„Literacy Management als Schlüsselkompetenz in einer digitalisierten Welt“ von Gerd Bräuer, Christina Hollosi-Boiger, Raphaela Lechleitner und David Kreitz: Leseprobe

Literacy Management Leseprobe

Eine Leseprobe aus den Seiten 17 bis 20 aus Literacy Management als Schlüsselkompetenz in einer digitalisierten Welt von Gerd Bräuer, Christina Hollosi-Boiger, Raphaela Lechleitner und David Kreitz, Kapitel „1 Begriffe und Konzepte zum Literacy Management“.

***

1 Begriffe und Konzepte zum Literacy Management

Dieses Buch ist als Handreichung für den eingangs beschriebenen Optimierungsprozess literaler Praktiken angelegt. „Literacy Management“ ist das Konzept dafür und zielt auf die Steuerung des individuellen und institutionellen Umgangs mit Informationen und Medien beim Lesen und Schreiben bzw. beim Umgang mit Zeichensystemen zum Zwecke erfolgreicher Kommunikation.

Im Folgenden sollen einige (bildungshistorische) Hintergründe zur Entstehung dieses Konzepts sowie dessen zentrale Begriffe definiert und erläutert werden:

  1. Für die Praktiker*innen unter Ihnen, um sich bewusst zu machen, was man als „Literacy Manager*in“ eigentlich macht – unabhängig davon, ob für die eigene literale Praxis oder im Auftrag einer Bildungseinrichtung, eines Betriebs oder einer anderen Organisation –, warum man so handelt und wie man dieses Handeln am wirkungsvollsten realisiert;
  2. Für theoretisch Interessierte als Möglichkeit zum Einstieg in einen noch recht jungen Diskurs, dessen Beginn vielleicht auf 1996 und das Erscheinen eines Artikels von THE NEW LONDON GROUP in der Harvard Educational Review festgelegt werden kann (Cazden et al. 1996): A pedagogy of multiliteracies: Designing social futures.

Im o.g. Artikel wird argumentiert, dass die herkömmlichen Methoden der literalen Förderung (z.B. Arbeitsblätter, Diktate, Lesetests) nicht ausreichen, um Menschen auf die komplexen Anforderungen einer globalisierten, technologisch fortgeschrittenen Welt vorzubereiten. Deswegen plädieren die Autor*innen für eine Pädagogik der Multiliteralität, die den Schwerpunkt auf den Erwerb von Kompetenzverbünden legt, einschließlich visueller, digitaler und kultureller Kompetenzen. Die Autoren schlagen vor, dass diese Pädagogik auf vier Schlüsselprinzipien beruhen sollte: (1) Gestaltung einer Pädagogik der Vielfalt, (2) Erforschung der Beziehungen zwischen Sprachen und Kulturen, (3) Integration der Verwendung mehrerer semiotischer Systeme und (4) Förderung eines kritischen Bewusstseins dafür, wie Bedeutung in wechselnden Kontexten konstruiert und dargestellt wird. Insgesamt verdeutlicht der Artikel von Cazden et al. (1996), wie wichtig es ist, den traditionellen Begriff der Lese- und Schreibfähigkeit zu erweitern, vielfältige Ausdrucks- und Kommunikationsformen einzubeziehen und dabei literal Handelnde zu sozialer Gerechtigkeit und Empowerment zu befähigen bzw. sie zu motivieren, literale Kompetenzen genau dafür einzusetzen.

In der Endphase der Entstehung des vorliegenden Buches erhält dieser Diskurs mit dem Artikel Amazement and Trepidation: Implications of AI-Based Natural Language Production for the Teaching of Writing (Anson/Straume 2022) eine neue, vielleicht für die Zukunft von literaler Praxis und Literacy Management entscheidende Zäsur. Während Cazden et al. (1996) noch davon ausgehen, dass mediale Tools Mittel zum Zweck einer multimodal ausgerichteten Literalität sind, in deren Zentrum das kritische Bewusstsein der Handelnden steht, wird ein Vierteljahrhundert später ein Blick auf Literalität deutlich, der im Banne neuer Technologien zu stehen scheint.

Anson/Straume (2022) für den englischsprachigen Diskurs und wenige Monate später Buck/Limburg (2023) für die deutschsprachige Diskussion erörtern den zunehmenden Einsatz von KI-Tools bei der Produktion natürlicher Sprache und deren mögliche Auswirkungen auf die Ausbildung von literal handelnden Menschen. Die Autor*innen beider Artikel argumentieren, dass KI-basierte Textproduktion das Potenzial hat, die Überlegungen zur Schreibdidaktik zu verändern, indem sie den Akteur*innen neue Möglichkeiten zur eigenständigen Verbesserung ihrer Schreibfähigkeiten bietet.

Die Autoren äußern jedoch auch die Sorge, dass durch die Existenz von textgenerierender KI menschliches Feedback und individuelles Engagement für die Textproduktion an Bedeutung verlieren werden. Eine weitere Sorge ist, dass der KI-Gebrauch, im Gegensatz zur Tendenz seit Cazden et al. (1996), die (Bildungs-)Politik und Gesellschaft im Allgemeinen und die Schreibdidaktik im Besonderen wieder auf eine engere Sichtweise auf das Schreiben zurückführen könnte, wo Korrektheit des Textes und Konformität der Schreibenden gegenüber Kreativität und kritischem Denken in der Kooperation von Schreibenden bevorzugt wird. Nicht zuletzt deshalb plädieren Anson/Straume (2022) und Buck/ Limburg (2023) für einen differenzierten Ansatz bei der Integration von KI in die Schreibdidaktik, der sowohl die potenziellen Vorteile als auch die Risiken berücksichtigt. Sie argumentieren, dass alle an literaler Praxis Beteiligten überlegen sollten, wie durch KI-Tools menschliche Anleitung und Feedback bereichert und nicht ersetzt werden können, sodass individuelle Kreativität, kritisches Denken und persönliches Engagement mit- und füreinander in der literalen Praxis weiter befördert werden. Für die hochschuldidaktische Umsetzung dieses Postulats bieten Buck/Limburg (ebenda) erste methodische Überlegungen.

Noch weiter geht der Sammelband, Digital Writing Technologies in Higher Education, herausgegeben von Kruse et al. (2023), in dem die Forschung der letzten Jahre zu den Einflüssen digitaler Medien, KI-Tools bereits inbegriffen, auf das akademische bzw. wissenschaftliche Schreiben dokumentiert wird. Die festgestellten Einflüsse werden sowohl auf der Schreibprozess-Ebene diskutiert als auch auf das konkrete individuelle Schreibhandeln (allein oder in Kooperation) bezogen. Hierfür werden schreib- und hochschuldidaktische Überlegungen vorgestellt, die die Positionen von Buck/Limburg (2023) zu vielen Facetten des Phänomens Schreiben untermauern und mit Blick auf die damit verbundenen Technologien und Technologie-Trends ausbauen.

Wie diese schreibwissenschaftlichen bzw. schreibdidaktischen Publikationen zeigen, haben die jüngsten Entwicklungen rund um KI die digitalen Werkzeuge bzw. technischen Möglichkeiten des literalen Handelns in den Fokus gerückt, aber auch den Umgang mit Daten und Informationen – und damit den Kernpunkt von Literacy Management. Von technischer Seite, in der Disziplin der Data Science, wird bereits seit 2015 der Umgang mit KI-Tools intensiver diskutiert – und mit ihm die dafür nötigen Kompetenzen. Laupichler et al. (2022) skizzieren in ihrem Literature Review die Entwicklung des Begriffs AI-Literacy, den sie unter Bezugnahme auf Long/Magerko (2020) als Kompetenzkonstrukt definieren:

„The ability to understand, use, monitor and critically reflect on AI applications without necessarily being able to develop AI models“ (Laupichler et al. 2022: 1).

Während also Anson/Straume (2022) vom Umgang mit KI als modellhafte Vorstellung (Schreibprozess) sprechen, verorten Laupichler et al. (2022) die Interaktion mit KI im Kompetenzpool einzelner Personen, also als Teil deren individuellen Schreibhandelns. Diese Diskurse zum Umgang mit Literalität, egal, ob modell- oder handlungsbasiert, finden nun durch den gemeinsamen Gegenstand „Künstliche Intelligenz“ eine gemeinsame Schnittfläche und deuten hier bereits an, dass sich das Gesamtsystem „Literalität“ und das damit verbundene Literacy Management als zentrales Steuerelement auf individueller und institutioneller Ebene grundlegend wandeln wird und dass dieser Wandel von allen Beteiligten konstruktiv gestaltet werden sollte.

Um die beiden, zu Beginn dieses Kapitels genannten Blickwinkel beim Lesen des Buches zu ermöglichen – für die Praktiker*innen unter Ihnen bzw. für theoretisch Interessierte –, erhalten Sie zuerst einen Einblick in bildungstheoretische Hintergründe von Literacy Management und dann ein Glossar zentraler Begriffe dieses Konzepts. Hiermit verbindet sich unsere Hoffnung, dass sowohl Begriffs als auch Konzeptverständnis sich in den Folgejahren durch informierte Praxis – auch die unserer Leser*innen – vielfältig weiterentwickeln wird. Während ein konventionelles Glossar alphabetisch geordnet ist, führen wir in 1.3 die ausgewählten Begriffe in einer Abfolge auf, die eine Chronologie des Handelns für Literacy Manager* innen vorschlägt – jedoch nicht vorschreibt – und deren Grundszenario wir auch im weiteren Verlauf des Buches wiederholt aufgreifen, anwenden bzw. adaptieren werden.

***

Sie möchten gern weiterlesen?

 

Jetzt versandkostenfrei im Budrich-Shop bestellen

Literacy Management 3D Cover 150 pxGerd Bräuer, Christina Hollosi-Boiger, Raphaela Lechleitner, David Kreitz:

 

 

Die Autor*innen

Dr. Gerd Bräuer, begleitet Menschen und Institutionen, die sich für die Aus- und Weiterbildung von Schreibenden und Lesenden engagieren.
Mag.a Christina Hollosi-Boiger, Literacy Managerin, Schreibtrainerin, Schreibcoach, Lehrauftrag an mehreren österreichischen Hochschulen
Mag.a Raphaela Lechleitner, Texterin für Medien und PR, Pädagogin, ausgebildete Schreibberaterin und Literacy Managerin
David Kreitz, pädagogischer Mitarbeiter bei der HVHS Mariaspring, freiberuflicher Schreibcoach und -trainer

 

Über das Buch

Schlechte Texte? Als Konsequenz daraus entstehen Missverständnisse, fehlerhafte Arbeitsabläufe, finanzielle Schäden. Es besteht also Bedarf, nicht nur die literale Praxis der Schreibenden zu optimieren, sondern auch die der Organisationen, in deren Auftrag diese Schreibenden tätig sind. Was wird optimiert? Die Art und Weise, wie Personen und Organisationen mit Informationen umgehen, wenn sie Texte schreiben, rezipieren, verwalten oder verteilen (lassen). Das vorliegende Buch leitet zu Problemanalyse und -lösung an sowie zum Nachdenken über Nachhaltigkeit im alltäglichen literalen Handeln von Personen und Organisationen.

 

Mehr Leseproben …

… finden Sie auf unserem Blog.

 

© Titelbild: gestaltet mit canva.com