von Julian Löhe und Jana Kunze
Über das Buch
Sich selbst führen? Geht das überhaupt? Die Kurzantwort: Ja, aber… Führung ist mehr als die Ausübung von Macht und Autorität. In Organisationen der Sozialen Arbeit stehen qua Auftrag und Ziel die zwischenmenschlichen Beziehungen im Zentrum. Deshalb ist dort die Fähigkeit und Möglichkeiten zur Selbstreflektion von Mitarbeitenden und Führungskräften besonders bedeutsam. Dem Self-Leadership liegt der Ansatz zugrunde, dass Menschen sich durch einen reflektierten Umgang mit der eigenen Person individuell führen können. In vorliegender Publikation wird die Frage nach diesem „aber“ beleuchtet: wie kann Selbstführung unter Berücksichtigung einer Individualperspektive, wie auch aus Perspektive der Organisation umgesetzt werden? Im Rahmen des Holistic-Individual-Ansatzes schließt dieses Fachbuch eine Lücke in der Führungslehre für Organisationen der Sozialen Arbeit, indem systematisch der Frage von Selbstführung nachgegangen wird. Nach der Lektüre dieses Fachbuches wissen Sie, wie und wo Sie bei sich selbst und in der Organisation ansetzen müssen, damit Self-Leadership in einer Organisation der Sozialen Arbeit als Konzept implementiert werden kann.
Leseprobe aus den Seiten 15 bis 17
***
1.3 Self-Leadership: ein neuer Führungsansatz für die Soziale Arbeit?
Personalführung beinhaltet die unmittelbare Kommunikation und Interaktion zwischen Führungskräften und ihnen unterstellten Mitarbeitenden, die der „absichtlichen Beeinflussung der Einstellungen und des Verhaltens der Mitarbeiter im Hinblick auf die angestrebten Unternehmungsziele dient“ (Holtbrügge 2022, S. 249). In der Literatur wird eine Reihe von sowohl ideal- als auch realtypischen Führungsstiltypologien unterschieden. Eine weit verbreitete Typologisierung geht auf Lewin, Lipitt und White 1938 bis 1940 in der sogenannten „Iowa-Studie“ zurück. Bei einer Untersuchung, wie unterschiedliche Führungsverhaltensweisen von Erwachsenen auf aggressives und feindseliges Verhalten von Kindern wirken, wurde in die Führungsstile autoritär, demokratisch und laissez-faire unterschieden. In der Literatur finden sich darüber hinaus weitere Führungsstile, die teilweise inhaltlich überschneidend sind, z. B. partizipativ, mitarbeitenden- und aufgabenorientiert, patriarchisch etc. (eine gute Übersicht ist Berthel/Becker 2017, S. 176 zu entnehmen). Führungsstile sind Modelle, die versuchen, die Wirklichkeit zu beschreiben. Doch insbesondere die Wirklichkeit bezüglich der Führung ist ein sehr komplexes Gebilde, das sich in Kommunikation und Interaktion zwischen Menschen konstruiert. Deswegen kann kaum auf eine Typologie als konsistente Beschreibung eines Führungsstils referenziert werden, insbesondere nicht in der Sozialen Arbeit. Zu vielschichtig und unterschiedlich ist die gelebte Praxis. In Reaktion auf diese Erkenntnis wird aktuell weniger in eindimensionalen Stilen versucht, Führungsverhalten zu beschreiben, sondern vielmehr in sogenannten mehrdimensionalen Stilen, die auch unterschiedliche Verhaltensweisen in sich vereinen können. Viel Beachtung hat in diesem Zusammenhang die Veröffentlichung von Bass und Aviolo (1993) erhalten, die den transaktionalen und transformationalen Führungsstil als Unterscheidungen in die Diskussion mit eingebracht haben. Die transaktionale Führung steht für das Prinzip des Austausches: Mitarbeitende stellen ihre Arbeitskraft und Leistung einem Unternehmen zur Verfügung und erhalten dafür eine Gegenleistung (vgl. Heidbrink/Debnar-Daumler 2019, S. 23). Die transformationale Führung hingegen wird als Führung des Wandels bezeichnet, die auf die Entfaltung von angelegten Stärken und verdeckten Potenzialen bei Mitarbeitenden bzw. im Team angelegt ist (vgl. Heidbrink/Debnar-Daumler 2019, S. 29). Auch andere Autor:innen nehmen ähnliche Unterscheidungen vor und ersetzen in der Diskussion viele unterschiedliche eindimensionale Führungsstile durch wenige mehrdimensionale Führungsstile. Die Unterscheidungen sind dabei im Kern sehr ähnlich. Holtbrügge (2022, S. 249) differenziert etwa, dass die Beeinflussung im Rahmen von Führung prinzipiell auf zwei unterschiedlichen Wegen erfolgen kann:
- Verhaltensbeeinflussung durch Motivation: In Anlehnung an Erkenntnisse der Motivationstheorie (Menschen folgen Personen, die ihre Bedürfnisse befriedigen können) bedeutet Personalführung in diesem Sinne, das Führungsverhalten an den Bedürfnissen der Mitarbeitenden auszurichten (kooperative Führung).
- Diese Ausrichtung ist mit der transformationalen Führung vergleichbar.
- Verhaltensbeeinflussung durch Macht: Vorgesetzte erhalten durch die formale Rollenzuweisung innerhalb der Organisation die Möglichkeit, Entscheidungen auch gegen den Willen von Mitarbeitenden zu treffen. Personalführung in diesem Sinne bedeutet, das Führungsverhalten an der Positionsmacht der Führungskraft auszurichten (autoritäre Führung).
- Diese Ausrichtung ist mit der transaktionalen Führung vergleichbar.
Die Unterscheidungen sind nicht als alternierend anzusehen. Vielmehr wird ein Kontinuum von Führung und Verhaltensbeeinflussung eröffnet, in dem sich Führungskräfte insgesamt und je nach Situation mal mehr auf der einen oder der anderen Seite bewegen (Prinzip von mehrdimensionalen Führungsstilen). Die jüngere Führungslehre geht im Rahmen des Holistic-Individual-Ansatzes (vgl. Löhe/Aldendorff 2022, S. 110) zunehmend davon aus, dass Führung insbesondere dann gelingt, wenn Mitarbeitende Ziele der Organisation aus eigenen Interessen verfolgen, an der Organisation und deren Entwicklung beteiligt werden und sich mit einer Organisation identifizieren können. Jüngere Entwicklungen unterstellen damit einem kooperativen Führungsstil eine höhere Wirksamkeit. Dass Autonomie im Sinne von Kontroll- und Entscheidungsspielraum die Arbeitszufriedenheit erhöht, ist nach dem Characteristics Model (1975) von Hackman und Oldham schon länger eine anerkannte Annahme über das Zustandekommen von Arbeitszufriedenheit (vgl. Ferreira 2020, S. 42). Mit neuen Möglichkeiten der Arbeitsorganisation durch z. B. mobiles Arbeiten und damit zeit- und ortsunabhänginger(e)s Arbeiten hat sich der Möglichkeitsraum von Entscheidungen jedoch verändert, er ist gewachsen. Mitarbeitende müssen also – bei Beibehaltung der Autonomie – mehr Entscheidungen treffen bzw. sich bewusst(er) von Arbeit abgrenzen. Das gelingt nicht immer und jedem:r: Das Phänomen der kognitiven Dissonanz beschreibt, dass Menschen sich nicht immer so verhalten, wie sie es eigentlich möchten oder es der Verstand nahelegt (vgl. Fischer/Jander/Krueger 2018, S. 20). Zu wissen, dass es sinnvoll ist, nach einer bestimmten Zeit nicht mehr zu arbeiten und es wirklich auch zu unterlassen, ist demnach nicht dasselbe. Dass Beschäftigte mit völlig selbstbestimmten Arbeitszeiten oft schlecht abschalten können, selbstorganisierte Arbeitsarrangements leichter Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben verschwimmen lassen und die fortwährende Entscheidungsnotwendigkeit über Arbeitszeit und -ort ein Stressfaktor für Beschäftige sein kann (vgl. Lott 2017, S. 3), unterstreicht das Vorhandensein einer neuen Herausforderung: Hohe Autonomie ist gut für die Arbeitszufriedenheit, durch neue Möglichkeiten des Arbeitens ergibt sich dadurch jedoch auch ein neuer Stressor. Nicht zuletzt durch die veränderten Anforderungen einer VUCA-Welt erhöht sich die Gefahr der mentalen Erschöpfung und eines Burn-outs. Als hilfreicher Ansatz erscheint es in dem Zusammenhang, Mitarbeitenden Techniken zur Selbstbeobachtung und Selbstführung zu geben, wie es der Ansatz des Self-Leadership verspricht. Insofern ist der Ansatz auch eine Antwort, auf eine komplex(er) gewordene Arbeitswelt.
Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass es nicht „die ideale Führungskraft“ gibt. Vielmehr hängt erfolgreiche Führung von der Führungsperson und ihren individuellen Stärken sowie der jeweiligen (Führungs-)Situation und Organisation ab (vgl. Gräser 2013, S. 251f.). Voraussetzung dafür ist, dass eigene Stärken erkannt und daraus individuelle Führungsstile – abhängig von der Führungskraft – entwickelt werden können. Ein Ansatz, der an individuellen Stärken von Führungskräften ansetzt, ist der Ansatz des Self-Leadership. Hier wird davon ausgegangen, dass Führungskräfte sich zunächst selbst führen können müssen, um andere erfolgreich führen zu können (vgl. Furtner 2017, S. 1).
***
Sie möchten gern weiterlesen?
Jetzt versandkostenfrei im Budrich-Shop bestellen