„Eigene und gemeinsame Lernarbeit“: Leseprobe

Leseprobe Lernarbeit

Eine Leseprobe aus Eigene und gemeinsame Lernarbeit. Erziehung und Bildung in Verantwortung für eine lebenswerte Zukunft von Jörg Schlömerkemper, Kapitel „1) Einführung und Überblick“.

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1) Einführung und Überblick

„Das dürfen wir leider nicht!“ sagt die Schulleitung.
„Das will doch keine Schule!“ sagt das Ministerium.
„Wir müssen daran arbeiten!“ sagen Reformwillige.*

 

Kaum zu überschauen ist die Fülle der Publikationen und Vorschläge, die mit unterschiedlichen Begründungen und mit konkurrierenden Zielsetzungen zu einer „Erneuerung“ der Schule aufrufen und das Bildungswesen mehr oder weniger konsequent reparieren, verbessern oder „transformieren“ wollen. Und es gibt etliche Schulen, die solche Ideen entwickelt haben und in beeindruckender Praxis umsetzen.

Dieses Buch soll dies alles nicht noch einmal nacherzählen, es nicht neu bündeln und nicht den einen oder anderen Aspekt hervorheben. Dies alles bleibt im Grunde gefangen in den vertraut gewordenen Strukturen des „Bildungswesens“ und seinen etablierten Inhalten. Ziel der hier vorgetragenen Überlegungen ist es vielmehr, tiefer liegende Ursachen für die immer wieder und zurzeit besonders heftig beklagten Probleme offenzulegen. Daraus sollen Ziele und Formen eines Lernens entworfen werden, das sich an den eigenen Bedürfnissen der Heranwachsenden und an ihren gemeinsamen zukünftigen Lebensbedingungen orientiert.

Dies soll insbesondere vor dem Hintergrund der grundlegend veränderten Beziehungen zwischen den Generationen erörtert werden: Bis vor kurzem konnten Erwachsene die Kinder und Jugendlichen in eine Welt einladen, die sich als immer besser und schöner darstellte und auch so erlebt wurde ‒ jedenfalls bei der überwiegenden Mehrheit. Jetzt wird ‒ wenn auch immer noch zögerlich ‒ zur Kenntnis genommen, dass die Welt „aus den Fugen“ geraten ist. Jetzt müssen bzw. sollten die Älteren eingestehen, dass der vermeintliche Fortschritt den Jüngeren Probleme hinterlässt, die allenfalls mit sehr konsequenten Änderungen im Umgang miteinander und mit der Welt, aber möglicherweise auch mit neuen Ideen bewältigt werden können.

Eine Schule, die in Formen und Inhalten erstarrt ist, kann das nicht mehr gewährleisten. Ein „Neuanfang“ muss grundlegend anders erdacht werden. Vorgeschlagen wird deshalb das Leitbild (wenn man so will, die „Vision“) einer Organisation des Lernens, in der die anstehenden Aufgaben konsequenter in „eigener und gemeinsamer Lernarbeit“ bearbeitet werden können.

Das alles ist zweifellos eine große Herausforderung und ein anspruchsvolles Programm. Manche werden das eine oder andere als eine längst vertraute Praxis verstehen, andere es als ganz und gar unmöglich bzw. als ungewollt be-/verurteilen. Aber wenn es weithin Konsens wird, dass die Schule sich in einer „tiefen Krise“ befindet und dass es „so nicht weitergeht“, dann sollte radikaler nach den Ursachen gefragt und konsequenter nach Ansätzen gesucht werden, die wirklich zu einem „Aufbruch“ führen können.

Viele Details lassen sich sicherlich nicht von heute auf morgen ändern oder herstellen (wie z.B. der Verzicht auf enge curriculare Vorgaben oder ein gesellschaftlicher Konsens), aber es sollte zeitnah darüber geredet werden, nach welchen Zielen und unter welchen Bedingungen eine zukünftige Schule den aktuellen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen und ihren zukünftigen Aufgaben besser gerecht werden soll. In diesem Sinne sollte dieses Buch nicht nur als unverbindliche Einladung, sondern als konstruktiv gemeinte Herausforderung gelesen werden.

Eigentlich ist vieles irgendwann, irgendwo und auch wiederholt gesagt worden. Aber diese Vielfalt fügt sich nicht zu einem in sich stimmigen Bild. In der öffentlichen wie in der wissenschaftlichen Debatte stehen sich Konzepte zum Teil kontrovers gegenüber, weil unterschiedliche Zielsetzungen und verschiedene Schwerpunkte nicht auf einen Nenner gebracht werden können. Bei alledem wird wie selbstverständlich die überkommene Grundstruktur schulischen Lehrens und Lernens als „gegeben“ gesetzt: die Organisation in Jahrgangsklassen und die daran geknüpfte, immer wieder „laufende“ Abfolge des zu behandelnden (und zu prüfenden) „Stoffes“, wie er in Lehrplänen (dem „Curriculum“; von lat. Wettlauf, Umlauf, Kreisbahn) als unumstößliche Grundlage festgeschrieben zu sein scheint.

Demgegenüber wird hier für eine öffnende curriculare Vielfalt und eine entsprechende Gestaltung des Lernens und des Lehrens plädiert. Sorgsam bedacht werden sollen dabei die Breite der möglichen Themen, die Vielfalt der Intentionen, das Spektrum der Perspektiven, die Besonderheiten der persönlichen Entfaltung und nicht zuletzt die Ungewissheit der zukünftigen Entwicklung. Im Diskurs darüber sollen die Beweggründe der Beteiligten erkennbar werden, bevor nach einem Konsens gesucht wird. Ebenso sollen mögliche bzw. wahrscheinliche „Wirksamkeiten“ genauer herausgearbeitet, als solche verstanden werden und in die Arbeit an Folgerungen einfließen.

Das Folgende ist also durchaus von der Zuversicht geleitet, eine sinnvolle und machbare Perspektive aufzeigen zu können, die zumindest bei jenen Zustimmung findet, die mit den etablierten Formen des Lernens und Lehrens nicht mehr einverstanden sind und etwas ändern wollen. Erforderlich ist eine gemeinsame Klärung der Leitbilder, an denen sich die pädagogische Arbeit orientieren soll und an denen sich die zu entwickelnde Praxis messen lassen muss. Erforderlich ist dabei eine Bereitschaft, vertraute Begriffe und etablierte Leitbilder zu relativieren.

Das kann emotional belasten und kognitiv durchaus irritieren, aber wenn am Ende zuvor umstrittene Begriffe und Konzepte in ihrem Zusammenhang gedeutet werden, dann können ‒ so ist zu hoffen ‒ klarere Orientierungen entstehen. Und daraus kann nicht zuletzt der Mut erwachsen, vermeintliche Grenzen als überwindbar zu verstehen, alternative Gestaltungs- und Freiräume zu erkennen und sie zu gestalten. Dazu muss so geduldig wie zielstrebig erarbeitet werden, was die Beteiligten (bzw. die Zu-Beteiligenden) in diese Prozesse einbringen, aber auch welche Sorgen und Befürchtungen solche Ideen und Vorschläge auslösen können. Dazu ist eine konstruktive „Diskurs-Kultur“ (s.u.) zu entwickeln, in der Ziele verbindlich erarbeitet, Arbeitsschritte konkret vereinbart und Erfahrungen offen beraten werden.

Diese eher kurz gefasste Darstellung sollte in diesem Sinne als Einladung zu einem „Diskurs“ gelesen werden. Dabei ist immer wieder aufzuzeigen, welche Kontroversen, Irritationen und „Widersprüche“ bedacht und bearbeitet werden müssen, damit Entwürfe und Pläne sich nicht in schönen Wünschen und Illusionen verirren und erschöpfen.

 

Zentrale Begriffe und Konzepte

Zur ersten Orientierung werden (im Sinne eines „advance organizers“) im Folgenden zentrale Aspekte der theoretischen Orientierung und der vorgeschlagenen Veränderungen stichwortartig benannt:

  • Als „Pädagogik“ als „pädagogisch“ können vier Ebenen unterschieden werden: (1.) das alltägliche, eher weniger bewusste Tun, (2.) Versuche der begrifflich-theoretischen Deutung und Anleitung dieser Prozesse, (3.) die erkenntnistheoretisch kritische und methodisch fundierte Prüfung solcher Deutungen sowie (4.) die theoretisch reflektierte professionelle Praxis.
  • In der pädagogischen Praxis und in deren Deutung sind mögliche bzw. wahrscheinliche „Wirksamkeiten“ zu bedenken und analytisch zu unterscheiden: Etwas kann (1.) „gegeben“, (2.) „geworden“”, (3.) „gestaltet“, (4) „begriffen und benannt“, (5.) „gewünscht“ oder (6.)„verborgen bzw. verdrängt“ sein.
  • Solche Wirksamkeiten können untereinander in Spannung stehen, aber auch in sich selbst widersprüchlich sein. Zu deren Verständnis soll eine „Antinomie-Sensibilität“ beitragen, die theoretisch angeleitet ist, aber ergebnisoffen reflektiert. Dazu soll zur Klärung der verwendeten Begriffe beitragen.
  • Als „Erziehung“ ist alles zu verstehen, was in irgendeiner Weise in der Entwicklung der Persönlichkeit und ihrer Dispositionen unbewusst oder intentional geleitet eine Rolle spielt. Dies ist zunächst normativ offen zu verstehen. „Bildung“ und „Sozialisation“ sind im Medium der Kultur bzw. der Gesellschaft Teil dieser Prozesse. Diese können mit „freilassenden“ und/oder mit „engführenden“ Zielen und Prozessen verbunden sein.
  • Erziehung ist zu verstehen als ganzheitliche Persönlichkeits-Entwicklung im Wechselspiel von Individualität und Sozialität. Es können fünf „Felder“ unterschieden werden: (1.) Körperlichkeit, (2.) Emotionalität, (3) kognitive Kompetenzen, (4.)sozial-ethische Haltungen und (5.) ästhetische Achtsamkeit.
  • Grundlegender Prozess der Entwicklung ist die besondere „Dispositionalität“ des Menschen: Das Gehirn speichert („lernt“) vielfältige Signale aus der Umwelt als Dispositionen“, die zum Teil „automatisch“ aktiv sind oder intentional im Denken und Handeln aktiviert werden können. Dispositionen sind in ihrer Wertigkeit wünschenswert und/oder problematisch.
  • Formen der Erziehung können danach unterschieden werden, (1.) ob sie unbewussten und ungeprüften Einfluss haben, (2.) ob sie im bewusst gestalteten Umfeld „verborgen“ wirken sollen, (3.) ob sie intentional transparent leitend einwirken sollen oder (4.) ob Heranwachsende als „Selbst-Erziehung“ einwirken wollen.
  • In der Organisation des Lernens werden zwei Formen unterschieden: (1.) die individuelle Erarbeitung eines je eigenen Kompetenz-Profils und (2.) die gemeinsame Arbeit mit heterogenen Kompetenzen. Beides wird miteinander verbunden und aufeinander bezogen.
  • Für die Planung und Gestaltung der eigenen Fähigkeiten und Bereitschaften wird in „Kompetenz-Aufbau-Modellen“ vorgeschlagen, wie sachgerecht und zielorientiert geplant, gearbeitet und der Erfolg Schritt für Schritt verlässlich gesichert werden kann.
  • Die individuelle Lernarbeit wird in professioneller Leitung begleitet und gemeinsam kompetenzorientiert vertieft. Dabei sollen Themen insbesondere mit Blick auf zukünftige Herausforderungen und dafür erforderliche Kompetenzen bearbeitet werden.
  • Die traditionell selektionsgebundenen Verfahren der Leistungsmessung, die „sozial“ vergleichende „Leistungs-Profile“ erstellen, werden ergänzt und zunehmend ersetzt durch „sachbezogene“ „Kompetenz-Profile“, die jene Fähigkeiten ausweisen, die vollständig und verlässlich erarbeitet wurden.

All dies wird in einer ergebnisoffenen „Diskurs-Kultur“ bedacht und beraten, die immer wieder neu zu erarbeiten, zu überprüfen und ggf. zu optimieren ist. Damit soll die administrativ verfestigte und nicht mehr zukunftsfähige Struktur von Schule und Unterricht abgelöst werden durch Lernarbeit in eigener und sozialer Verantwortung.

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* So ähnlich ist es immer wieder zu hören.

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Eigene und gemeinsame Lernarbeit. Erziehung und Bildung in Verantwortung für eine lebenswerte Zukunft

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Interview mit dem Autor

 

Der Autor

Jörg SchlömerkemperIch bin bis zur Pensionierung an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. als Erziehungswissenschaftler vor allem in der Ausbildung von Lehramts-Studierenden tätig gewesen. Wichtig war mir dabei, theoretische und methodische Orientierungen mit praktischen Erfordernissen in Beziehung zu setzen. Auf meiner eigenen Homepage ‒ www.jschloe.de ‒ ist das in Details nachvollziehbar.

 

 

Über „Eigene und gemeinsame Lernarbeit“

Die traditionellen Formen und Inhalte des Unterrichts werden den Herausforderungen der Zukunft nicht mehr gerecht. Über „Bildungs“-Wissen hinaus ist ein erweitertes und anspruchsvolles Verständnis von „Erziehung“ erforderlich. In dieser Zielsetzung wird ein alternatives Konzept der Lernorganisation entwickelt: Heranwachsende erarbeiten in eigener Lernarbeit individuelle Kompetenz-Profile und erfahren gleichzeitig in gemeinsamen Projekten, dass alle mit ihren unterschiedlichen Kompetenzen verantwortungsbewusst zum Gelingen beitragen können und müssen.

 

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© Autorenfoto: privat | Titelbild: gestaltet mit canva.com