„Körper in biografieanalytischer Perspektive“: Leseprobe

Gruppe von Tänzer:innen, die auf der Bühne performen

Körper in biografieanalytischer Perspektive. Zum Verhältnis von Körper, Biografie und ihrer Erforschbarkeit

von Sabine Gabriel

 

Über das Buch

Wie bilden sich Erlebens- und Deutungsweisen des eigenen Körpers heraus? In welchem Zusammenhang stehen sie mit Erfahrungen? Sabine Gabriel bietet einen Ordnungsversuch der Relationen von biografischem Verlaufs- und Körpererleben sowie ihrer Erforschbarkeit. Dafür wurden narrative Interviews mit Berufstanzenden mit einer modifizierten, leibphänomenologisch angereicherten sozialwissenschaftlichen Prozessanalyse ausgewertet. Mit dieser ‚Leibheuristik‘, die Körper als Erfahrungselemente auch mit spürenden Qualitäten berücksichtigt, liegt nicht zuletzt ein Empirisierungsvorschlag für Körper vor, der grundlegende forschungspraktische Anschlüsse eröffnet.

Leseprobe: S. 15-22

 

1.2 Erkenntnisinteresse und Fragestellung

Die vorliegende qualitative Forschungsarbeit zielt grundsätzlich darauf ab, das subjektive Erleben des eigenen Körpers über Prozessdarstellungen zur eigenen Biografie zu untersuchen. Am Beginn des Projektes standen Arbeiten zur Konzeption der Forschung. Die intensive Beschäftigung mit Literatur zum Thema und insbesondere zu Konzepten, den Körper zu fassen, mündeten darin, ihn grundsätzlich mit Qualitäten wie etwa der Wahrnehmung oder des eigenleiblichen Spürens auszustatten. Dem schloss sich nicht nur die Frage an, an welchen Forschungssubjekten bzw. in welchem Forschungsfeld dieses Erkenntnisinteresse untersuchbar sei, sondern insbesondere auch die, mit welchen Methoden sich dieses Vorhaben am geeignetsten umsetzen lasse. Vor allem Überlegungen zu den Auswertungsmöglichkeiten für das anvisierte Datenmaterial verwiesen auf die Komplexität dieser Auswahlentscheidung. Denn obwohl nach dem sogenannten Body Turn3 zwar eine Fülle von Untersuchungen und Veröffentlichungen zum Thema vorangetrieben wird, ist nach Sichtung der Forschungslandschaft zu subjektiven Erlebens- bzw. Sichtweisen auf, mit und durch den leiblichen Körper zu konstatieren, dass noch zahlreiche Desiderate vorzufinden sind. Auch eine Systematisierung des Forschungsstandes, ihrer grundlegenden Bezugslinien und der Freilegung der jeweiligen methodischen Vorgehensweisen steht grundlegend noch aus. Daher war es weder umstandslos möglich, dezidierte Konzeptionsvorschläge zur Empirisierung des Forschungsgegenstands zu nutzen noch auf etablierte Verfahrensvorschläge zurückzugreifen, um Datenmaterial zur Verbindung von Biografie- und Körpererleben auszuwerten. Erst im Verlauf der Forschungsarbeit wurden für die Perspektive vorliegender Forschung hierzu dienliche Inhalte publiziert (hierzu u.a. Gugutzer 2017; Gugutzer et al. 2017a und 2017b).

Wie im ‚Methodenteil‘ diskutiert werden wird, konnte zu großen Teilen Schützes Verfahrensvorschlägen zur Erhebung von Daten als auch zu deren Auswertung gefolgt werden. Schützes (u.a. 1995) kritische Feststellung, dass sozialwissenschaftliche „Handlungstheorien stets nur auf das aktive und intentionale Handeln“ (Kleemann et al. 2013: 69) abgestellt seien, soll in dieser Arbeit auf Körperhandeln und -erleben zugespitzt werden. Zu Beginn seiner Forschung sind Ansätze, die reaktives Handeln oder gar orientierungsloses Erleiden fokussieren lassen, wenig systematisch in den Blick geraten, weshalb Kolleg* innen und er die Methode der sozialwissenschaftlichen Prozessanalyse systematisierten. Körperbezogenes Erleben, das mehrheitlich als reaktives Erdulden oder gar Erleiden zu charakterisieren ist, ist zwar zu Teilen in der Biografieforschung, etwa für Krankheitsverlaufskurven, erarbeitet worden. Darin wird aber weniger das Körpererleben des Subjekts über die Zeit analysiert als vielmehr das Erleben der Krankheit, insbesondere nach dem Eintritt einschneidender am oder im Körper markierter Erlebnisse (etwa schwere Krankheiten oder Amputationen). Ein sensibilisierter Blick für den Einfluss einer Leibfundierung sämtlicher Erlebnisse ist ebenfalls kaum enthalten. Und so wird eine leibliche Dimension, etwa mit Blick darauf, welche Ressourcen ein Subjekt aufgrund von Leiberfahrungen in solch einschneidende Erlebnisse möglicher- weise auch mitbringen könne, darin nicht systematisch berücksichtigt. Vor diesem Hintergrund waren aufgrund des zusätzlichen Klärungsbedarfs insbesondere in der Anlage der Methodik Forschungsarbeiten zu leisten, die im Sinne einer gegenstandsbegründeten Theoriebildung in iterativ-zyklischen Arbeitsschleifen nach und nach konkretisiert werden konnten.

Um Wissen über den leiblichen Körper und den Umgang mit und durch ihn zu generieren, ergaben sich folglich insgesamt zwei Erkenntnisstränge innerhalb der vorliegenden Arbeit. Auf der einen Seite werden empirisch begründete Erkenntnisse mit Blick auf den Erfahrungsgegenstand des gelebten Körpers in den Zielfokus gerückt. Auf der anderen Seite wird beabsichtigt, dem Spektrum qualitativer Methoden forschungspraktisches Wissen zum gelebten Körper als Forschungsgegenstand hinzuzuführen. Daher wird außerdem anvisiert, auf methodologischer und methodischer Ebene zu Ergebnissen zu gelangen. Vor diesem Hintergrund muss sich die Arbeit verschiedenen Herausforderungen stellen und grundlagentheoretische Zusammenhänge bearbeiten.

Insgesamt konnte die vorläufige Fragestellung am Beginn, wie sich der Zusammenhang von biografischen Verläufen und leiblichen Körpern im Datenmaterial zeige, auf die folgenden Fragen konkretisiert werden: Wie entwickeln sich Wissensstrukturen zum erlebten Körper? Wie fließen diese Wissensstrukturen im Verlauf des Lebens in das Handeln und Erleben ein? Welche Strukturlagerungen wirken verändernd auf Erlebenszustände des eigenen Körpers, und wie beeinflussen Bedingungskonstellationen und Körpererleben perspektivische Brechungen auf den eigenen Körper? Dabei wird dem strukturellen Grundprinzip einer analytischen Trennung zweier unterscheidbarer Wissensformen gefolgt, die es in der Konsequenz erlauben, eine Doppelperspektive auf biografische Darstellungen einzunehmen. In dieser Perspektive ist Erleben einerseits als implizit-diffuse Wissensstrukturen (Erfahrungsebene) zu fassen, und andererseits beinhaltet Erleben, etwa in Form der reflexiven Hinwendung zum Erlebnis oder zur Biografie, explizit-reflexive Wissensstrukturen (Deutungsebene).

Durch die Arbeit an den beiden vorausgehend benannten Erkenntnissträngen sind daher konkret folgende Beiträge der Forschungsarbeit aus der ihr zugrunde gelegten Perspektive beabsichtigt:

a) Bestimmung von Theorieaufladungen ausgewählter (leib-)phänomenologischer Perspektiven mit Freilegung von Empirisierungsoptionen des erlebten Körpers

b) Systematisierung bestehenden forschungspraktischen und -methodischen Wissens zum Forschungsgegenstand

c) Epistemologie biografieanalytischer Einzelfallarbeit mit tentativer Erschließung methodischen Analysevorgehens

d) Theorie zu Fallstrukturen, ausgerichtet auf biografieübergreifende Prozessverläufe und ‚Körperbiografien‘

e) Typologie von Erlebens- und Deutungsstrukturen zum Erfahrungsgegenstand des leiblichen Körpers

f) Theorieentwicklung mit Erweiterung der Fundierungsperspektiven auf dem Gebiet theoretischer Gegenstandsbezüge zum leiblichen Körper

In dieser Arbeit wird beabsichtigt, das Erleben des eigenen Körpers und die Deutungsaktivitäten zu selbigem aus dem rekonstruierten Substrat lebensgeschichtlicher Verlaufsdarstellungen analytisch in den Blick zu nehmen und konsequent nach der subjektiven Relevanz des Körpers für Welt-Selbst-Verhältnisse zu fragen, um langfristige Entstehungszusammenhänge von Biografien und Strukturen des erlebten Körpers aufzuhellen.

 

1.3 Zum Aufbau der Arbeit

Die Arbeit ist in vier grundlegende Teile gegliedert. Der Einstieg erfolgt über eine Darlegung des theoretisch-konzeptionellen (Teil I) und methodologischmethodischen Bezugsrahmens (Teil II). Dem angeschlossen sind die Vorstellung der Fallstudien und -porträts sowie Kontrastierungsbefunde mit Fokus auf zentrale Strukturierungsphasen und biografische Schlüsselpositionen (Teil III). Der letzte Teil der Arbeit ist einer Entwurfszeichnung phänomenspezifischer Theoretisierungen zum strukturellen Verhältnis von Biografie und Körper und einer Methodenreflexion gewidmet und wird mit einem abschließenden zusammenfassenden Abriss und Ausblick (Teil IV) beendet.

Der nachfolgenden Vorstellung ist der Vorspruch voranzustellen, dass das Inhaltsverzeichnis zwar eine lineare Logik suggeriert. Eine solche ist aber in der Forschungsarbeit nicht umgesetzt worden. So sind etwa theoretisch-konzeptionelle Zuschnitte jeweilig prozessdynamisch zu verstehen, die zwar für nachfolgende Arbeitsschritte, etwa für die Erarbeitung methodischer Vorgehensweisen, dienlich sind, aber durch eine iterativ-zyklische Vorgehensweise stets mit reflektierenden Feedbackschleifen verbunden waren. Je nach aktuellem Befund hatte dieses Vorgehen auch Konzeptualisierungsüberarbeitungen oder Modifikationen des methodischen Vorgehens zur Folge. Wie vorangehend dargestellt, arbeitet das Forschungsvorhaben sowohl auf Ebene der Theoriebildung zum Körpererleben als auch auf Ebene der Generierung von Methodenwissen über den Forschungsgegenstand Körper. Um dieses Vorhaben nicht durch eine inhaltliche Überfrachtung infolge des formulierten Anliegens zu konterkarieren, bedarf es an der ein oder anderen Stelle der Verschriftlichung des Forschungsprojektes darstellungspragmatischer Entscheidungen. Dazu zählt der Versuch, die Darstellung in Form suggerierter Linearität zu reduzieren, ebenso wie der Ausschluss bestimmter Darstellungsinhalte, wie etwa bei der Darstellung von Interpretationsleistungen deutlich sichtbar wird. Als erster Versuch der Transparentmachung wird im Folgenden der Aufbau der vorliegenden Arbeit begründend beschrieben.

Teil I der vorliegenden Arbeit ordnet die theoretischen Bezugslinien, die die Konstruktion des Forschungsgegenstandes grundlegend mitstrukturieren. Bevor wesentliche Begriffe und deren Bedeutungsgehalte für die vorliegende Arbeit ausgelotet und dargestellt werden, ist dem zweiten Kapitel eine einführende Vorstellung zugrunde gelegter erkenntnistheoretischer Prämissen vorangestellt. Hier wird u.a. die Funktion theoretischer Bezugnahmen für die Konstruktion von Forschungsgegenständen aus Perspektive der relationalen Gegenstandskonstruktion in den Blick genommen (hierzu Kap. 2.1). Sodann widmet sich das Kapitel dem zentralen Spannungsverhältnis von Biografie und Körper. Die beiden Begriffe werden konzeptionell bestimmt und in ihrer spezifischen Fassung als „sensitizing concepts“ (Blumer 1954: 7) für diese Arbeit beleuchtet. Der Körper wird darin mithilfe (leib-)phänomenologischer Theoriebezüge (hierzu u.a. Merleau-Ponty 1966; Plessner 1975 [1928]; Schmitz 2011a) entworfen und so mit handlungsrelevanten Spür- und Wahrnehmungsqualitäten ausgestattet (hierzu Kap. 2.2). Anschließend werden Bedeutungsgehalte verschiedener Perspektiven auf Biografie sortiert und ein für die Arbeit gewinnbringendes Verständnis von Biografie diskutiert. Mit Konzeptionsarbeiten, die den Gegenstandsbereich auf einen gewissen Möglichkeitshorizont des Ausschnitts sozialer Wirklichkeit engführen, ist notwendigerweise auch eine sozialtheoretische Verortung verbunden. Diese formt mit Blick auf die Anleihen theoretischer Perspektivnahmen, etwa auf den leiblichen Körper, ein leibfundiertes körperliches Subjekt. Daraus ergeben sich Konsequenzen für das Verständnis von Handeln und Erleben. Diese flankieren deshalb auch Überlegungen zur intersubjektiven Fremd- und Selbstverständigung, die mittels der Darlegung grundlegender Annahmen zur Struktur des Fremdverstehens aufgegriffen und beleuchtet werden (hierzu Kap. 2.4.1). Aufgrund der besonderen Eigenschaften, die mit dem Körper im Allgemeinen und mit einem leiblich erlebbaren im Besonderen einhergehen, schließt sich eine Systematisierung von Vermittlungsqualitäten, den Körper zu erleben (hierzu Kap. 2.4.2), über ihn und mit ihm zu kommunizieren (hierzu Kap. 2.4.3), sowie zu den Charakteristika und Herausforderungen seiner Fixierung mit Blick auf die Datenauswertung (hierzu Kap. 2.4.4) an. Im dritten Kapitel richtet sich der Fokus auf bereits vorliegende empirische Studien, die für das Begriffspaar zentral erscheinen. Da der Körper in biografischen Zugängen entweder auf bestimmte Körperaspekte beschränkt bleibt oder Körperkonzepte vorliegen, die sich mit der vorliegenden Arbeit wenig decken (hierzu Kap. 3.1), ist der Fokus auf Körper in ethnografischen Zugängen auszuweiten (hierzu Kap. 3.2). Da das Forschungsfeld für analytische Verstehensprozesse nicht unerheblich ist, sind zudem Vorbemerkungen und eine Rahmung sozialer Welten des Balletts nötig. So beginnt das vierte Kapitel mit der Vorstellung der Begriffskonzeption sozialer (Lebens-)Welten (hierzu Kap. 4.1), woraufhin sich eine Nachzeichnung soziohistorischer Entwicklungen des Balletttanzes anschließt, die speziell die Ausbildung von Körperbildern und -techniken über die Zeit im Blick hat (hierzu Kap. 4.2). Den Abschluss findet der Einblick in das Forschungsfeld mit einer Darlegung institutioneller Ablauf- und Anforderungsstrukturen der Ausbildungs- und Karriereverläufe im Balletttanzbusiness (hierzu Kap. 4.3). Eine Brückenfunktion zwischen ‚Theorie-Teil‘ und ‚Methoden-Teil‘ nimmt das fünfte Kapitel wahr, das ein Zwischenfazit beinhaltet (hierzu Kap. 5.1) und die für die Erhebung konkretisierten Fragestellungen mit Materialanfragen, die erkenntnisleitend zu nutzen sind, abbildet (hierzu Kap. 5.2).

Teil II nimmt den Faden des Teils I, eine sensibilisierende Heuristik zu verdichten, auf und überführt die theoretischen Referenzlinien in einen method( olog)ischen Bezugsrahmen. Da mit Blick auf die Literaturbestände zum Thema allerhöchstens Anleihen für Verfahrensvorschläge methodischer Bearbeitung des Erkenntnisinteresses nutzbar sind, ist eine stellvertretende Verweislogik sowohl auf Methodologien als auch auf vorliegende Methoden nicht umstandslos möglich. Somit sind zugunsten intersubjektiver Nachvollziehbarkeit der Forschungsleistung insgesamt für den Teil II ausführlich Begründungszusammenhänge der Arbeit aufzuzeigen. Dazu wird in einem ersten Abschnitt der Forschungsprozess nachgezeichnet und reflektiert, indem entscheidende Aspekte qualitativen Forschens, die für die Arbeit forschungspraktische Orientierungshilfe leisten, besprochen werden (hierzu Kap. 6.1.1). Als eine bedeutsame Auswahlentscheidung innerhalb eines empirischen Forschungsprozesses werden dann die Samplestrategien dargelegt und ihre konkrete Umsetzung mit Reflexionsanteilen beschrieben (hierzu Kap. 6.1.2). Der erste Abschnitt schließt mit der Dokumentation des statthabenden Forschungsprozesses, wobei die Einblicke in den forschungspraktischen Ablauf nicht nur zum Nachvollzug beschrieben, sondern zugleich mit Reflexionen für die Ergebnisproduktion verbunden werden (hierzu Kap. 6.1.3). Der zweite Abschnitt ist dem Erhebungsinstrument gewidmet. Das narrative Interview wird vorgestellt, um sowohl die methodologischen Voraussetzungen als auch die methodische Durchführung zu klären (hierzu Kap. 6.2.1). Als oft vernachlässigter Inhalt der Dokumentation erhalten das Postskript, seine Theoriefundierung und Funktion für das Datenmaterial sowie nicht zuletzt seine konkrete Erarbeitung im Nachgang eines Interviews Raum für ein eigenes Kapitel (hierzu Kap. 6.2.2). Da zudem konsequent die Einnahme einer Doppelperspektive von einerseits implizit- diffusem (Erleben und Erfahren) und andererseits explizit-reflexivem Wissen (Deuten) angestrebt wird, soll abschließend auf die methodologische Basierung in Form der terminologischen Unterscheidung von Erfahrung und Deutung eingegangen werden (hierzu Kap. 6.2.3). Sodann dokumentiert der nächste und letzte Abschnitt des sechsten Kapitels das Auswertungsinstrument der sozialwissenschaftlichen Prozessanalyse. Hier wird zunächst mit der Offenlegung des verwendeten Transkriptionscodesystems die Verfahrensweise für die Fixierung des Datenmaterials erörtert (hierzu Kap. 6.3.1). Im Anschluss wird die Methodologie der Analysemethode mit samt der vorgenommen Modifikationen dargelegt und weitere Grundlagen der Textinterpretation geklärt (hierzu Kap. 6.3.2). Wie bereits benannt wurde, liegen für (leib-)phänomenologische Fundierungsperspektiven bislang kaum Verfahrensvorschläge für empirische Untersuchungen körperbezogener Erlebensstrukturen vor. Deshalb war die Empirisierung des Forschungsgegenstands „Erlebter Körper“ ohne Rückgriffoption auf etablierte Method(ologi)en in den Forschungsprozess selbst hineinzuverlagern. Die sozialwissenschaftliche Prozessanalyse berücksichtigt zwar die Trennung von Wissensebenen (vgl. u.a. Schütze et al. 2016) und entspricht den grundlegenden Prämissen der Forschungsarbeit weitestgehend. Damit über körperbezogene Deutungsstrukturen hinaus aber auch Körpererleben und Affekte durch erfahrungsbezogene Kontexte verstehbar sind, war die Analysemethode in Form der Einarbeitung einer ‚leibzentrierten Körperheuristik‘ zu modifizieren (vgl. Gabriel/Ludwig 2018). Die Modifikation und ihre Konsequenzen für die konkreten Auswertungsschritte werden ebenfalls im Kapitel zur Auswertungsmethode vorgestellt (hierzu Kap. 6.3.3), bevor im Nachgang auf die Verfahrensweise der Ebenenvermittlung und Fallkontrastierung eingegangen wird (hierzu Kap. 6.3.4).

In Teil III der Arbeit werden die rekonstruierten Fälle, die als Eckfälle lokalisiert wurden, angeschlossen an eine Vorbemerkung zur Auswahl und Darstellungsweise der Fallstudien (hierzu Kap. 7.1) vorgestellt. Der Auswertungsschritt der strukturell-inhaltlichen Beschreibung wird anhand eines Falles illustrativ aufgezeigt (hierzu Kap. 7.2.2). Ziel ist es, in Ausschnitten aufzuzeigen, wie dieser Auswertungsteil stellvertretend für alle Einzelfallanalysen innerhalb der vorliegenden Arbeit umgesetzt wurde. Insgesamt werden im ersten Abschnitt des dritten Teils vier Fallporträts, die als Prototypen für die herausgearbeiteten Erlebensperspektiven des eigenen Körpers zu verstehen sind, abgebildet. Als Modus der Darstellung ist jeweilig eine Falleinführung in Form von Bemerkungen zum Interview (etwa zur Kontaktherstellung oder zu formalsprachlichen Darstellungseigenheiten) gewählt worden, der sich das jeweilige Fallporträt und eine -zusammenfassung anschließen. Die Fallporträts sind so aufgebaut, dass sie sowohl die Erfahrungsaufschichtung als auch extrahierten Deutungsstrukturen beinhalten. Der nachfolgende zweite Abschnitt entwirft über den schrittweise durchgeführten kontrastiven Vergleich der Fälle fallübergreifende Befunde. Dabei wird der Verhältnissetzung des subjektiven Erlebens des eigenen Körpers mit dem biografischen Verlauf so nachgegangen, dass zentrale Strukturierungsphasen und biografische Schlüsselpositionen identifiziert und nacheinander dargelegt werden (hierzu Kap. 8). Nach kurzer Vorbemerkung zur Kapitelstruktur werden die als wesentlich herausgearbeiteten lebensgeschichtlichen Phasen und Schlüsselpositionen entlang einer verlaufslogischen Perspektive – beginnend mit primärsozialisatorischen Kontexten wie den Bedingungen des Aufwachsen und erster Tanzerfahrungen (hierzu Kap. 8.1) über typische Erlebensmuster in Begutachtungsphasen (hierzu Kap. 8.2), die Bedeutung signifikanter anderer sowie zentraler Opponenten (hierzu Kap. 8.3), Gefahren für die Ausbildungskarriere (hierzu Kap. 8.4) und Ausbildungsperspektiven mit Blick auf ihr inhärentes Körperverständnis (hierzu Kap. 8.5) bis hin zu den identifizierten Erfahrungs- und Deutungsstrukturen der finalen Ausbildungsphase und des weiteren Karriereverlaufs (hierzu Kap. 6) – vorgestellt und das Verhältnis von Körper und Biografie diskutiert.

Der nachfolgende Teil IV dient der Bündelung der beiden zentralen Erkentnisebenen in Form von Entwurfzeichnungen phänomenspezifischer Theorietisierungen und Methodenentwicklung. Eingangs verdichtet und diskutiert das neunte Kapitel die Ebene der Erkenntnisgewinnung im Sinne der Fragestellungen nach der Verwobenheit von Körper und Biografie. Dabei werden die erarbeiteten Prototypen mit dem Ziel, die Erlebensperspektiven des leiblichen Körpers zu systematisieren, in Form einer Typologie von stärker fallspezifischen Regelmäßigkeiten getrennt, in ihrer Verdichtung beschrieben und mit Blick auf den Geltungsbereich diskutiert (hierzu Kap. 9.1). Auch die Befunde aus den Fallkontrastierungen zu den zentralen Strukturierungsphasen und biografischen Schlüsselpositionen aus dem achten Kapitel werden im nachfolgenden Abschnitt als Theorieentwürfe zur biografischen Relevanz des leiblichen Körpers einer weiteren Abstraktion zugeführt. Ziel hierbei ist, allgemeine Mechanismen zur Aufschichtung von Körpererfahrungen und Ausbildung von -deutungsstrukturen zu lokalisieren (hierzu Kap. 9.2). Diese Bündelung der ersten Erkenntnisebene schließt sodann mit Überlegungen zur Intergration des erarbeiteten Körperbegriffs in die Handlungstheorie Meads ab (hierzu Kap. 9.3). Die Befundnahmen zweiter Erkenntnisebene, die auf die Method(ologi)en bezogen ist, lassen auf der einen Seite Nachbemerkungen zur Triade der Phänomenbereiche des Erlebens zu, die die Vorstellung und Diskussion eines erarbeiteten Strukturmodells zum Gegenstand hat. Als abschließende Reflexion der Methodologie werden darin Funktionsbereiche für das Erleben differenziert und Anschlüsse für weitere Unterschungen zum leiblichen Körper eröffnet (hierzu Kap. 10.1). Mit der leibfundierten Prozessstrukturtypologie werden auf der anderen Seite forschungspraktische Vorschläge zur entwickelten Heuristik im Spiegel der Modifizierung durch die Anreicherung mit (leib-)phänomenologischen Theoriebezügen diskutiert (hierzu Kap. 10.2). Abschließend nimmt sich das zehnte Kapitel einer allgemeinen Methodendiskussion an. Im Zentrum steht die Betrachtung der Verbindung von Biografie und Diskurs, die in Perspektive der Anwendungserfahrungen mit der sozialwissenschaftlichen Prozessanalyse geführt wird (hierzu Kap. 10.3).

Zu guter Letzt schließt die Arbeit final mit einem zusammenfassenden Abriss als Komprimierung wesentlicher Erkenntnisse und einer Skizzierung offener Fragen sowie einem Ausblick ab (hierzu Kap. 11).

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3 Der Body Turn, der die Wende des gewachsenen Interesses am Körper und dessen dezidierten Einbezug in wissenschaftliche Theoriebildung benennt, wird ab den 1970er-Jahren in Gang gesetzt. Seine Motorisierung wird für gewöhnlich in Verbindung mit „sozialen, ökonomischen, kulturellen, politische, medialen und technologischen Prozessen“ (Gugutzer et al. 2017c: V, 2017d: V) gesehen, etwa mit der Ausbreitung neuer Zivilisationskrankheiten und Epidemien, dem Beginn eines Jugendlichkeitskults, der Ausdifferenzierung von Massenmedien, der Implementierung medizin- bzw. biotechnologischer Innovationen usw. (ebd.).

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Qualitative Fall- und Prozessanalysen. Biographie – Interaktion – soziale Welten, Band 20

 

© Unsplash 2022 / Foto: Samantha Weisburg