Wie fair sind Leistungsbeurteilungen an Hochschulen?

Interview Leistungsbeurteilungen an Hochschulen

Wie können Hochschullehrende Leistungsnachweise sowie die Beurteilung und Rückmeldung von Lernleistungen möglichst lernförderlich gestalten? Leseprobe aus Leistungsbeurteilungen an Hochschulen lernförderlich gestalten. Prüfen, Beurteilen und Rückmelden von Lernleistungen von Tobias Zimmermann.

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Leistungsbewertungen an Hochschulen

9 Summativ beurteilen: Bewerten und Benoten

Dass ich die Thematik des Bewertens und Benotens erst gegen Ende dieses Buches behandle, liegt nicht daran, dass ich sie für den krönenden Abschluss handle. Im Gegenteil, wie bereits mehrfach angesprochen wurde, sind das Bewerten und besonders das Vergeben von quantifizierenden Noten der problematischste Teil des Umgangs mit Lernleistungen (siehe Kap. 3, 4.5, 5.1.3, 6.2 und 8). Das Thema ist deshalb am Ende des Buches platziert, weil das Verständnis der vorgängig erläuterten Aspekte eine wesentliche Voraussetzung dafür darstellt, Leistungen umsichtig und verantwortungsvoll zu bewerten – im Bewusstsein dessen, was Bewertungen und Benotungen bewirken und was nicht. Dabei wird mit diversen Vorurteilen bezüglich Noten aufzuräumen sein: Noten helfen weder die Qualität des Lernens zu sichern noch motivieren sie Studierende (oder jüngere Lernende) zu echtem Lernen.

Dies bedeutet nicht, dass Lernleistungen nicht bewertet werden sollen – aber zum Setzen von quantifizierenden Noten durch Lehrende gibt es zahlreiche Alternativen der Bewertung, die sich auf das Lernen positiver auswirken und die Qualität des Lernens mindestens so gut sichern helfen. Sie sind auch praktisch umsetzbar und ihre Wirkung ist empirisch dokumentiert. Entgegen stehen ihnen allenfalls unsere kulturell eingeschliffenen Denkmuster. Zu diesen zähle ich auch Rechtsnormen und institutionelle Vorgaben, die oft als Gründe angeführt werden, weshalb modernere Formen von Bewertungen nicht umsetzbar seien. Dazu ist allerdings anzumerken, dass erfahrungsgemäß viele Rechtsnormen bei umsichtiger Planung des Vorgehens auch durch alternative Vorgehensweisen erfüllt werden können; Ähnliches gilt für institutionelle Regelungen, die zudem schneller angepasst werden können. Außerdem scheint es mir wichtig, von Seiten der Pädagogik, (Hochschul-)Didaktik und Lernpsychologie mittels gesellschaftlichen und politischen Dialogs auf die rechtlichen Praktiken bis hin zur Gesetzgebung einzuwirken – mit dem Ziel, diese dort, wo es noch nicht erfolgt ist, an den heutigen wissenschaftlichen Kenntnisstand anzupassen.

Als erstes werden in diesem Kapitel die Wirkungen besprochen, die Bewertungen und insbesondere Noten auf die Lernmotivation und die Selbstregulation des Lernens haben (Kap. 9.1). Anschließend werden zwei verschiedene Vorstellungen der Messung von Lernleistungen kontrastiert (Kap. 9.2). Darauf basierend wird gezeigt, wie Bewertungskriterien definiert und Bewertungsraster konstruiert werden können (Kap. 9.3). Damit die Studierenden die Beurteilungskriterien und -raster verstehen und sie auf selbstbestimmte Weise als Richtschnur ihres Lernhandelns verwenden können, müssen diese zumindest intensiv mit ihnen besprochen werden. Noch positiver auf die Lernmotivation und die Selbstregulation des Lernens wirkt es sich freilich aus, wenn die Beurteilungskriterien gemeinsam mit den Studierenden ausgehandelt und definiert werden (Kap. 9.3.4). Im Bewusstsein schwerwiegender mathematischer Unzulänglichkeiten können schließlich Aufgaben gewichtet, auf der Basis von Beurteilungskriterien und -rastern Notenskalen gebildet und Noten berechnet werden (Kap. 9.4). Sinnvoller als Noten sind allerdings grob abgestufte Basisbewertungen (Kap. 9.5). Zum Abschluss werden noch zwei grundlegendere Alternativen zur herkömmlichen Bewertungs- und Benotungspraxis vorgestellt (Kap. 9.6).

 

9.1 Die Wirkung von Bewertungen auf Motivation und Selbstregulation

In den Kapiteln 3.1 und 3.2 haben wir unterschieden zwischen Bewertungen, also wertenden Einschätzungen einer Leistung, und nicht wertenden Beurteilungen, die eine Leistung einschätzen, ohne eine formale Bewertung mit Noten oder Wortprädikaten („sehr gut“, „gut“ etc.) vorzunehmen. Bewertungen wirken sich im Unterschied zu nicht wertenden Beurteilungen eindeutig negativ auf die Motivation und den Lernfortschritt von Lernenden jeglicher Stufen aus. Dies ist durch zahlreiche empirische Untersuchungen seit den Experimenten von Ruth Butler Ende der 1980er Jahre bestens belegt (vgl. z.B. Marx 2020, 80–82; Hattie u. Clarke 2019, 2–7; Brookhart 2018b, 62–64; Butler 1988). Zudem gibt es zahlreiche Studien, die positive Effekte von formativem Feedback auf die Lernmotivation und den Lernfortschritt belegen (siehe Kap. 8), wobei es sich bei formativem Feedback um eine spezifische Form von Beurteilung handelt (vgl. Brookhart 2018b, 58–62). Insofern spricht, wie bereits durch dieses ganze Buch in verschiedenen Zusammenhängen erläutert, viel dafür, den Einsatz von Noten im Rahmen jeglicher Bildungsformen zumindest einzudämmen.128

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128 Ob Noten als notwendiges Übel hinzunehmen sind oder eine Schule ohne Noten mehr und besseres Lernen und damit wohl auch einen größeren gesellschaftlichen Nutzen im wirtschaftlichen Bereich bis zu größerer Mündigkeit und Selbstverantwortung der einzelnen Menschen bewirken würde, ist eine spätestens seit der Bewegung der Reformpädagogik an der Wende vom 19. zum 20. Jh. anhaltende Debatte (vgl. Bohl 2005, 225f.). Sie wird in der Pädagogik und Didaktik, aber auch der breiten Gesellschaft mehr oder minder anhaltend geführt. Über politische Prozesse wirken sich neue Erkenntnisse aus dieser Debatte mit teilweise erheblicher Verzögerung (oder auch gar nicht) in Form von Anpassungen der rechtlichen und regulatorischen Vorgaben auf das Bildungswesen aus.

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Zimmermann Leistungsbeurteilung an Hochschulen 150 pxTobias Zimmermann:

Leistungsbeurteilungen an Hochschulen lernförderlich gestalten. Prüfen, Beurteilen und Rückmelden von Lernleistungen

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Der Autor

Dr. Tobias Zimmermann, Leiter des Zentrums für Hochschuldidaktik und -entwicklung, Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung Pädagogische Hochschule Zürich, Schweiz

 

Über „Leistungsbeurteilungen an Hochschulen lernförderlich gestalten“

Wie können Hochschullehrende Leistungsnachweise sowie die Beurteilung und Rückmeldung von Lernleistungen möglichst lernförderlich gestalten? Das Buch bietet anwendungsorientierte Hinweise zur Gestaltung, Beurteilung und Rückmeldung von Prüfungen und vielen weiteren Formaten von Leistungsnachweisen. Zudem thematisiert es lernpsychologische Grundlagen, deren Kenntnis für eine wirkungsvolle und valide Beurteilungspraxis wertvoll ist.

 

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