Leseprobe aus „Lokale Antworten auf aufenthaltsrechtliche Prekarität“

Cover "Lokale Antworten auf aufenthaltsrechtliche Prekarität"

Lokale Antworten auf aufenthaltsrechtliche Prekarität
Zugänge zu Gesundheitsversorgung, Unterbringung und Bildung

von Ilker Ataç, Simon Güntner, Adrienne Homberger und Maren Kirchhoff (Hrsg.)

 

Über das Buch

Migrant*innen in aufenthaltsrechtlicher Prekarität sind in vielen europäischen Ländern mit Einschränkungen beim Zugang zu sozialen Leistungen konfrontiert. Das Buch beschreibt mit Beispielen aus u.a. Cardiff, Frankfurt und Wien, wie Stadtverwaltungen und zivilgesellschaftliche Akteure die betroffenen Personen in den Bereichen Gesundheit, Unterkunft und Bildung unterstützen. Die Beiträge beleuchten auch die rechtlichen, politischen und praktischen Herausforderungen, die bei der Versorgung dieses Teils der lokalen Bevölkerung bestehen.

Leseprobe aus den Seiten 11 bis 14

 

***

Einleitung

Adrienne Homberger, Ilker Ataç, Simon Güntner und Maren Kirchhoff

Im Zentrum gegenwärtiger Debatten um die Regulierung von Migration steht die Abgrenzung zwischen wünschenswerter und unerwünschter Migration. Für die aufgrund des zunehmend sichtbaren Fachkräftemangels benötigten hochqualifizierten Arbeitskräfte werden Anreize geschaffen, etwa durch eine rasche Verfestigung des Aufenthaltsstatus und den damit verbundenen Zugang zu sozialen Rechten. Zugleich werden externe und interne Maßnahmen der Migrationskontrolle verschärft, um unerwünschte Migration einzudämmen. Wie bei externen Maßnahmen wie Grenzschließungen und Pushbacks, wird auch bei internen Maßnahmen auf Abschreckung gesetzt. Letztere reichen von Inhaftierung und Abschiebung hin zur Einschränkung sozialer Rechte und damit des Zugangs zu sozialen Leistungen, um so die Anreize für einen Aufenthalt zu verringern. Die prinzipielle Prekarisierung des Aufenthalts von Nicht-Staatsbürger:innen wurde hierdurch in den letzten Jahrzehnten laufend verstärkt. Grenzziehungen weiten sich in diesem Sinne in den lokalen Raum aus, lokale Akteur:innen werden in die Grenzarbeit einbezogen. Diese europaweite Entwicklung hin zu einem restriktiven Zugang zu sozialen Rechten und Dienstleistungen widerspricht einerseits den Menschenrechten, deren Einhaltung insbesondere solidarische zivilgesellschaftliche Organisationen und Initiativen einmahnen und zu deren Umsetzung einige von ihnen beitragen, indem sie sich speziell darum bemühen, auch in widrigen und aversiven Kontexten den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen für Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus zu ermöglichen. Andererseits widersprechen die restriktiven Bestimmungen und Maßnahmen auch den Zielsetzungen lokaler administrativer und politischer Akteur:innen, die hierdurch bei der Erfüllung zentralerer öffentlichen Aufgaben wie der Verhinderung von Wohnungslosigkeit oder dem Schutz der öffentlichen Gesundheit behindert werden. Nicht zuletzt widersprechen die Verschärfungen den Interessen der Migrant:innen, die darauf verwiesen sind, Schlupflöcher in diesem System zu finden und zu nutzen. In der Praxis resultiert aus diesen Widersprüchen, Spannungen und Konflikten ein dynamisches und kaum überschaubares Feld sozialer Inklusion und Exklusion. Der Zugang zu Unterstützungsleistungen ist dabei abhängig von situativen Deutungen von Ansprüchen, Bedarfen und Notwendigkeiten durch Fachkräfte in Verwaltungen, sozialen Einrichtungen und Beratungsstellen.

Das Interesse, diese Aushandlungsprozesse zu rekonstruieren und dabei die lokalen Spielräume auszuloten und die Argumente und Legitimationsmuster in ihrer Nutzung zu verstehen, stand am Beginn des europäischen Forschungsprojekts Local Responses to Precarious Migrants: Frames, Strategies and Evolving Practices in Europe (kurz: LoReMi), auf dem das vorliegende Buch basiert. Bei der abschließenden Konferenz im September 2022 in Frankfurt am Main entstand die Idee, die zunächst auf Englisch verfassten vergleichenden Ergebnisse auch für den deutschsprachigen Raum aufzubereiten. In diesem Zuge sollte auch Akteur:innen aus der Praxis Gelegenheit gegeben werden, ihre Arbeit und ihre Positionen zu präsentieren. Da wir in engem Austausch mit Kolleg:innen aus der Wissenschaft stehen, die ebenfalls zu diesem Thema arbeiten, haben wir die Gelegenheit ergriffen, auch ihre Perspektiven zu inkludieren und damit die Projektergebnisse konzeptionell zu ergänzen und regional zu erweitern. Damit führen wir den interaktiven Ansatz des Projekts fort, der auch den Forschungsprozess geprägt hat.

Das Buch gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil werden die Ergebnisse des LoReMi Forschungsprojekts vorgestellt. Der einleitende Beitrag von Ataç et al. führt in die zentralen Konzepte und in den Forschungsansatz ein. Er klärt, wie das Aufenthaltsrecht zu Prekarisierung beitragen kann und führt aus, wie wir diesen Zusammenhang empirisch beleuchtet haben. Im Mittelpunkt der Untersuchung stand weniger die Produktion von aufenthaltsrechtlicher Prekarität als die Reaktion auf diese Situation in den Städten Cardiff, Frankfurt am Main und Wien. Die Städte wurden ausgewählt, da sie in gewissen Bereichen Anstrengungen unternehmen, um prekäre Migrant:innen zu unterstützen, und dabei jeweils spezifische Argumentationen und Strategien einsetzen. Zach Bastick und Marie Mallet-Garcia zeigen in der Fallstudie Cardiff: City of Sanctuary – auch für Personen in aufenthaltsrechtlicher Prekarität? wie eine progressive Stadt – im Rahmen einer ebenso progressiven Region – ihre begrenzten Kompetenzen nutzt, um eine Willkommenskultur zu fördern. Diese ist allerdings selektiv. Insbesondere Personen, die von der No Recourse To Public Funds-Regelung betroffen sind, werden kaum erreicht. In der Fallstudie Frankfurt am Main: weltoffene Metropole – auch für Menschen in aufenthalts-rechtlicher Prekarität? zeigen Maren Kirchhoff und Ilker Ataç, dass in der hessischen Großstadt vor allem im Bereich der gesundheitlichen Versorgung Spielräume genutzt werden, um auch Menschen ohne Versicherungsschutz zu erreichen. Eine Schlüsselfunktion kommt dabei der Humanitären Sprechstunde zu. In Wien, so argumentieren Adrienne Homberger und Simon Güntner in ihrem Beitrag Wien: Stadt der Menschenrechte – auch für Personen in aufenthaltsrechtlicher Prekarität? stößt die Umsetzung der lokalen Menschenrechtspolitik in Bezug auf Personen ohne regulären Aufenthaltstitel an ihre Grenzen. Zivilgesellschaftliches Engagement in der Gesundheitsversorgung und Wohnungslosenhilfe ist hier kompensatorisch wirksam. Wie auch in den anderen beiden Städten kommt der rechtlichen Beratung eine Schlüsselfunktion in der Unterstützungsstruktur zu. Die vergleichende Analyse Selektiv inklusiv: Lokale Antworten auf aufenthaltsrechtliche Prekarität in Cardiff, Frankfurt am Main und Wien von Güntner et al. zeigt eine durchgängige Ambivalenz angesichts rechtlicher Unklarheiten und Widersprüche, in deren Rahmen die lokalen Akteur:innen navigieren und handeln. Weitgehend verwirklicht erscheint in allen drei Städten das Recht auf Bildung zumindest im schulpflichtigen Alter, während das Recht auf Gesundheit und das Recht auf angemessenen Wohnraum nur partiell durchgesetzt werden können. Maren Kirchhoff und Adrienne Homberger nehmen im Beitrag Zwischen Prekarisierung, verinnerlichter Unsicherheit und inklusiven Praktiken: Die Produktion und Infragestellung aufenthalts- und sozialrechtlicher Prekarität in Frankfurt am Main und Wien die Situation der betroffenen Menschen und die komplexe Produktion ihrer Prekarität in den Blick. Neben exkludierenden Praktiken seitens der Verwaltungsbehörden ist es mitunter auch die Angst vor einer Abschiebung und das fehlende Vertrauen, die in den betrachteten Fällen den Zugang zu Unterstützung verstellt. Hier sehen die Autorinnen einen wichtigen Ansatzpunkt für die Unterstützungsangebote.

Den zweiten Teil des Buches eröffnen Norbert Cyrus und Vesela Kovacheva. In Wohnungslosigkeit ist keine Sackgasse. Eine Analyse der dynamischen Verläufe des Wohnens von EU-Bürger:innen mit Unterstützungsbedarfen in Hamburg präsentieren sie Ergebnisse einer Studie im Auftrag der Diakonie Hamburg und reflektieren ihre Erkenntnisse aus einer doppelt angewandten dynamischen Perspektive. Sie bringen gegenläufige und widersprüchliche fachliche, rechtliche und politische Vorgaben ans Licht, die von den Migrant:innen angesichts ausbeuterischer Bedingungen am Arbeits- und Wohnungsmarkt für eine gelingende Alltagsbewältigung verstanden und genutzt werden müssen. Theresa Zanders, Lisa Vollmer und Laura Calbet i Elias blicken in ihrem Beitrag Ko-Produktion als lokale Lösung für die gesundheitliche Versorgung für Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität? auf die Verbindungen zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen bei der Bereitstellung von Dienstleistungen für prekäre Migrant:innen. Die Zusammenarbeit, so zeigt das Beispiel der anonymen Krankenversorgung in Thüringen, findet im Rahmen kontrastierender Handlungslogiken statt, wirkt sich aber über die Zeit flexibilisierend auf die jeweiligen Handlungsmuster der beteiligten Akteur:innen aus. Sarah Schilliger und Ilker Ataç interessieren sich dafür, mit welchen Motiven solidarische Praktiken mit illegalisierten Personen begründet werden. In Urbane Infrastrukturen der Solidarität: Zivilgesellschaftliche Organisationen und illegalisierte Migrant:innen in Bern und Wien rekonstruieren sie, wie sich unterschiedliche Selbstverständnisse von zivilgesellschaftlichen Organisationen auf ihre Zusammenarbeit mit der öffentlichen Verwaltung auswirken. Kompetente Sozialberatung ist in allen betrachteten Einrichtungen von zentraler Bedeutung. Harald Ansen reflektiert in Rechtsdurchsetzung in der Sozialen Beratung – Unterstützung in prekären Lebenslagen, welche Prinzipien der Sozialen Beratung zugrundeliegen, aus denen sich Strategien ableiten lassen, die den Fachkräften zur Verfügung stehen, um Menschen in prekären Lebenslagen auch vor dem Hintergrund widriger und restriktiver politischer und rechtlicher Rahmenbedingungen zu unterstützen.

Im dritten Teil dieses Buches gewähren soziale Einrichtungen aus Frankfurt am Main, Wien und Cardiff, sowie die Stadtverwaltung in Zürich Einblick in ihre Praxis. Regina Klinke und Vesela Zaharieva erörtern in Soziale Teilhabe durch umfassende und mehrsprachige Beratung: Die „Multinationale Informations- und Anlaufstelle für EU-Bürger*innen in Frankfurt am Main, wie und unter welchen Bedingungen kompetente Beratung Zugänge zu Leistungen erschließen kann. Maria Goetzens und Carmen Speck beschreiben in Gesundheit ist ein Menschenrecht: Erfahrungsbericht aus der Elisabeth-Straßenambulanz, Caritasverband Frankfurt ihren Umgang mit den alltäglichen Herausforderungen in der niedrigschwelligen gesundheitlichen Versorgung. Von dieser Thematik berichten auch Paula Reid und Anja Christanell in Gesundheitsversorgung für Menschen in aufenthaltsrechtlicher Prekarität: Angebote von neunerhaus in Wien. In Arbeiten ohne Papiere … aber nicht ohne Rechte! Die Arbeit von UNDOK in Wien skizziert Vina Yun Möglichkeiten, Ausbeutung in undokumentierten Beschäftigungsverhältnissen zu bekämpfen und Arbeitsrechte durchzusetzen. Richard Eynon präsentiert im Beitrag Ein herzliches walisisches Willkommen für alle: Die Arbeit von Oasis Cardiff ein Integrationszentrum, das als Suppenküche begann, aufgrund innovativer Methoden jedoch vor allem ehemalige Ratsuchende zur Mitarbeit motiviert hat, sodass es mittlerweile ein breites Spektrum an Angeboten bereithält. Abschließend schildern Adamo Antoniadis und Christof Meier in Sans-Papiers sind ein Teil der Bevölkerung: Die Stadt Zürich und die Züri City Card, wie sich ein Bündnis aus zivilgesellschaftlichen Organisationen und städtischer Politik und Verwaltung für kommunale Maßnahmen engagiert, die eine bessere Inklusion von Menschen ohne geregelten Aufenthalt in Zürich bewirken sollen.

***

Sie möchten gern weiterlesen?

 

Jetzt versandkostenfrei im Budrich-Shop bestellen

Cover "Lokale Antworten auf aufenthaltsrechtliche Prekarität"Ilker Ataç, Simon Güntner, Adrienne Homberger und Maren Kirchhoff (Hrsg.):

Lokale Antworten auf aufenthaltsrechtliche Prekarität. Zugänge zu Gesundheitsversorgung, Unterbringung und Bildung

Gesellschaft und Nachhaltigkeit, Band 13

 

 

© Titelbild: gestaltet mit canva.com