„Alltägliche Bewältigungspraxen obdachloser Menschen“: Leseprobe

Nora Sellner: Alltägliche Bewältigungspraxen obdachloser Menschen.
Eine rekonstruktive Analyse im Spannungsfeld gesellschaftlicher Begrenzungen und Erwartungen

 

Über das Buch

Obdachlosigkeit tritt nicht nur gesellschaftlich, sondern auch in der Forschung als Randthema in Erscheinung. Dieses Buch rückt die Bewältigungspraxis obdachloser Frauen und Männer in den Fokus, indem ein exploratives und rekonstruktives Vorgehen realisiert wird, welches die Eigenlogik ihrer Alltagspraxis thematisiert. Ziel des Buches ist eine mehrperspektivische Betrachtung und Diskussion zur Bedeutung der Erkenntnisse über die Bewältigungspraxen obdachloser Frauen und Männer.

 

Leseprobe, S. 17-24

„Und weil die Enteigneten immer weniger wahrgenommen werden, weil man sie sich in immer stärkerem Maße ausgelöscht, aus der Gesellschaft ent­fernt vorstellt, bezeichnet man sie als Ausgeschlossene. Das Gegenteil ist aber der Fall: Ihr Schicksal ist mit dieser Gesellschaft verzahnt, sie sind in ihr eingekerkert, vollständig eingeschlossen!“ (Forrester 1997, S. 18)

1. Einleitung

1.1 Forschungsbedarf und Forschungsleitfrage der Studie

Die Gesellschaft, Sozialpolitik und im Besonderen die Soziale Arbeit mit Woh­nungslosen sowie das gesamte System der Wohnungsnotfallhilfe in Deutschland stehen vor der Herausforderung, einer immer größer und differenzierter werdenden Gruppe wohnungsloser[1] Menschen qualifiziert zu begegnen. Eine Teilgruppe dieser stellen obdachlose[2]

Menschen dar, welche in dieser Studie im Fokus stehen. Wenn im Folgenden stellenweise aufgrund der Literatur vergangener begrifflicher Verwendungen oder allgemeiner Situationsbeschreibungen von Wohnungslosen gesprochen wird, bezieht dies obdachlose Menschen stets mit ein. Im Handlungsfeld der Wohnungs- und Obdachlosenhilfe begegnet einem eine heterogene Gruppe von Menschen, die sich in existenzieller Notlage befinden und dabei komplexe und multiple Problemlagen aufweisen können. Die aktuelleren Studien (beispielhaft angeführt) in Deutschland zum Themenfeld Wohnungs- und Obdachlosigkeit im Kontext Sozialer Arbeit beschäftigen sich vor allem mit[3]

  • den Lebenslagen wohnungsloser Menschen (Gerull 2018a),
  • den Ursachen und dem strukturellen Verlauf von Wohnungslosigkeit (Busch-Geertsema et2019),
  • den Wegen in die Wohnungslosigkeit (Paulgerg-Mu­schiol 2009) und den Wegen aus der Wohnungslosigkeit (Gerull 2016),
  • den Lebenslagen und -wegen, biographischen Verläufen und Handlungs- und/oder Deutungsmustern, Orientierungen,
  • der Alltagsbewältigung und Raumerfahrung wohnungsloser Menschen; in der Unterscheidung nach ihrem Geschlecht: Frauen (Helfferich et al. 2000a), (Enders-Dragässer et al. 2005), (Wesselmann 2009) (Steckelberg 2010); Männer (Fichtner 2005),
  • der (physischen und psychischen) Gesundheit und Krankheit wohnungsloser Menschen (Bäuml et al. 2017),
  • der spezifischen Evaluation einzelner Projekte und Hilfestrukturen, -konzepte und -methoden in der Wohnungsnotfallhilfe (Gerull und Merckens 2012); in Bezug auf einzelne Kommunen, Bundesländer (Busch-Geertsema et al. 2014) oder Zuständigkeitsbereiche (Busch-Geertsema et al. 2016) oder darüber hinaus für ganz Deutschland (Busch-Geertsema et al. 2019) oder im internationale Vergleich,
  • Housing First als ergänzendem (innovativem und neuem)[4] Ansatz (aktuelle Evaluationsforschung zu Projekten in Berlin und Düsseldorf; begleitet von Gerullund/oder Busch-Geertsema).

Bei den beispielhaft angeführten Studien handelt es sich meist um Auftragsforschung seitens der Kommunen oder Ministerien, die das Ziel verfolgen, auf Grundlage der in Auftrag gegebenen Forschungserkenntnisse die Hilfen für Menschen in Wohnungsnotfällen zu verbessern. Es sind immer wieder die gleichen Autor*innen, die hinter den Studien stehen. Dies kann im Sinne einer besonderen Exper­tise als positiv bewertet werden oder eben als negativ im Sinne eines fehlenden wissenschaftlichen Diskurses, da nicht nur die Gruppe der Wohnungslosen als gesellschaftlich ausgegrenzt gilt, sondern auch die Forschung zum Themenfeld in der Wissenschaft ein Randthema darstellt.[5]

Im Laufe der letzten Jahre ist das Thema jedoch (wieder) prominenter geworden, da das Wohnen allgemein, fehlender bezahlbarer Wohnraum und Wohnungslosigkeit nicht mehr als reines Thema der Armen propagiert wird, sondern nun in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist und breitere Bevölkerungsteile betrifft. Dadurch rückt das Thema näher in die Wahrnehmung der Bevölkerung, aber auch die Politik sieht sich dadurch mehr gefordert, das Thema anzugehen. In der Forschungslandschaft im Kontext von Wohnungsnotfällen und der Wohnungsnotfallhilfe sowie in der Praxis der Sozialen Arbeit mit Wohnungslosen bedarf es eines offeneren, vielfältigeren sowie gemeinsamen Diskurses zu den spezifischen und komplexen Themen und Perspektiven. Ein Diskurs und eine Synergie von Theorie und Praxis finden in Deutschland vor allem über die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. (BAG W e. V.), den Evangeli­schen Bundesfachverband Existenzsicherung und Teilhabe e. V. (EBET und früher Evangelische Obdachlosenhilfe e. V.) und die Katholische Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (KAG W) statt. Darüber hinaus werden von einzelnen Autor*innen oder der BAG W e. V. (Fachzeitschrift wohnungslos) Studien, Aufsätze oder Buchpublikationen aus Theorie, Praxis und Forschung veröffentlicht, die sich mit spezifischen Aspekten zur Wohnungslosigkeit auseinandersetzen. Ebenso die hier vorgelegte Studie widmet sich einem spezifischen Thema im Kontext von Wohnungsnotfällen: den Orientierungen zu den Bewältigungspraxen obdachloser Menschen. Der Fokus auf die Bewältigungspraxen wurde nicht deduktiv an die Studie angelegt, sondern anhand des erhobenen empirischen Materials theoretisch herausgearbeitet. Die Forschungsfrage entwickelte sich somit prozesshaft, von der offenen Frage ausgehend, welche soziale Praxis, d. h. Orientierungen und Handlungspraxen, sich in biographisch angelegten narrativen Erzählungen obdachloser Frauen und Männer rekonstruieren und typisieren lassen, hin zu der Frage, welche Orientierungen der Bewältigungspraxen obdachloser Frauen und Männer sich rekonstruieren und typisieren lassen. Diese Konkretisierung in der Forschungsperspektive wird im 4. Kapitel beschrieben. Die Ausgangsfrage der Studie ist dennoch wichtig zu berücksichtigen. Ziel war es von Beginn an, eine grundlagentheoretische Studie vorzunehmen, die sich im Kontext der Adressat*innenforschung der Sozialen Arbeit obdachlosen Menschen widmet. Bei aller Offenheit, mit der an die Studie herangegangen wurde, lag die theoretische Annahme vor, dass trotz der Heterogenität der Gruppe Obdachloser auf etwas Gemeinsames geschlossen werden kann, was sich letztlich in einer Typologie abbilden lassen sollte. Viele der bisher vorliegenden Typologien zum Themenfeld Wohnungs- und Obdachlose gelten aufgrund der Pluralisierung und Heterogenisierung der Gruppe wohnungsloser und der Teilgruppe obdachloser Menschen sowie aufgrund der zum Teil normativ gerahmten Studien als überholt. Einige ausgewählte Studien werden in Kapitel 2.1 innerhalb der forschungshistorischen und definitorischen Bestandsaufnahme zu den Erscheinungsformen wohnungs- und obdachloser Menschen beschrieben.

Aktuelle qualitative Erkenntnisse zu den Bewältigungspraxen und den darauf bezugnehmenden Orientierungen obdachloser Menschen liegen in dieser Form, wie sie hier untersucht werden, nicht vor. Dennoch ist an dieser Stelle Carla Wesselmann zu nennen, die in ihrer im Vergleich aktuelleren Studie zu Biographischen Verläufen und Handlungsmustern wohnungsloser Frauen eine Typologie[6] zu den biographischen Handlungsstrukturen von Frauen im Umgang mit Wohnungslosigkeit herausgearbeitet hat (vgl. Wesselmann 2009, S. 258ff.). Ihre Studie, welche der Wissenschaft Soziale Arbeit zugeordnet wird, bezieht sich zum einen konkret auf das weibliche Geschlecht, weshalb hier der Bedarf gesehen wird, auch Handlungsstrukturen männlicher Wohnungsloser zu rekonstruieren, und zum anderen wählte sie einen anderen methodologischen Zugang, angelehnt am Common Sen­se und der soziologischen Phänomenologie (vgl. Wesselmann 2009, S. 63ff.). Bislang wurde nur in wenigen qualitativen Forschungsarbeiten zur Lebenswelt und zu Lebenserfahrungen wohnungs- und obdachloser Menschen die Dokumentarische Methode als Auswertungsmethode angewendet. Eine fundierte dokumentarische Studie, die in der Geschlechterforschung und der Wissenschaft Soziale Arbeit verortet wird, wurde von Claudia Steckelberg (2010) realisiert, welche die Lebenswel ten wohnungsloser Mädchen und junger Frauen untersuchte. Claudia Steckelberg nimmt eine alters- und geschlechtsspezifische Perspektive ein, indem sie in ihrer Studie ihren Blick auf wohnungslose Mädchen und junge Frauen richtet. Sie geht einer allgemein gefassten Frage nach: „Welche Erfahrungen und Orientierungen der wohnungslosen Mädchen und jungen Frauen sind konstitutiv für ihre Lebenswelt?“ (Steckelberg 2010, S. 11). Dabei präsentiert sie anhand eines lebensweltlichen Zugangs auch die Lebensbewältigung des alltäglichen Lebens der Mädchen und jungen Frauen. Sie bezieht sich auf Schütz und Luckmann (2003/1975) und formuliert: Die

„Lebenswelt ist bestimmt von der Notwendigkeit, fortlaufend vielfältige Aufgaben und Anforderungen zu erledigen und zu bewältigen. Dies umfasst sowohl solche Aufgaben, die routiniert erledigt werden und deren Bewältigung für eine Person als sicher und unproblematisch gilt, bis hin zu solchen Situationen, die ein existentielles Problem darstellen, dessen Lösung fraglich und unsicher ist. Routinen entlasten, indem sie selbstverständliches, problemlösendes Alltagshandeln ohne weitere Reflexion ermöglichen, und Typisierungen bewahren vor der Unsicherheit und der Anstrengung, jede Situation neu und unbekannt bewältigen zu müssen“ (Steckelberg 2010, S. 34).

Sie stellt auf Grundlage der Basistypik[7], die „Bewältigung“ (Steckelberg 2010, S. 189) „der Erfahrung des Verlusts von Normalität und des Ausschlusses aus als normal anerkannten Lebensverhältnissen“ (Steckelberg 2010, S. 192), zwei fallübergreifende Orientierungen dar: 1. Zugang zu anerkannten Räumen und 2. Normalisierung nicht anerkannter Räume (vgl. Steckelberg 2010, S. 189ff.). Auch in Steckelbergs Rekonstruktion nimmt das Thema der Bewältigung des Alltags eine besondere Prominenz ein. Außerdem wurde eine Masterarbeit von Schulte-Scherlebeck et al. (2015) veröffentlicht, die im Studiengang Kulturwissenschaften in Berlin angefertigt wurde und sich mit dem Thema „Lebenswege und Wohnungslosigkeit – Eine Analyse biographischer Interviews“ befasste. In dieser wurden fünf biographische Interviews dokumentarisch interpretiert. Richtigerweise wird ein Mangel und dadurch der gleichzeitige Bedarf an qualitativer Forschung im Kontext des Themenfeldes Wohnungslosigkeit hervorgehoben. Diese Arbeit scheint ein Auftakt für die qualitative Forschung in dem Feld zu sein, jedoch fehlt ihr im Rahmen der Typenbildung ein differenzierter und bewertungsfreier Blick auf die Lebenssituation wohnungsloser Menschen, die sich nicht allein in die Typologie eines passiven und aktiven Typus vereinfacht und zuschreibend einteilen lassen. Auch wirft das Sample einige Fragen auf: Fünf Männer wurden interviewt, von denen drei nicht mehr von Wohnungslosigkeit betroffen waren. Unter Berücksichtigung der Typen und des Samplings wird deutlich, dass die Männer, die dem passiven Typus zugeordnet wurden, von Wohnungslosigkeit betroffen sind und diejenigen, die dem aktiven Typus zugeordnet wurden, bereits in eigenem Normalwohnraum leben (vgl. Streck 2016, o. S.). Dass es bei diesen zwei Gruppen, interviewte Personen mit Erfahrungen von Wohnungslosigkeit, diesen Unterschied gibt, beschreibt Albrecht bereits 1973: „Generell lässt sich belegen, dass sich in bezug auf Apathie und Resignation bzw. Pessimismus Obdachlose und ehemalige Obdachlose ganz erheblich unterscheiden“ (Albrecht 1973, S. 270).

Neben diesen wenigen dokumentarischen Studien wurde eher angelehnt am Common Sense und der soziologischen Phänomenologie geforscht, indem der Fra­ge nachgegangen wurde, was die Realität von Obdachlosen ausmacht (vgl. Nohl 2017, S. 36). Diese Studie soll einen anderen Zugang zum Phänomen Obdachlosigkeit ermöglichen und daher forschungspraktisch auf Grundlage der Doku­mentarischen Methode vorgehen. Das heißt: „Gefragt wird nicht danach, was die gesellschaftliche Realität ist, sondern danach, wie die Realität hergestellt wird“ (Nohl 2017, S. 36; H. i. O.). Im Fokus stehen daher die soziale Praxis bzw. konkret die Bewältigungspraxis und die dahinterliegenden Handlungsorientierungen obdachloser Menschen. Darüber hinaus fehlt den in Kapitel 2.1 angeführten und eher veralteten Studien meist eine methodisch und theoretisch tragfähige Basis, sodass auch bereits bei den älteren Formen von Obdachlosigkeit nicht von einem für die heutige Soziale Arbeit gesicherten Feld- oder gar Handlungswissen über die subjektiven Lebenswelten und die Lebenslagen obdachloser Menschen ausgegangen werden kann. In der sozialarbeiterischen Praxis haben sich diese Typologien daher nicht bewährt oder finden erst gar keine Anwendung.[8]

Es ist hervorzuheben, dass in der vorliegenden Studie die Orientierungen zu den Bewältigungspraxen obdachloser Menschen rekonstruiert werden. Obdachlose Menschen leben ohne Unterkunft (offen oder versteckt) in Zelten, in Verschlägen oder Hauseingängen die meiste Zeit auf der Straße und/oder halten sich zeitweise in niedrigschwelligen Notunterkünften und Kontaktstellen oder bei Freund*innen, Bekannten oder der Familie auf. Häufig werden in qualitativen Studien allgemein Wohnungslose berücksichtigt, d. h., im Sampling finden sich Wohnungslose in stationären und ambulanten Wohneinrichtungen, (Straßen-)Obdachlose, Wohnungslose, die kommunal untergebracht sind, etc. Damit findet sich eine zusätzlich erhöhte Heterogenität, die je nach Fragestellung nicht förderlich ist. Meiner Einschätzung nach, würde damit zu allgemein und undifferenziert die Gruppe Menschen untersucht. Obdachlose stellen aufgrund der strukturähnlichen Lebenssituation eher eine gemeinsame Gruppe dar, weshalb davon ausgegangen wird, dass Obdachlose damit auch eine gemeinsame soziale Praxis haben und sich konkrete Orientierungen zu den Bewältigungspraxen in dieser Studie aufzeigen lassen.

Somit liegt der Fokus auf der empirischen Rekonstruktion und Präsentation der Orientierungsrahmen zu den Bewältigungspraxen im Kontext gesellschaftlicher Strukturen und Erwartungen, die sich innerhalb der erhobenen narrativen Erzählungen aufzeigen lassen. Dabei sollen Erkenntnisse über die „lebensweltliche[n] Erfahrungen“ (vgl. Bohnsack et al. 2018b, S. 27) Obdachloser und deren Orientierungen zu den Bewältigungspraxen anhand von biographisch-narrativen Erzählungen erlangt werden.[9]

Darauf aufbauend wird danach gefragt, welche Bedeutung die Erkenntnisse über die Orientierungen zu den Bewältigungspraxen ob­dachloser Menschen für die Handlungswissenschaft Soziale Arbeit und die Praxis der Sozialen Arbeit mit Obdachlosen haben und welche neuen Fragen dadurch ggf. aufgeworfen werden. Die Forschungsleitfragen lauten daher:

  1. Welche Orientierungsrahmen zu den Bewältigungspraxen obdachloser Frauen und Männer lassen sich im Spannungsfeld gesellschaftlicher Strukturen und Erwartun­gen auf Basis lebensweltlicher Erfahrungen aus den biographischen Narrationen interpretativ rekonstruieren?
  2. Welche Bedeutung haben die Erkenntnisse für den wissenschaftlichen Diskurs der Sozialen Arbeit (mit Obdachlosen), und welche konzeptionellen Implikationen leiten sich hieraus ggf. für die Praxis der Sozialen Arbeit mit Obdachlosen ab?

Allgemein stellt Wohnungslosigkeit – und als Form dessen auch Obdachlosigkeit – eine soziale Problemlage dar, die multiple Ursachen aufweisen kann. Der fehlende Wohnraum ist i. d. R. nicht die einzige soziale Problematik, in der sich wohnungslose Menschen befinden. Wohnungslosigkeit tritt häufig zusammen mit verschiedenen weiteren Schwierigkeiten (sozialen, gesundheitlichen und psychischen) auf, die entweder bereits vor der Wohnungslosigkeit entstanden sind oder mit Beginn der Wohnungslosigkeit ausgelöst werden (vgl. Wege 2012, S. 410ff.). Aufgrund der vielschichtigen, unterschiedlichen und individuellen Schwierigkeiten, Ursachen, Auslöser und Folgen von Wohnungslosigkeit besteht im Handlungsfeld der Wohnungsnotfallhilfe bereits immer eine Heterogenität der Adressat*innen. In den letzten Jahren erfolgte jedoch eine weitere Heterogenisierung und Pluralisierung der Gruppe wohnungsloser und obdachloser Menschen, wodurch aktuelle Forschung notwendig ist, um Erkenntnisse zum Adressat*innenkreis zu gewinnen und diesem qualifiziert begegnen zu können.

Seit einigen Jahren gibt es laut Schätzungen der BAG W e. V. in Deutschland eine Zunahme wohnungsloser Menschen. Dies gründet vor allem auf der Woh­nungspolitik der letzten Jahrzehnte sowie der erfolglosen Armutsbekämpfung in Deutschland. Bezahlbarer Wohnraum für untere Einkommensgruppen ist Mangelware. Die Zukunftsperspektive für Deutschland ist, dass der Mangel an bezahlbaren Wohnungen sich weiter zuspitzt, da das Angebot von sozialem Wohnungsbau weiter sinken wird und die Wohnungsbestände aus öffentlicher Hand weiterhin zunehmend in die Hände privater Investoren übergehen. Zusätzlich halten Flucht und (EU-)Migration Einzug in die Gruppe wohnungsloser Menschen und verschärfen damit die bereits bestehende Problematik (vgl. BAG W e. V. 2017, S. 1ff.). Es gibt in Deutschland bislang keine Erkenntnisse einer bundeseinheitlichen Woh­nungsnotfallstatistik, welche valide Aussagen über die Wohnungslosenzahlen in Deutschland treffen kann.[10]

Es können daher lediglich die Schätzungen der BAG W e. V. herangezogen werden. Diese hat im Jahr 2019 ihre Schätzungen der letzten Jahre korrigieren müssen, da sie ein neues verbessertes Schätzmodell eingeführt hat, wodurch die im Jahr 2017 extrem hohen Angaben und Prognosen für das Jahr 2018 (1,2 Mio. Wohnungslose) zur Zahl der Wohnungslosen in Deutschland korrigiert wurden. Das neue Schätzmodell orientiert sich an der Wohnungsnotfallberichterstattung Nordrhein-Westfalens (NRW). Dabei werden die dort erhobenen Daten für die gesamte Bundesrepublik hochgerechnet. Für das Jahr 2017 schätzte die BAG W e. V. somit ca. 650.000 wohnungslose Menschen in Deutschland und für das Jahr 2018 ca. 678.000 wohnungslose Menschen (vgl. BAG W e. V. 2017, 2019a, 2019b).[11]

Da in der vorliegenden Studie obdachlose Menschen im Fokus stehen, ist darüber hinaus die Schätzung interessant, dass im Laufe des Jahres 2018, ca. 41.000 Menschen von Straßenobdachlosigkeit betroffen waren. Geflüchtete wurden hierbei nicht miteinbezogen. Zudem stellen zugewanderte Menschen aus dem europäischen Ausland einen hohen Anteil obdachloser Menschen dar (vgl. BAG W e. V. 2019b, S. 2). Alarmierend sind die steigenden Zahlen der Wohnungsnotfallberichterstattung in NRW, durch die seit 2009 eine jährliche Stichtagserhebung vorgenommen wird und dabei valide Zahlen hervorgebracht werden. Für das Jahr 2018 gibt diese an, dass 30.736 Personen kommunal und nach dem Ordnungsbehördengesetz (OBG) untergebracht waren und somit die wohl größte Teilgruppe der obdachlosen Menschen in NRW ausmachen. Hier werden die anerkannten Geflüchteten miteinbezogen, worauf auch teilweise der drastische Anstieg zurückgeführt wird (2015: 10.282) (vgl. MAGS NRW 2019, S. 4). Unberücksichtigt bleiben dabei diejenigen, die sich nicht bei der Kommune obdachlos melden und gänzlich auf der Straße leben oder kurzzeitig bei Feund*innen, der Familie oder Bekannten unterkommen. Daher ist von einer höheren Zahl auszugehen.

Aufgrund dieser Entwicklungen ist nicht nur eine zunehmende strukturelle und zahlenmäßige Pluralisierung und Heterogenisierung der Zielgruppe wohnungs- und obdachloser Menschen zu erkennen, sondern zugleich auch von einer starken Pluralisierung und Heterogenisierung der lebensweltlichen Erfahrungen und Orientierungen auszugehen. Malyssak und Störch heben 2009 diese Heterogenität der Gruppe Wohnungsloser und den Bedarf der stetigen differenzierten Betrachtung dieser Gruppe hervor (vgl. Malyssek und Störch 2009, S. 40): „Es wird immer wieder erforderlich sein, sich zu verständigen, was wirklich hinter diesem Begriff steht“ (Malyssek und Störch 2009, S. 40). Diese Feststellung verstehe ich als eine stetige Aufforderung, sich wissenschaftlich mit der Gruppe wohnungs- und obdachloser Menschen auseinanderzusetzen, um zu begreifen, in welcher Art und Weise sich diese jeweils zeigt und in der Gesellschaft eingebettet ist. Außerdem fehlte es in der Vergangenheit häufig an der aktiven Verzahnung von Forschung und Praxis der Sozialen Arbeit, weshalb weitere wissenschaftliche Beiträge aus der Handlungswissenschaft Soziale Arbeit umso wichtiger erscheinen. Im folgenden Kapitel wird der inhaltliche Aufbau der Studie vorgestellt.

 

[1] „Wohnungslos ist, wer nicht über einen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügt“ (BAG W e. V. 2010).

[2] „Auf der Straße lebend, an öffentlichen Plätzen wohnend, ohne eine Unterkunft, die als solche bezeichnet werden kann […] Menschen ohne festen Wohnsitz, die in Notschlafstellen und nie­derschwelligen Einrichtungen übernachten“ (FEANTSA 2017b).

[3] Die Studien sind beispielhaft angeführt: Es gibt noch viele weitere Studien, vor allem in der Evaluationsforschung (Hilfesystem, einzelne Projekte). Außerdem bedienen manche Studien alle drei angeführten Punkte, indem sie beispielsweise die Lebenslage untersuchen und gleichzeitig die Funktionalität des Hilfesystems evaluieren.

[4] Zu der Frage, ob Housing First neu und innovativ ist, wird in Deutschland seit mehreren Jahren ein Diskurs geführt.

[5] 5 In den Jahren 2001–2004 gab es einen Forschungsverbund, der das Thema Wohnungslosigkeit und die Hilfen in Wohnungsnotfällen systematisch erarbeitete. Mitglieder waren das Institut Wohnen und Umwelt (IWU), die Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Frauenforschung (GSF e. V.) und die Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung e. V. (GISS) (BAG W e. V. o.J.).

[6] 6 Wird in Kapitel 2.3.2 näher ausgeführt.

[7] Begriff aus der Dokumentarischen Methode siehe Kapitel 4.3.

[8] Zudem gibt es neuere Fallportraits von wohnungslosen und obdachlosen Menschen, die jedoch entweder aus eigenen Erfahrungsberichten ehemals Wohnungsloser entstanden sind oder aus Erfahrungsberichten der praktischen Wohnungsnotfallhilfe stammen (u. a. Sanatanas 2016). Wissenschaftliche Erhebungen und Auswertungen haben bei solchen Projekten jedoch keine Anwendung gefunden und sind daher aus wissenschaftlicher Perspektive nicht verwertbar.

[9] Bewältigung(-spraxis) meint die alltägliche Bewältigung der kritischen Lebenssituation, was keine Bewältigung im Sinne eine Verbesserung (Überwindung der Wohnungsnotfallproblematik) bzw. Normalisierung aus gesellschaftlicher Perspektive bedeuten muss. Bewältigung(-spraxis) wird in dieser Studie als Lebensbewältigung und damit als (ein zum Teil mögliches abwei­chendes) Verhalten und Handeln im Sinne Böhnischs verstanden (vgl. 2019, S. 20): „(Lebens-)Bewältigung […] [als; N.S.] das Streben nach psychosozialer Handlungsfähigkeit in kritischen Lebenskonstellationen“ (2019, S. 20).

[10] Zum 01.04.2020 ist das Wohnungslosenberichterstattungsgesetz (WoBerichtsG) in Kraft ge­treten, wodurch am 31.01.2022 das erste Mal eine deutschlandweite Stichtagserhebung vor­genommen wird. Weitere Ausführungen dazu finden sich in Kapitel 2.2

[11] Der Anteil wohnungsloser anerkannter Geflüchteter belief sich 2017 auf 375.000 und 2018 auf 441.000 Menschen (vgl. BAG W e. V. 2019b, 2019a).

 

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Nora Sellner: Alltägliche Bewältigungspraxen obdachloser Menschen.
Eine rekonstruktive Analyse im Spannungsfeld gesellschaftlicher Begrenzungen und Erwartungen

 

 

Foto: Unsplash 2022 / Jon Tyson