bundestages tätig – in den Wissenschaftlichen Diensten, in verschiedenen Ausschusssekretariaten und in der Redaktion der Zeitschrift „Das Parlament“. Seit 2002 habe ich zunächst an der Universität Marburg und seit 2006 an der Universität Potsdam als außerplanmäßiger Professor gelehrt. Mein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Interessengruppen, besonders interessieren mich die Interessengruppen in der Sozialpolitik und generell die sogenannten schwachen Interessen.

 

Über „Lobbyismus in der deutschen Politik“

Dieser Band präsentiert eine systematische Aufbereitung empirischer Befunde zum Lobbyismus in Deutschland. Er vermittelt einen Einblick in den politischen Prozess und darin, wie Lobbyist*innen, Entscheidungsträger*innen und institutionelle Rahmen miteinander interagieren. Im Fokus steht die Untersuchung der politischen Aktivitäten von sozialen Bewegungen, Verbänden, Unternehmen und Beratungsfirmen im Bundestag, der Bundesregierung und der Öffentlichkeit. Ziel ist es, zu beleuchten, welchen Einfluss sie auf Politikinhalte ausüben.

 

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© Foto Thomas von Winter: privat | Titelbild: gestaltet mit canva.com