Geblättert: Leseprobe aus „Die Gemeinwohl-Ökonomie im rechtlichen Kontext“

Cover "Die Gemeinwohl-Ökonomie im rechtlichen Kontext. Möglichkeiten und Grenzen"

Die Gemeinwohl-Ökonomie im rechtlichen Kontext
Möglichkeiten und Grenzen

von Stefanie Deinert, Lydia Scholz und Vera de Hesselle (Hrsg.)

 

Über das Buch

Die Gemeinwohl-Ökonomie verfolgt das Ziel eines ethischen und nachhaltigen Wirtschaftsmodells. Wirtschaften soll nicht allein der Gewinnmaximierung, sondern dem guten Leben für alle – dem Gemeinwohl – dienen. Doch lässt unsere Rechtsordnung ein gemeinwohlorientiertes Wirtschaften überhaupt zu? Der Band behandelt u.a. Fragen des Steuerrechts, des Wettbewerbsrechts, des Arbeitsrechts sowie Fragen zur gesetzlichen Berichtspflicht bestimmter großer Unternehmen zu nichtfinanziellen Aspekten ihrer Geschäftstätigkeit.

Leseprobe aus den Seiten 11 bis 15

 

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1 Einführung

Stefanie Deinert, Vera de Hesselle, Lydia Scholz

Die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) – vor zehn Jahren von dem Österreicher Christian Felber gemeinsam mit einigen Unternehmen entwickelt – stößt vor dem aktuellen Hintergrund der Verknappung lebensnotwendiger Ressourcen, weltwirtschaftlichen Krisen auf große Aufmerksamkeit und offenbart methodische Defizite ökonomischer Theorien.1 Die Entwicklungen und Dynamiken der seit 2020 andauernden weltweiten Corona-Pandemie zeigen deutlich bereits vorhandene gesellschaftliche Missstände,2 verstärken das Bedürfnis nach sozialer und wirtschaftlicher Veränderung – ja sogar einem „gesellschaftlichen Neustart“.

Die GWÖ versteht sich als ein alternatives Wirtschafts-, aber auch als ein neues Bilanzierungsmodell. Sie verfolgt die Idee einer ethischen Marktwirtschaft, deren Ziel nicht die Vermehrung von Geldkapital, sondern der Einsatz der Wirtschaft für das allgemeine Wohl aller ist. Wirtschaftliches Handeln habe nicht allein dem individuellen Profit, sondern dem Gemeinwohl zu dienen – so die Begründung. Die GWÖ orientiert sich dabei an universell anerkannten Werten: Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, Transparenz und demokratische Beteiligung. Zur Implementierung und Umsetzung der Gemeinwohlwerte in die alltägliche Praxis von Unternehmen und Organisationen hat die GWÖ-Bewegung eine Gemeinwohl- Matrix entwickelt, anhand derer das aktuelle Handeln überprüft und im Rahmen einer sog. Gemeinwohl-Bilanz mittels eines Punktesystems bewertet wird sowie Entwicklungspotentiale identifiziert werden können. Das Wort „Bilanz“ erinnert an die Handelsbilanz, diese ist aber nicht damit gemeint, es geht eher um einen Bericht anhand von Bewertungskriterien. Als Ausgleich und Anreiz für überdurchschnittliche Leistungen zum Gemeinwohl – so die Idee – sollen Organisationen und Unternehmen rechtliche Vorteile erhalten – etwa bei der Festsetzung von Steuern, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge oder im internationalen Handel.3

Die GWÖ ist längst über das Stadium einer fixen Idee von Sozialromantikern4 hinausgewachsen. Dies zeigt ihre Präsenz in Praxis, Politik und Wissenschaft: Mehr als 2.000 Unternehmen (reine Wirtschafts-, sowie Nonprofit-Unternehmen) unterstützen das Modell, rund 500 von ihnen sind Mitglied in der GWÖ oder haben selbst eine Gemeinwohl-Bilanz erstellt, darunter z.B. die Sparda Bank München e.G., Schachinger Logistik GmbH, Sonnentor Kräuterhandelsgesellschaft mbH, VAUDE Sport GmbH & Co. KG, Lebenshilfe Tirol gemeinnützige GmbH.5

Auch öffentlich-rechtliche Organisationen folgen den Ideen der GWÖ: Die Gemeinden Nenzing und Mäder aus Vorarlberg in Österreich und Kirchanschöring in Südbayern haben als erste eine GWÖ-Bilanz erstellt. Die deutschen Gemeinden Klixbüll, Breklum und Bordelum (Schleswig-Holstein) haben den Bilanzierungsprozess ebenfalls erfolgreich durchlaufen.6

Zudem haben erste Bildungseinrichtungen eine Gemeinwohl-Bilanz erstellt; z.B. die Fachhochschule Burgenland (Österreich) sowie das International Graduate Center der Hochschule Bremen (Deutschland).7

Auch in Teilen der Politik ist die GWÖ als zukunftsfähiges Konzept für eine nachhaltigere und ethische Wirtschaftsordnung angekommen: Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA)8 empfahl bereits 2016 in seiner Stellungnahme das Modell der GWÖ sowohl in den europäischen als auch in die nationalen Rechtsrahmen zu integrieren. Dabei hob der EWSA den Leitgedanken der GWÖ hervor, wonach die Wirtschaft dem Menschen zu dienen habe, und betonte die Verankerung des Gedankens in Art. 3 Abs. 1, 2 und 3 des EU-Vertrags.9 Die GWÖ besitze das Potential als Motor für ein ethisches und nachhaltiges Wirtschaftssystem. Es sei ein ganzheitlicher Ansatz Modell und ein Instrument, das den wirtschaftlichen und sozialen Wandel voranbringe, sowie ein praxistaugliches Modell, welcher die europäischen Werte stärke, den sozialen Zusammenhalt festige und ein verantwortliches Wirtschaftssystem fördere. Die Ziele und Werte der GWÖ gingen dabei über die herkömmlichen Vorschläge zur Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung hinaus, so der EWSA.10 Auf nationaler Ebene werden der praktische Wert und das Potential der GWÖ ebenfalls wahrgenommen. Dies zeigt sich etwa in dem im Juni 2019 durch Abgeordnete des Bundestages und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Deutschen Bundestag eingebrachten Antrag für ein Pilotprojekt GWÖ-Bilanz in Bundesunternehmen, der die teilweise Nutzung der GWÖ-Bilanz in mindestens zwei Unternehmen mit Bundesbeteiligung, die Weitergabe der hieraus gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen sowie die Erarbeitung einer entsprechenden Handreichung für privatrechtliche Unternehmen beinhaltet.11 Noch weitergehend als die Stellungnahme der EWSA spricht der Antrag damit eine eindeutige Empfehlung der GWÖ-Bilanz als praxistaugliches Instrument zur Nachhaltigkeitsberichterstattung aus und verweist12 auf eine entsprechende Vereinbarung im Koalitionsvertrag von Baden-Württemberg aus dem Jahr 2016,13 wonach in einem Pilotprojekt zur GWÖ-Bilanz bei einem Unternehmen mit Landesbeteiligung dessen Wertschöpfung umfassend und transparent dargestellt und die Erkenntnisse durch das Land interessierten privatwirtschaftlichen Betrieben zur Neuausrichtung ihrer Firmenpolitik zur Verfügung gestellt werden sollen.14

Schließlich hat die GWÖ nach anfänglichem Zögern auch die Wissenschaft erreicht. Inzwischen existieren zahlreiche Forschungsprojekte zur GWÖ (vgl. z.B. GIVUN, Verbundprojekt der Universitäten Flensburg und Kiel 2015- 201815, eine aktuell an der Berliner Humboldt-Universität durchgeführte Studie zur Analyse der Durchsetzung einer gemeinwohl-orientierten Wirtschaft in der Praxis“16, sowie eine Studie am Institute for Advanced Sustainability Studies e.V. (IASS) in Potsdam. Im Jahr 2019 fand die erste wissenschaftliche Konferenz zur GWÖ in Bremen statt: “Economy for the Common Good-ECGPW-2019”, gefolgt von der zweiten wissenschaftlichen Konferenz in Valencia „Connecting Sustainability Organizational Models with SDGs“ im Frühjahr 2022. Eine komplette Ausgabe der Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik (zfwu) aus dem Jahre 2019 trägt den Titel „Ökonomie und Gemeinwohl“ und widmet sich mit einer multiperspektivischen Betrachtung der Gemeinwohl-Ökonomie.17

Der Bericht des Club of Rome aus 2018 „Wir sind dran. Club of Rome: Der große Bericht: Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt“ (2018)18 bezeichnet die Gemeinwohl-Ökonomie als eines der hervorzuhebenden Beispiele, die die Herausforderung der Nachhaltigkeit annimmt, die sich aufgrund des ökologischen Wandels ergibt; nämlich den ökonomischen Rahmen ernsthaft zu überdenken. Er erkennt damit die GWÖ als Konzept und Bewegung an, die einen wesentlichen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft darstellt. Der Club of Rome lädt alle Menschen, Unternehmen und die Politik dazu ein, die GWÖ als Orientierungsrahmen für neue Handlungsspielräume zu sehen.

Um diese Handlungsspielräume und um deren Grenzen aus rechtlicher Perspektive geht es in diesem Band.

Denn die Umsetzung eines gemeinwohlorientierten Handelns im Sinne der GWÖ wirft für Unternehmen und Organisationen zahlreiche rechtliche Fragen auf. Dies betrifft einerseits die Frage der Rechtssicherheit, etwa im Zusammenhang mit gesellschaftsrechtlichen, handelsrechtlichen, umweltrechtlichen, steuerrechtlichen oder wettbewerbsrechtlichen Fragen. Als Beispiele seien genannt: Verstößt der „Runde Tisch Getreide“, bei dem Bauern in gemeinsamer Absprache die Getreidepreise für die kommende Ernte festlegen, gegen wettbewerbsrechtliche Regelungen? Entspricht eine Gemeinwohl-Bilanz den Vorgaben für eine Berichterstattung über nichtfinanzielle Aspekte der Geschäftstätigkeit und Diversitätsaspekte gemäß dem Handelsgesetzbuch? Mit welcher Unternehmensform lässt sich ein gemeinwohlorientiertes Handeln am Markt umsetzen? Anderseits stellt sich die Frage, wie Anreize für gemeinwohlorientiertes Handeln von Unternehmen und sonstigen Organisationen im bestehenden Rechtsrahmen geschaffen werden können (z.B. durch steuerrechtliche, umweltrechtliche und vergaberechtliche Instrumente).

In diesem Band können weder alle rechtlichen Fragen zur GWÖ aufgegriffen werden, noch können die aufgegriffenen Fragen alle final geklärt werden.

Um die juristische Diskussion voranzutreiben, werden zunächst einige wichtige rechtliche Aspekte beleuchtet, die uns bei der Auseinandersetzung mit der GWÖ, insbesondere durch Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit Unternehmen und sonstigen Organisationen als (potentiellen) Anwendern der Gemeinwohl-Bilanz, aber auch durch wissenschaftliche Diskussionen begegnet sind.

Die Beiträge in diesem Band sind als Auftakt und Anregung für einen weitergehenden juristischen Diskurs mit Blick auf die praktische Umsetzung der GWÖ als alternatives Wirtschaftsmodell und als Bilanzierungsrahmen zu verstehen.

Der vorliegende Band richtet sich an Unternehmen und sonstige Organisationen, die ein gemeinwohlorientiertes Handeln im Sinne der GWÖ bereits umsetzen19 oder die ein solches ins Auge fassen. Dabei wird der Fokus auf Nutzen und Hürden eines gemeinwohlorientierten Handelns gelegt, die für ein Unternehmen neben der intrinsischen Motivation eine große Bedeutung haben.

Das Buch richtet sich gleichzeitig aber auch an Forschende, Lehrende und Studierende aller Disziplinen, die sich mit alternativen Wirtschaftsmodellen befassen.

Wir sprechen darüber hinaus aber auch alle Menschen an, die sich für alternative Wirtschaftsmodelle und/oder für innovative Problemlösungen auf gesellschaftlicher Ebene interessieren. Ein rechtliches Vorwissen setzen wir dabei nicht voraus.

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1 Brink,/Heidbrink/Welzer, in: „Ökonomie und Gemeinwohl“ zfwu 3/2019, Editorial, S. 293.

2 Vgl. z.B. Gundula Ludwig und Martin Voss im Gespräch mit Simone Miller, Deutschlandfunk Kultur, Reihe SEIN UND STREIT, Beitrag v. 5.7.2020, Diakonie-Präsident Ulrich Lilie, Diakonie-Präsident sieht in Corona-Krise ein “Brennglas” auf Probleme, Beitrag v. 5.11.2020.

3 Vgl. für weitergehende Informationen: https://web.ecogood.org/de/idee-vision/theoretischebasis/ (letzter Zugriff: 28.12.2020).

4 Schmähwort, das von eher konservativen Menschen gebraucht wird, um Personen anzugreifen, die sich für eine sozialere Gesellschaft einsetzen; gefunden auf: https://www.enzyklo. de/Begriff/Sozialromantiker (letzter Zugriff: 28.12.2020).

5 Die jeweils aktuellen Zahlen und Unternehmen sowie deren Status in Bezug auf eine Gemeinwohl- Bilanz sind auf der Website der GWÖ zu finden: https://web.ecogood.org/de/diebewegung/ pionier-unternehmen/ (letzter Zugriff: 28.12.2020).

6 Vgl. hierzu auch https://web.ecogood.org/de/unsere-arbeit/gemeinwohl-bilanz/gemeinden/ (letzter Zugriff: 14.05.2022).

7 https://datacloud.ecogood.org/index.php/s/GJBXNJ9GQGmrTBc (letzter Zugriff: 28.12.2020).

8 Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) zum Thema „Die Gemeinwohl-Ökonomie: Ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell für den sozialen Zusammenhalt“ (Initiativstellungnahme) (2016/C 013/06), S. 26ff.

9 Vgl. AEUV, ABl. der EU v. 30.3.2010, 2010/C 83/01. Die Gemeinwohlverpflichtung ist auch in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland positiv-rechtlich verankert. Vgl. z.B. Art. 14 Abs. 2 GG: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ sowie in einigen Landesverfassungen, vgl. die Bayerische Landesverfassung, Art. 151: „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl“.

10 Vgl. Stellungnahme EWSA aaO.

11 Vgl. BT-Drucks. 19/11148 v. 26.6.2019, S. 1f.

12 aaO, S. 2.

13 Koalitionsvertrag zwischen Bündnis 90/die Grünen Baden-Württemberg und der CDU Baden- Württemberg 2016-2021, S. 14.

14 Vgl. aaO. Mit der Umsetzung des Projekts wurde begonnen. Erstellt wurde eine GWÖ-Bilanz für die Staatswaldbewirtschaftung, d.h. für den landeseigenen Forstbetrieb. Die Zertifizierung (Ergebnis 577 von 1000 möglichen Punkten) erfolgte Ende September 2020; vgl. Pressemitteilung v. 30.9.2020: https://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/ pid/forstbw-erhaelt-zertifikat-gemeinwohl-oekonomie-1/ (letzter Zugriff: 28.12.2020).

15 Vgl. Heidbrink/Kny/Köhne/Sommer/Stumpf/Welzer/Wiefek, GIVUN, Schlussbericht.

16 Vgl. Studie: „Nachhaltige Entwicklung von unten? Die Gemeinwohl-Ökonomie zwischen utopischen Visionen, zivilgesellschaftlichen Initiativen und basisdemokratischen Entscheidungen“ (Projektleitung Kühn; 2019 bis 2022); vgl. https://www.euroethno.hu-berlin. de/de/forschung/projekte/nachhaltige-entwicklung-von-unten (letzter Zugriff: 28.12.2020).

17 Vgl. zfwu Ausgabe 3/2019: „Ökonomie und Gemeinwohl“; S. 291ff. (213 Seiten).

18 Weizsäcker, v./Wijkman, u.a. Wir sind dran Wir sind dran. Club of Rome: Der große Bericht: Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt. 2018, S. 298; im Einzelnen vgl. S. 301ff.

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Die Gemeinwohl-Ökonomie im rechtlichen Kontext. Möglichkeiten und Grenzen

 

 

 

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