„Rechte und islamistische Akteure digital und analog“: Leseprobe

Social Media © Unsplash 2021 / Foto: ROBIN WORRALL

Inszenieren und Mobilisieren: Rechte und islamistische Akteure digital und analog

von Ursula Birsl, Julian Junk, Martin Kahl und Robert Pelzer (Hrsg.)

 

Über das Buch

Soziale Medien bilden im zunehmenden Maß einen Ort der Austragung und diskursiven Verarbeitung gesellschaftlicher und politischer Konflikte. Extrem rechte und salafistisch-dschihadistische Akteur*innen nehmen an diesen Auseinandersetzungen teil und nutzen sie als Plattform zur Propaganda. Der Band widmet sich der Frage, wie sich Mobilisierungs- und Radikalisierungsprozesse in sozialen Medien entfalten und unter welchen Bedingungen sie zu Gewalthandlungen in der realen Welt führen können.

Leseprobe: S. 18-27

 

3 Übersicht über diesen Band

Der Band stützt sich auf Befunde aus Fallstudien zu Online- und Offline- Kommunikationen von kollektiven und individuellen Akteur*innen der extremen Rechten sowie des salafistischen Dschihadismus. Die Beiträge untersuchen, wie sich Diskurse im Zeitverlauf entwickeln, wie sie gesteuert werden, wie sie gemeinschaftsbildende Dynamiken entfalten, Feindbilder stärken und Gewaltfantasien sichtbar werden lassen. Diese Diskurse bieten den User*innen einen politischen und/oder religiösen Referenzrahmen sowie Echoraum für ihre Weltanschauungen und eine vermeintliche Gemeinschaft Gleichgesinnter – sie können enthemmen oder den Blick auf die eigene Lebenssituation und Deutung der Welt verengen. Die Beiträge zeigen, dass Akteur* innen aus dem salafistisch-dschihadistischen und dem rechten Spektrum den Charakter und die Funktionsweisen sozialer Medien erkannt haben und versuchen, diese für sich strategisch zu nutzen. Sie setzen auf die Manipulation von Meinungen über digitale Plattformen, um ihre eigenen Ideen präsenter und attraktiver zu machen und ihnen Legitimation zu verschaffen. Diese Versuche führen aber nicht zwingend zu Radikalisierung und Mobilisierung zur Gewalt. In den Studien wird daher auch der Frage nachgegangen, wann, d.h. unter welchen Bedingungen in der Realwelt, Mobilisierungsversuche in sozialen Netzwerken Wirkungsmacht – insbesondere in Form von Gewalt – entfalten und wann dies nicht der Fall ist. Die Beiträge gehen offen mit den Grenzen empirischer Forschung um, bspw. welche Chancen aber auch Risiken in der software-basierten Analyse von Online-Daten liegen und welche forschungsethischen und datenschutzrechtlichen Linien eben nicht überschritten werden dürfen.

Diesem letzten Punkt widmen sich zwei grundlegende Beiträge in der ersten Sektion des Bandes, der die rechtlichen und ethischen Einordnungen zusammenfasst. Die zweite Sektion fasst die Befunde aus dem extrem rechten Spektrum zusammen, die dritte die Studien zu salafistisch-dschihadistischen Akteur*innen. Die vierte und letzte Sektion des Bandes wirft einen synthetisierenden Blick zum einen auf das Zusammenspiel zwischen On- und Offline- Dynamiken, also ‚zwischen Tastatur und Straße‘ und zum anderen auf die Möglichkeiten und Grenzen der Klassifikation von Inhalten sozialer Medien mithilfe von Verfahren maschinellen Lernens.

 

3.1 Sozialwissenschaftliche Forschung in sozialen Netzwerken: rechtliche und ethische Einordnungen

Die komplexen rechtlichen Fragestellungen, mit denen die Praxis der sozialwissenschaftlichen Forschung in sozialen Medien konfrontiert ist, werden im Beitrag von Matthias Bäcker und Sebastian Golla diskutiert. Neben dem Datenschutzrecht sind für Forschende u.a. Aspekte des Urheber- und Vertragsrechts im Blick zu behalten. Exemplarisch zeigt die Forschung in geschlossenen Gruppen und der Einsatz von Methoden des ‚Web Scraping‘ die Komplexität der Herausforderungen für grundrechtliche Fragen. Gerade für das Datenschutzrecht erscheint es wichtig, die grundlegenden Prinzipien zu beherzigen, in Forschungsprojekten für grundrechtliche Belange zu sensibilisieren und die Herausforderungen auf dem Gebiet möglichst bereits bei der Konzeption des Projektes mitzudenken. Im Hinblick auf vertragsrechtliche Hürden ist die besondere Dynamik zu beachten, mit der sich die Bedingungen für den Zugang zu sozialen Medien und ihren Inhalten verändern.

Im Forschungsverbund PANDORA war zudem die Frage nach Verantwortung und Ethik in der Online-Forschung wiederholt Gegenstand von Reflexionen – ja, sie stand sogar im Kern der wesentlichen Abwägungen um Forschungsdesigns und Anwendungsorientierung. Ursula Birsl und Julian Junk stellen in ihrem Kapitel diese Reflexionen mit Rückgriff auf die Ethikphilosophie dar. Anders als in der ‚Offline-Forschung‘ verflüssigen sich in Studien in sozialen Netzwerken Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Denn das, was ‚privat‘ gepostet wird, wird faktisch öffentlich – zumindest in offenen Foren. Das Verhältnis zwischen Forschenden und Beforschten strukturiert sich dadurch gleichfalls neu. Daher stehen Verantwortung und Mitverantwortung von Forschenden im Zentrum dieses Kapitels. Eingeflochten werden in den Beitrag die Erfahrungen aus der eigenen Forschungspraxis. Hier werden die von Heise und Schmidt formulierten ethischen Anforderungen der Wahrhaftigkeit, Authentizität, Richtigkeit oder Reziprozität aufgegriffen. Der Beitrag schließt mit forschungsethischen Herausforderungen und Leitlinien für die Forschung mit Online-Daten.

 

3.2 Virtuelle und reale Welten rechter Akteur*innen

Wie übersetzen sich Hass und Gewalt extrem rechter Akteur*innen im digitalen Raum in die Realwelt? Dieser Frage gehen Holger Marcks und Janina Pawelz in ihrem Beitrag nach. Sie stützen sich auf das Konzept der ‚gefährlichen Rede‘, wie es mit der US-amerikanischen Journalistin und Sprachwissenschaftlerin Susan Benesch bezeichnet werden kann, und untersuchen die logische Funktionsweise von Online-Kommunikation, um vorgelagerte Prozesse zu beleuchten, die Hass konstituieren und Gewalt legitimieren. Konkret analysieren sie, wie rechtsextreme Narrative in sozialen Medien Emotionen mobilisieren und so auf die Akzeptanz oder gar Anwendung von Gewalt vorbereiten. Anhand zweier Kampagnen werden Muster, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den narrativen Strukturen rechtextremer Online-Kommunikation identifiziert.

Bei der Mobilisierung gegen den Migrationspakt sind primär Narrative vorzufinden, die von einer allgemeinen Bedrohung der nationalen Gemeinschaft durch Migration handeln. Bei der Mobilisierung zu einem Mord in dem Ort Kandel sind primär Narrative vorzufinden, die von der physischen Bedrohung (von Frauen) durch sogenannte Ausländergewalt handeln. In beiden Kampagnen kommen Techniken der dramatischen Erzählung zum Einsatz, einschließlich des rhetorischen Mittels der Übertreibung. Dazu zählt die häufige Verwendung von Superlativen („antidemokratischste, gefährlichste und heimtückischste“) und hyperbolischer Adjektive und Verben („grausam niedergemetzelt“, „bestialisch“). In den Narrativen der Kampagnen wird zudem eine Art Verblendung der Massen diagnostiziert, die durch eine falsche Berichterstattung der Medien („Lügenpresse“) in kognitiver Unfreiheit gehalten werden. Neben Behauptungen der Verschwörung und des Verrats durch Politiker schwingen in den Kampagnen, wenn auch subtiler, Narrative der Ungleichwertigkeit mit. So wird eine zivilisatorische Differenz behauptet, in der die eigene Kultur als überlegen und das Fremde als minderwertig erscheint. Die Narrative laufen schließlich zusammen in Narrativen der Palingenese, die davon handeln, dass man sich erheben und neue alte Stärke demonstrieren müsse. Dabei werden zwar vor allem legale Handlungsoptionen angeführt (z.B. Teilnahme an Demonstrationen, Spendenaufrufe, Unterzeichnen von Petitionen, etc.), jedoch wird durch die Bedrohungsnarrative, die eine Situation kollektiver Notwehr konstruieren, nahegelegt, dass auch drastischere Maßnahmen erforderlich sind. Gewalt wird so zu einer logischen Option, auch wenn der Griff zur Gewalt nicht explizit vorgeschlagen wird. Die Autor*innen des Beitrags fordern deshalb, dass Programme gegen Rechtsextremismus stärker auch solche gewaltvorbereitenden kommunikativen Handlungen in den Blick nehmen müssen.

Im folgenden Kapitel von Anja Schmidt-Kleinert geht es um die innere Konsistenz der Feindbildkonstruktionen extrem rechter Akteur*innen. Es geht also nicht nur darum, dass Feindbildkonstruktionen benutzt werden, um ein bestimmtes Narrativ zu transportieren, sondern wie. Im Zentrum des Beitrags steht die Mobilisierung durch extrem rechte kollektive Akteure im Kontext des ‚Gewaltereignisses Chemnitz‘. Anja Schmidt-Kleinert zeigt, wie die Online-Mobilisierung im Vorfeld der eigentlichen Aufmärsche ablief, die viele doch überrascht hatte. In der Analyse werden in Anlehnung an die kritische Diskursanalyse die Posts ausgewählter extrem rechter Akteur*innen in ‚Chemnitz‘ und die dazugehörigen Kommentare daraufhin untersucht, wie die verwendeten Feindbilder in der Online-Kommunikation konstruiert werden und welche Funktion diese für die Mobilisierung übernehmen, die sich im Nachhinein als erfolgreich erwiesen haben wird. Vor allem gelang diese Ansprache durch das Reaktivieren eines verschwörungsideologischen – und damit zutiefst antisemitischen – kollektiv geteilten Wissens vor dem Hintergrund eines Freund-Feind-Denkens im Sinne des Staatstheoretikers Carl Schmitt. Eine zentrale Strategie, die von den beobachteten Akteur*innen angewandt wurde, fokussierte auf zentrale Feindbilder – Geflüchtete, Medien, politische Gegner*innen, „die da oben“ –, die zueinander in eine hierarchische Beziehung gesetzt und in ein darüber transportiertes verschwörungsaffines Weltbild eingebettet wurden. Das ‚Gewaltereignis Chemnitz‘ zeigt exemplarisch, dass die ‚Neue Rechte‘ mit ihrer Strategie in Chemnitz vor allem deshalb erfolgreich war, weil sie eine nach wie vor starke nationale Identität, eine ‚eigene‘ Kultur in Abgrenzung zu und bedroht durch als ‚Andere‘ Gelesene ansprechen konnte. Der ‚Fall Chemnitz‘ zeigt, dass auf diese Weise ‚neu‘ verpackt altbekannte politische Ziele der extremen Rechten unters ‚Volk‘ gebracht werden konnten.

Im dritten Kapitel dieser Sektion beschäftigt sich Laura Jäkel mit möglichen „Gelände- und Machtgewinnen“ (Wilhelm Heitmeyer) extrem rechter Akteur*innen in der realen und virtuellen Welt und damit, wie pro-demokratische Akteur*innen aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft in ausgewählten Kommunen hierauf reagieren. Grundlage sind ethnografisch angelegte Studien in fünf ausgewählten Kommunen, in denen rechte Gewalttaten zu verzeichnen waren, die sich gegen Geflüchtete, Asylunterkünfte oder Politiker*innen, die sich für Asylsuchende einsetzten, richteten. Drei dieser Lokalstudien sind Gegenstand des Beitrags. Es wird zum einen danach gefragt, ob und wie die Gewaltereignisse online und offline von den pro-demokratischen Akteur*innen bearbeitet wurden und ob die lokale, jeweils durchaus sichtbare extrem rechte Szene Thema öffentlicher Auseinandersetzung vor Ort war oder deren Existenz relativiert wurde – wie auch die Gewaltereignisse. Zum anderen wird thematisiert, welche Möglichkeitsräume extrem rechte Akteur*innen in der Online-Kommunikation vorfinden, also welche „Gelände- und Machtgewinne“ sie in der virtuellen Welt erzielen – aber auch, welche Grenzen im Vergleich zur Realwelt ausgemacht werden können. In den Lokalstudien kann gezeigt werden, welche (erweiterten) Gelegenheitsstrukturen das Internet extrem rechten und gewaltbereiten Akteur* innen bieten kann, diese aber erst dann wirkmächtig werden können, wenn in der lokalen politischen Kultur und damit in der Realwelt zugelassen wird, dass sich Machtgewinne zu „Normalitätsgewinnen“ entwickeln. Dieser Befund gewinnt deshalb an Bedeutung, als dass rechte Aktivitäten und Gewalttaten vorrangig im selben lokalen Kontext weitere Gewaltdynamiken nach sich ziehen (können).

Das folgende Kapitel analysiert ausgewählte rechtsterroristische Akteur*innen, die ihre Anschläge in den Jahren 2015 und 2016 im Kontext der Debatte um Flucht und Asyl in Deutschland begangen haben. Anja Siegel dienen als Datenmaterial hier Gerichts- und Ermittlungsakten von neun ausgesuchten Fällen mit insgesamt 30 Täter*innen. Ziel des Beitrags ist die Entwicklung einer Typologisierung rechtsterroristischer Akteur*innen, die sich in ihrer 1) Akteurskonstellation, 2) der Akteursbildung, 3) der hierarchischen Strukturen innerhalb einer Akteurskonstellation und in ihrer 4) Ausprägung einer eigenen Akteursidentität unterscheiden. Der Typ A umfasst hier große Gruppen an Personen, die über eine formale Struktur, eine ausgeprägte Akteursidentität verfügen und sich aus politischen Gründen zusammengefunden haben, um eine rechtsterroristische Tat zu verüben. Der Typ B besteht aus losen, informellen Gruppen und Paarkonstellationen, mit wenigen hierarchischen Strukturen und einer gering ausgeprägten Akteursidentität. Die Akteurskonstellationen bildeten sich hier meist aus einem Freund*innenkreis heraus und die Akteur*innen begingen ihre Taten mehr oder weniger spontan. Der Typ C beschreibt Einzeltäter*innen mit einer weniger ausgebildeten Akteursidenität. Hier fällt auf, dass je gefestigter die Akteursstruktur in Hinblick auf Hierarchie, Arbeitsteilung, Akteursidentität war, desto komplexer wurden Tatmittel und Taten geplant. In ihren Tatmotiven und Zielen unterschieden sich die einzelnen Typen kaum. Die Analyse der ausgewählten Fälle zeigt, dass informelle rechtsterroristische Akteure*innen, die sich nur in spontanen Konstellationen zusammenfanden und Anschläge begingen, die vorherrschende Form rechtsterroristischer Gewalt darstellten. Eine große Rolle spielten zudem operative Einzeltäter*innen, die von dem üblichen Vorgehen abwichen und bspw. auf ein ‚Manifest‘ verzichteten, sich jedoch in ihren Tatmotiven nicht von den informellen Akteur*innen unterschieden.

 

3.3 Virtuelle und reale Welten salafistisch-dschihadistischer Akteur*innen

Soziale Medien dienen auch salafistisch-dschihadistischen Akteur*innen als wichtige operationelle Umgebung. Das Kapitel von Manjana Sold nimmt die eingesetzten Mobilisierungstechniken salafistischer Akteur*innen in der virtuellen Welt in den Blick. Es arbeitet zum einen heraus, wie Personen für die salafistische Ideologie gewonnen werden (quantitative Mobilisierung). Zum anderen stellt die Autorin dar, wie und mittels welcher Techniken das Engagement von Mitgliedern erweitert wird (qualitative Mobilisierung). Die Darstellung basiert exemplarisch auf der empirischen Analyse der Facebook- Accounts drei unterschiedlicher radikaler salafistischer Personen, die der Typologisierung gewaltfrei, gewaltaffin und gewalttätig zugeordnet werden können.

Es zeigt sich, dass sowohl die Inhalte der Online-Diskurse als auch die Art und Weise der Inhaltsvermittlung sowie die gewählte Textform je die quantitative und qualitative Mobilisierung beeinflussen, es aber über die Radikalisierungstypen recht wenig Varianz gibt: Inhaltlich werden simplifizierende Narrative eingesetzt, die einfache Kategorisierungen und Differenzierungen zwischen Gut und Böse ermöglichen. Vor allem Diskriminierungserfahrungen werden über alle Radikalitätsgrade gezielt zur Mobilisierung verwendet. Auch die Art und Weise der Inhaltsvermittlung gestaltet sich über die Radikalitätsgrade hinweg ähnlich. Rezeptionsmuster und -gewohnheiten der Adressat*innen werden bedient und zielgruppenspezifisch adressiert. Mittels crossmedialer Aktivitäten und der Nutzung diverser Online-Dienste wird versucht, möglichst viele Personen zu erreichen. Was die Texte und Textformen betrifft, wird auf Vielfältigkeit gesetzt. Reine Texte, audiovisuelle Inhalte – allen voran Memes, Bilder und kurze Filme – finden Anwendung. Trotz ihrer unterschiedlichen Radikalität unterscheiden sich deshalb, so ein Kernargument von Manjana Sold, die von den jeweiligen Akteur*innen eingesetzten Mobilisierungstechniken kaum. Unterschiede gibt es bei den analysierten Profilen jedoch hinsichtlich der Forderungen, die mit den Narrativen einhergehen. Diese Erkenntnis ist für die Präventions- und Demobilisierungsarbeit insofern von besonderer Bedeutung, als einzelne Maßnahmen durchaus gleichzeitig verschiedene Radikalisierungsstufen adressieren können.

Im folgenden Kapitel legt Hande Abay Gaspar dann den Fokus auf Offline-Dynamiken in Radikalisierungsprozessen salafistischer Gruppen in Deutschland. Der Beitrag präsentiert die Ergebnisse einer empirischen Studie, in der drei Gruppen mit unterschiedlicher Gewaltausrichtung vergleichend untersucht wurden. Mithilfe von Kausalprozessanalysen wird angelehnt an die Soziale Bewegungsforschung sowohl nach gruppenbasierten (internen) als auch umfeldbezogenen (externen) Bedingungsfaktoren gesucht. Als relevante interne Bedingungsfaktoren identifiziert wurden der Einfluss von Schlüsselpersonen, die Konstruktion einer kollektiven Identität und die Mobilisierung zur sowie die Durchführungsweise von Da’wa-Arbeit als Ressource. Extern bedingte Faktoren stellten Reaktionen auf sicherheitsbehördliche Maßnahmen, auf Medienberichte und auf politische Ereignisse dar.

Hande Abay Gaspar kommt zum Ergebnis, dass eine Radikalisierung in die Gewalt ein multikausaler Prozess ist, bei dem keinem der Bedingungsfaktoren eine hinreichende Wirkung zukommt. Vielmehr lässt sich ein gleichzeitiges Zusammenwirken mehrerer Bedingungsfaktoren bzw. eine bestimmte Abfolge dieser erkennen, wodurch die jeweiligen Bedingungsfaktoren über die drei Fallstudien hinweg unterschiedliche Wirkungen erzeugt haben. Folglich sind nicht die einzelnen Bedingungsfaktoren per se, sondern ihre Konstellation sowie der Zeitpunkt ihres Auftretens dafür ausschlaggebend, ob sie einen radikalisierenden oder gar gewaltfördernden Effekt haben. Die Wirkung der Bedingungsfaktoren ist somit immer fall- und kontextabhängig, weshalb allgemeingültige Kausalitätsformeln kaum möglich sind. Hinsichtlich der Wirkung von internen und externen Faktoren gelangt die Studie zur Erkenntnis, dass beide Ursachenkategorien gleichermaßen relevant sind und sich gegenseitig bedingen. Das Verhältnis zwischen radikalen Gruppen und ihrer Außenwelt ist daher Ausdruck und Ursache von Radikalität zugleich. Das Kapitel schließt mit einem Plädoyer für die Stärkung von Kommunikationswegen zwischen salafistischen Akteur*innen auf der einen sowie politischen, staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen auf der anderen Seite, welche für Forschung und Prävention unerlässlich erscheinen.

Der abschließende Beitrag von Mika Moeller und Robert Pelzer untersucht Merkmale dschihadistischer Selbstverortung in sozialen Medien. Der Beitrag stellt die Ergebnisse einer quantitativ-vergleichenden Inhaltsanalyse der Häufigkeiten von Abwertungen, gewaltaffirmativen Äußerungen, unterschiedlichen Themen sowie religiösen Konzepten und Bearbeitungsformen bei dschihadistischen und nicht-dschihadistischen Nutzer*innen sozialer Medien dar. Für ein kleines Sample von dschihadistischen Profilen werden Selbstverortungen und Wirklichkeitsbezüge qualitativ vertiefend betrachtet und mit Bezügen zu einer realweltlichen dschihadistischen Praxis abgeglichen. Die Analysen stützten sich auf 28 dschihadistische und zehn als ‚dschihadismusoffen‘ klassifizierte Facebook-Profile und Telegram-Kanäle. Vergleichend wurden neun dem salafistischen ‚Mainstream‘ zuordenbare Profile und Kanäle sowie neun Kanäle nicht-salafistischer islamischer Gruppen und 13 nicht-salafistische islamische Facebook-Profile in die Analyse einbezogen.

Die Autor*innen kommen zu dem Ergebnis, dass sich Dschihadist*innen in sozialen Medien zwar in ihrer schriftsprachlichen Kommunikation von nicht-dschihadistischen Nutzer*innen unterscheiden, sich aber keine ‚typischen‘ Merkmale von Dschihadist*innen in sozialen Medien identifizieren lassen. Vielmehr bietet der Dschihadismus Anknüpfungspunkte für verschiedene Handlungsentwürfe, Persönlichkeitstypen und Motivationen, was sich auch in den Selbstpräsentationen unterschiedlicher Nutzer*innen zeigt. Innerhalb des dschihadistischen Feldes unterscheiden sich real-dschihadistische Profile von cyber-dschihadistischen in der kohärenten Darstellung einer realweltlichen Praxis des Akteurs sowie der eigenen Bezugsgruppe. Dabei ist die religiöse (Alltags-)Praxis in den Profilen durchgängig kein Thema, wie auch die quantitative Inhaltsanalyse bestätigt, und scheint in dem hier betrachteten Feld daher nur eine untergeordnete Rolle zu spielen.

 

3.4 Synthesen

Das Kapitel von Maik Fielitz und Martin Kahl bringt die in den vorangegangenen Kapiteln jeweils separat untersuchten rechtsextremen und islamistischen Gruppierungen in einer vergleichenden Analyse ihrer Strategien und Praktiken zusammen. Anhand der Kampagnen #NichtOhneMeinKopftuch aus dem islamistischen und der Kampagne Migrationspakt Stoppen! aus dem rechtsextremen Spektrum wird gezeigt, wie post-digitale Kampagnen im identitären Rechtsextremismus und Islamismus verlaufen, auf welchen narrativen Figuren sie aufbauen und welche strategischen Mittel eingesetzt werden, um der politischen Agenda Nachdruck zu verleihen.

Im Ergebnis wird deutlich, dass beide Gruppierungen auf die veränderten Opportunitätsstrukturen, die sich durch die sozialen Medien ergeben, reagiert und Anschlussfähigkeit an gesellschaftliche Problemdiskurse hergestellt haben. Sie zeigten sich versiert im Umgang mit diesen Medien und verwendeten in ihren Kampagnen Verschleierungsstrategien und zeitgemäße ästhetische Darstellungsweisen, um ihren Botschaften Verbreitung zu verschaffen. Dies alles waren zudem wichtige Faktoren, die zur Attraktivität der Gruppierungen in ihren eigenen Referenzmilieus auch jenseits homogener Ideologien beitrugen. Das Kampagnenformat zeigte, dass es aus Sicht der identitären Akteur*innen beider Lager nicht unbedingt notwendig ist, dass Menschen ihren jeweiligen Gruppierungen beitreten, sondern dass sie die dahinterstehenden Ideologien durch die Übernahme von Codes, Symbolen und Praktiken reproduzieren. Die Bewegungen fungieren so als sozio-politische Anker, deren Einfluss weniger auf der Anzahl ihrer Mitglieder als vielmehr auf der Verbreitung ihrer Narrative und der Imitation ihrer kulturellen Praktiken beruht. Der Vergleich macht darüber hinaus deutlich, dass Aktivist*innen Kampagnen im Netz und auf der Straße gleichzeitig geplant haben. Mittels verschiedener niedrigschwelliger partizipativer Angebote im Alltag und über die Plattformen sozialer Medien verbanden sie politische Agitation mit den Lebenswelten vor allem junger Menschen so stark, dass die herkömmliche Trennung zwischen virtueller und realer Welt zunehmend obsolet geworden ist. Diese neue sozio-technische Kondition beschreiben die Autoren als „postdigital“.

Robert Pelzer und Mathias Uhlenbrock untersuchen in ihrem Beitrag zu Möglichkeiten und Grenzen der Klassifikation von Social-Media-Inhalten mithilfe von Verfahren maschinellen Lernens und tragen einige lessons learned aus dem Forschungsprozess des PANDORA-Projektes zusammen. Nach einer Einführung in die methodischen Grundlagen automatisierter Textklassifikation werden der annotierte Datensatz, der Versuchsaufbau sowie die Klassifizierungsergebnisse und Performance-Indikatoren eingehend dargestellt. Modelliert wurden drei Klassen von Inhalten schriftsprachlicher Kommunikation im Phänomenfeld des salafistischen Dschihadismus: (1) Abwertungen von Gruppen und Personen; (2) gewaltaffirmative Äußerungen sowie (3) religiöse Inhalte. Die Evaluation der Textklassifizierer ergab eine hohe Klassifizierungsgüte („beachtliche Übereinstimmung“) für „Religiöse Inhalte“ und eine Klassifizierungsgüte im mittleren Bereich („moderate Übereinstimmung“) für „Abwertungsphänomene“ und „Gewaltaffirmationen“. Aus Sicht der Autoren sind die Klassifizierer durchaus geeignet, erste belastbare Hinweise auf die Existenz und das Ausmaß von gewaltaffinen Haltungen und Unwertigkeitsvorstellungen in einer betrachteten Datenquelle zu geben. Für eine automatisierte Identifikation von Indikatoren für Radikalisierungs- und Mobilisierungsprozessen seien jedoch sowohl Trefferquote als auch Präzision der Klassifizierer zu niedrig.

Die Beiträge dieses Bandes bilden keine disparate Sammlung unterschiedlicher Teilstudien, sondern sind in engem Austausch entstanden. Nur dies machte es möglich, dass sich trotz einiger unterschiedlicher Gewichtungen und Einschätzungen überhaupt so etwas wie ein Gesamtbild der Komplexitäten von Mobilisierungsdynamiken und (vermeintlichen) Radikalisierungsprozesse an der Schnittstelle zwischen On- und Offline Dynamiken abzeichnet – und das in einem Feld, in dem es notorisch schwierig ist, belastbare Daten zu gewinnen, und das auch nur im Dialog zwischen verschiedenen Disziplinen erarbeitet werden kann.

Die Befunde des Forschungsverbunds und die Beiträge des Sammelbands bewegen sich zwischen der eingangs geschilderten Position, dass extrem rechte oder religiös-fundamentalistische ‚Radikalisierung‘ und die Bereitschaft, sich dem Dschihadismus anzuschließen, nicht allein auf Online- Kommunikation zurückzuführen sind – also Online-Dynamiken eine nachrangige Rolle spielen – und einer Position, die auf eine enge Interaktion zwischen Online-Offline-Welten verweist, bzw. eine Unterscheidung zwischen diesen beiden Welten zur Erfassung der Dynamiken innerhalb der beiden untersuchten Spektren als nicht länger sinnvoll erachtet. Als gemeinsamer Nenner kann beiden Positionen jedoch die Erkenntnis dienen, dass die sozialen Netzwerke und Messenger-Dienste durchaus eine erweiterte Gelegenheitsstruktur bilden, die es ermöglicht, eigene Alltagstheorien und Weltanschauungen unmittelbar mit anderen zu teilen und sich mit einer Community verbunden zu sehen. Strategisch Handelnde können hierüber direkt mögliche Anhänger*innen adressieren und für sich gewinnen. Dabei knüpfen sie häufig an die Lebenswelt der Adressierten an, spitzen zu, verbreiten Opfernarrative und enthemmen den Diskurs über Gewaltaufrufe und -fantasien. Alltagstheorien, extreme Weltanschauungen und Gewaltfantasien werden in den Online- Foren wie in einem Echoraum – befördert durch Algorithmen – vervielfacht und verstärkt. Ob und inwieweit diese Mobilisierungsversuche Resonanz finden und bspw. in Gewalthandlungen münden, hängt jedoch wesentlich auch von sozialen, psycho-sozialen sowie politisch-kulturellen Kontextbedingungen ab.

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3D Cover Birsl AkteureUrsula Birsl, Julian Junk, Martin Kahl, Robert Pelzer (Hrsg.): Inszenieren und Mobilisieren: Rechte und islamistische Akteure digital und analog

 

 

© Unsplash 2021 / Foto: ROBIN WORRALL