„Binationale Herkunft und Zugehörigkeit“: Leseprobe

Binationale Herkunft und Zugehörigkeit

Biographische Aushandlungsprozesse junger Erwachsener in Marokko und der Schweiz

von Gwendolyn Gilliéron

 

Über das Buch

Die Autorin untersucht, wie junge Erwachsene binationaler Herkunft in Marokko und der Schweiz immer wieder ein subjektives Gleichgewicht herstellen zwischen nationalen Zugehörigkeitsdiskursen, sozialen Ein- und Ausschlussprozessen und eigenen adoleszenten Individuationsbedürfnissen. Anhand autobiographisch-narrativer Interviews mit jungen Erwachsenen in den beiden Ländern und mit Rückgriff auf die Stigma-Theorie von Erving Goffman wird aufgezeigt, dass eine binationale Herkunft nicht so sehr für die jungen Erwachsenen selbst eine Irritation darstellt, sondern vielmehr durch die Gesellschaft problematisiert und zu einer Herausforderung wird.

Leseprobe aus den Seiten 59 bis 63

 

2.2 Zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung – Zur Analyse biographischer Aushandlungsprozesse

Bisher wurde aufgezeigt, wie ich die Mehrfachzugehörigkeit der jungen Erwachsenen heuristisch lese und mit dem französischen Konzept der mixité als soziales Konstrukt verstehe. Dies hat zur Folge, dass von Kontext zu Kontext und von Fall zu Fall entschieden werden muss, welche Dimensionen von Mehrfachzugehörigkeit relevant werden. Zudem gilt es in einer intersektionalen Perspektive zu untersuchen, wie sich die verschiedenen soziale Differenzdimensionen gegenseitig beeinflussen. Die Rekonstruktion der gesellschaftlichen Differenzlinien für die Schweiz und Marokko zeigte auf, dass in beiden Kontexten eine Mehrfachzugehörigkeit je nach politischem und historischem Kontext anders bewertet wird. In diesem Kapitel gilt es zu überlegen, wie die Bedeutung von Mehrfachzugehörigkeit in den Biographien der jungen Erwachsenen rekonstruiert werden kann. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Frage, inwiefern Mehrfachzugehörigkeit biographische Aushandlungen provoziert. Hierfür werde ich zuerst ein biographietheoretisches Verständnis von Identität entwickeln, um in einem zweiten Schritt Identität mit Bezug auf Mead (2013) als prozessuale Aushandlung zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung zu konzeptualisieren. Meads Überlegungen geben uns einen ersten Eindruck davon, welche Bedeutung Fremdbilder für die Identitätskonstruktion haben. Sie bilden die Basis, um daran anknüpfend die Stigma-Theorie von Goffman (2012a [1963]) zu umreißen, die m.E. die Bedeutung gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse nochmals aus einem anderen Blickwinkel bearbeitet, nämlich in Situationen, wenn Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht übereinstimmen. Denn es geht mir nicht so sehr darum, die Identität der jungen Erwachsenen zu rekonstruieren, sondern vielmehr ihre biographischen Aushandlungen zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung in Bezug auf ihre binationale Herkunft zu untersuchen. Daher wird daran anschließend die prekäre Mehrfachzugehörigkeit, wie sie von Mecheril (u.a. 2000b, 2003b) analysiert wird, mit dem Goffman’schen Konzept Stigma gelesen, um dadurch die Analyseperspektive für spezifische Aushandlungsprozesse im Kontext von Mehrfachzugehörigkeit zu sensibilisieren.

 

2.2.1 Identitätskonstruktionen in einer biographietheoretischen Perspektive

Identitätskonstruktionen sind nicht von Geburt an gegeben, sondern entwickeln und verändern sich im Lauf eines Lebens (Keupp et al. 1999: 215). Sie entspringen dem menschlichen Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung und beschreiben nicht nur, wer man ist und wo man dazugehört, sondern sind immer auch Ausdruck davon, wer man nicht ist. Denn die Ich-Werdung ist nicht allein eine Identifikation, sondern beinhaltet auch ein Abarbeiten am Alter Ego (ebd.). Identität ist also ein paradoxes Projekt von Zugehörigkeit und Abgrenzung, da man ohne Fremdes keine Identität finden kann. Bereits Erik H. Erikson verstand Identität als Konfiguration, als wechselseitige Beziehung zwischen der eigenen Einzigartigkeit und der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv:

Nun ein Gefühl der Identität zu haben, heißt, sich mit sich selbst – so wie man wächst und sich entwickelt – eins fühlen; und es heißt ferner, mit dem Gefühl einer Gemeinschaft, die mit ihrer Zukunft wie mit ihrer Geschichte (oder Mythologie) im reinen ist, im Einklang zu sein. (Erikson 1975: 29 zit. in: Noack 2010: 47)

Im Identitätsbegriff sind Fragen der Zugehörigkeit immer schon mitenthalten, was mit dem Begriff der Identifizierung nochmals deutlicher wird.50 Identität ist somit mit der Erfahrung des Teil-der-Gesellschaft-Seins (oder von Teilen der Gesellschaft) verbunden. Sie hat nach Erikson einen doppelten Bezugspunkt, einmal nach innen auf das Selbstverständnis gerichtet und einmal nach außen auf die gesellschaftliche Zugehörigkeit hin orientiert (Darmstädter 1998). Identitätskonstruktionen entstehen folglich, wie bereits George H. Mead (2013) hervorhebt, in einem Wechselspiel von individuellen und sozialen Erwartungen. Sie entstehen „in einem Prozess dialogischer Anerkennung“ (Keupp et al. 1999: 201) und sind folglich nicht isoliert, sondern in soziale Beziehungen eingebettet.

Damit geht einher, dass Identität kein Zustand ist, den man erreicht, sondern beschreibt, wie Erikson erwähnt, „ein Gefühl“, das sich bis ins hohe Alter entwickelt und verändert. Identitätsarbeit ist somit ein lebenslanger, offener Prozess (Darmstädter 1998; Keupp et al. 1999). So stellt sich die Frage, wie Individuen trotz fragmentierter Identitäten und Brüchen ein Gefühl von Kontinuität ihrer Selbst entwickeln (vgl. Hall 1994). Dieses Gefühl der eigenen Kontinuität stellt gerade in einer sich pluralisierenden Gesellschaft – in der die Möglichkeiten der Selbstdarstellung unüberschaubar werden – eine alltäglich zu bewältigende Aufgabe dar (Keupp et al. 1999). Sie muss immer wieder aufs Neue hergestellt, ausgehandelt und legitimiert werden (Zirfas 2010). Diese Identitätsarbeit passiert, wie bereits Martin Kohli (1981) treffend beobachtet, v. a. in Narrationen über sich selbst. Kohli zufolge helfen biographische Thematisierungen, sich im Alltag zu orientieren und sich des Selbst bewusst zu werden. Erst über die Erzählung kann ein kohärentes Selbst in der Gegenwart entstehen. Identität hat folglich einen narrativen Charakter (vgl. Alheit 2010; Keupp et al. 1999; Lucius-Hoene/ Deppermann 2004). Die Erzählung bildet die Verbindung zwischen dem individuellen Leben und der Geschichte. Sie ist das strukturierende Prinzip, welches dem Leben eine Bedeutung gibt. Biographien sind der Ort, an dem die einzelnen Erzählungen über sich selbst zu einer kohärenten Geschichte gebündelt werden. Die Biographie eines Menschen umfasst demzufolge ein narratives Konstrukt der eigenen Identität, welches Situationen und Erfahrungen interpretiert, strukturiert und in ein kohärentes Ganzes, die Lebensgeschichte, integriert (vgl. Alheit 2010; Dausien 2006; Delory-Momberger 2004). Sie gibt dem Individuum ein Gerüst in Zeit und Raum, an dem es vergangene Erfahrungen bewertet und Projektionen in die Zukunft macht.

Identitäten sind keineswegs linear und einheitlich, sondern dynamisch und vielfältig. Allerdings führen Zwänge im sozialen Umfeld wie etwa der Wunsch nach Gruppenzugehörigkeit, Institutionalisierung von Lebensläufen und Vorstellungen einer Normalbiographie dazu, dass Identität konsistent gedacht wird (Strauss 2002). Biographien sind sodann der Versuch, Zusammenhänge zwischen vergangenen, oftmals unzusammenhängenden Ereignissen herzustellen und ihnen einen Sinn zu geben. Dieses Sinngeben wird auch biographische Arbeit genannt (Schütze 2008a). Das Konzept biographische Arbeit geht auf die Studie von Anselm Strauss und Juliet Corbin Unending Work and Care. Managing Chronic Illness at Home (1988)51 zurück, in welcher die Autor:innen feststellten, dass eine ernsthafte chronische Erkrankung zu einer Identitätskriese führen kann. Um wieder handlungsfähig zu werden, so die Autor:innen, wird eine reflexive Auseinandersetzung mit sich selbst und dem eigenen Gewordensein erforderlich (in: Schütze 2014). Neben dem Annehmen der Diagnose müssen die betroffenen Personen eine neue Lebensgestalt – einen neuen biographischen Sinn – entwerfen, welche eine Kontinuität zwischen der Vergangenheit und der neuen Situation ermöglicht und schließlich eine neue Zukunftsperspektive entwickeln (ebd.). Das Konzept wurde im Folgenden von Fritz Schütze für die Biographieforschung ausgearbeitet (Riemann/Schütze 1991; Schütze 2008a). Biographische Arbeit beschreibt nach Schütze die reflexive Zuwendung zur eigenen Biographie, die in Kommunikation mit sich und relevanten Anderen passiert:

Biographical work consists of narrative recollection; reflection of symbolic, „deeper“ meanings revealing self historical gestalts of life; an analytical comparison of alternative understandings; imagining a personal future that harmoniously or contrastively fits to one’s personal past; reflective decision making and evaluating the probable outcomes. (Schütze 2008a: 160)52

Demnach ist biographische Arbeit als eine Identitätsarbeit zu verstehen, in der das Individuum versucht, sich trotz veränderter sozialer Bedingungen und biographischer Brüche nicht fremd zu werden und sein Gewordensein nachzuvollziehen. Solange das Leben seinen gewohnten Lauf geht, zeigt sich biographische Arbeit als Einordnung von Erlebtem in das Selbstverständnis. Es kann aber zum expliziten Handlungsschema werden, um Krisen und Verlaufskurvenerfahrungen zu verstehen und sich damit auseinanderzusetzen (Schütze 2008a). „[S]chwerwiegende soziale, persönliche, berufliche Probleme“, wie Berufsüberforderung, Verlust eines Angehörigen, Arbeitslosigkeit oder Erkrankung (Schütze 2014:3), aber auch Gewalt- und Rassismuserfahrungen können Verlaufskurven des Erleidens auslösen und das Selbstbild nachhaltig irritieren. Biographische Arbeit wird dann notwendig und kann im Zuge des Erzählens der eigenen Lebensgeschichte auch verdrängte und vorbewusste Leidenserfahrungen der eigenen Selbsterkenntnis und Reflexion zugänglich machen.53

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50 Wie jedoch Floya Anthias treffend bemerkt, haben die Konzepte Identität und Zugehörigkeit einen etwas anders gelagerten Fokus: „Identity involves individual and collective narratives of self and other, presentation and labelling, myths of origin and myths of destiny with associated strategies and identifications. Belonging on the other hand is more about experiences of being part of the social fabric and the ways in which social bonds and ties are manifested in practices, experiences and emotions of inclusion“ (Anthias 2009: 8).

51 Auf Deutsch ist die Studie unter folgendem Titel erschienen: Corbin, Juliet M. und Strauss, Anselm L. (2004): Weiterleben Lernen. Verlauf und Bewältigung chronischer Krankheit. Bern u. a.: Hans Huber.

52 Biographische Arbeit ist dabei nicht mit dem Konzept Biographie-Arbeit oder biographische Beratung aus der Sozialen Arbeit zu verwechseln. Während ersteres einen Bewusstwerdungsprozess darstellt, der im Erzählen über sich passiert, ist letzteres eine Intervention von außen, die Klient:innen die Notwendigkeit einer biographischen Arbeit aufzeigt (Schütze 2014).

53 Wie diese biographische Arbeit in den Erzählungen der jungen Erwachsenen rekonstruiert werden kann, wird im methodischen Teil der Arbeit dargelegt (siehe u. a. Exkurs in Kap.3.5.5).

 

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