„Unterricht, der auf der Selbstregulation des Schülerlernens basiert, wird zum Prüfstein für die Lernfähigkeiten und Lernbereitschaft.“ – Interview mit Robert Hilbe, Autor von „Selbst organisiertes Lernen am Gymnasium”

hellblaue Grafik zum Interview mit Budrich-Autor Robert Hilbe

Buchcover weiß-türkis von Robert HilbeSelbst organisiertes Lernen am Gymnasium
Eine Untersuchung interindividueller Unterschiede bei Schülerinnen und Schülern im Umgang mit der Lernerautonomie

von Robert Hilbe

 

 

 

 

Über das Buch

Selbständige Wissensaneignung und Lernorganisation sind Schlüsselqualifikationen der Informationsgesellschaft. Die Mixed-Methods-Studie untersucht interindividuelle Unterschiede bei Schülerinnen und Schülern im Umgang mit dem selbst organisierten Lernen am Gymnasium. Es werden vier Lernertypen identifiziert, die durch eine inhaltsanalytische Auswertung von Interviews und zwei Fallbeispiele genauer charakterisiert werden. Aus den Ergebnissen werden Empfehlungen für die Gestaltung selbst organisierter Lerneinheiten abgeleitet.

 

Lieber Robert Hilbe, bitte fassen Sie den Inhalt Ihrer aktuellen Publikation Selbst organisiertes Lernen am Gymnasium für unsere Leser*innen zusammen.

In meiner Dissertation habe ich Schülerinnen und Schüler der Gymnasien des Kantons Bern zu ihrem selbst organisierten Lernen befragt. Ich wollte herausfinden, weshalb es einigen besser gelingt, mit den Freiheiten beim selbständigen Lernen umzugehen und anderen weniger. Was unterscheidet jene, die das «Heft» des Lernens in die Hand nehmen und es zu ihrer persönlichen Sache machen, von jenen, denen dies nicht gelingt? Dies war mein zentrales Erkenntnisinteresse, das mich dazu motivierte, mich interindividuellen Differenzen beim selbst organisierten Lernen zu widmen.

Erfolgreiches selbst organisiertes Lernen kann als «fusion of skill and will» (Paris und Paris 2001, S. 98) verstanden werden. Neben den entscheidenden kognitiven und metakognitiven Fähigkeiten muss eine selbständig lernende Person auch die nötige Lernmotivation aufweisen, um die teilweise anstrengenden und anspruchsvollen Lernhandlungen selbst auszuführen. In meiner Untersuchung bin ich deshalb davon ausgegangen, dass sich Lernende sowohl hinsichtlich der notwendigen Fähigkeiten zur Selbstregulation des Lernens (skill) als auch bezüglich der motivationalen Voraussetzungen zum Lernen (will) unterscheiden. Im lehrerzentrierten Unterricht erwarten die Lernenden von der Lehrperson, dass sie die Kontrolle darüber hat, was, wie und wann gelernt wird. Beim selbst organisierten Lernen hingegen sind die Schülerinnen und Schüler selbst gefordert, diese Entscheidungen teilweise selbst zu treffen. Ein Unterricht, der auf der Selbstregulation des Schülerlernens basiert, wird gewissermaßen zum Prüfstein für die Lernfähigkeiten und Lernbereitschaft der Schülerinnen und Schüler. Er akzentuiert Unterschiede in den Dispositionen und im Verhalten der Lernenden, die auch im traditionellen, stärker lehrerorientierten Unterricht vorhanden sind, aufgrund der stärkeren Steuerung durch die Lehrperson aber weniger stark ins Gewicht fallen. Im Zentrum meiner Studie steht daher die Frage nach den differenziellen Effekten des selbst organisierten Lernens in Abhängigkeit von persönlichen Voraussetzungen und Vorstellungen der Lernenden.

Für meine Untersuchung habe ich einen methodischen Zugang gewählt, der quantitative und qualitative Daten in einer Mixed-Methods-Studie verbindet. Ausgehend von einer quantitativen Befragung der Schülerinnen und Schüler mittels Fragebogen wurde durch Clusteranalyse eine Typologie von Lernenden gebildet und eine Auswahl von Schülerinnen und Schüler jedes Lernertyps für qualitative, leitfadengestützte Interviews zu ihrem Lernen getroffen. Ziel dieser qualitativen Vertiefung war es, die unterschiedlichen Sichtweisen und Interpretationen der Lernenden zu erfassen, die zur Erklärung der quantitativen Unterschiede zwischen den Typen beitragen können. Als bedeutend erwiesen sich dabei unter anderem die subjektiven Vorstellungen von gelingendem Lehren und Lernen aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, eine Studie zum Thema selbst organisiertes Lernen durchzuführen? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?

Meine Dissertation stützt sich auf Daten, die im Rahmen des Projekts «Selbst organisiertes Lernen an den Berner Gymnasien» im Zeitraum von September 2012 bis Juni 2014 erhoben wurden. Als Assistent an der Abteilung Pädagogische Psychologie des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Bern, an der ich zu dieser Zeit angestellt war, wurde ich mit der Evaluation von Unterrichtseinheiten beauftragt, die das selbst organisierte Lernen in verschiedenen Fächern fördern sollten. Im Rahmen der Evaluation wurden 1363 Schüler aus 85 Klassen mit standardisierten Fragebogen befragt. Der Fokus der Evaluation lag primär auf der Wahrnehmung der Unterrichtseinheiten durch die Schülerinnen und Schüler, wobei nur quantitative Daten erfasst wurden. Diese Daten konnten jedoch nicht erklären, weshalb dieselben SOL-Unterrichtseinheiten von Schülerinnen und Schülern sehr unterschiedlich erlebt wurde. Deshalb bin ich auf die Idee gekommen, in meiner Dissertation eine qualitative Vertiefungsstudie durchzuführen.

Mich interessierte dabei, inwiefern grundsätzliche subjektive Vorstellungen von (schulischem) Lernen und Lehren von Schülerinnen und Schülern und damit verbundene Erwartungen an den schulischen Unterricht mit Unterschieden in der Motivation zum selbst organisierten Lernen, der Wahrnehmung des SOL-Unterrichts und dem Umgang mit dem selbst organisierten Lernen am Gymnasium zusammenhängen. Mit diesem Fokus bin ich mit meiner Dissertation auf das von Phan (2008) formulierte Forschungsdesiderat eingegangen, die subjektiven Lernauffassungen bei der Untersuchung des selbst organisierten Lernens genauer zu betrachten.

 

Wie würden Sie die Ergebnisse Ihrer Studie zusammenfassen?

Ich quantitativen Teil meiner Studie konnte ich vier unterschiedliche Lernertypen identifizieren, die sich in Bezug auf ihre Selbstwirksamkeitserwartungen für das selbst organisierte sowie für das fachliche Lernen unterscheiden. Der statistische Vergleich dieser Lernertypen zeigte signifikante Unterschiede zwischen diesen Typen in Bezug auf die Wahrnehmung des SOL-Unterrichts, Motivation und Anstrengung, schulische Fähigkeitseinschätzungen, psychologische Lernvoraussetzungen, die Nutzung von Lernstrategien und die Entwicklung der Fähigkeitseinschätzungen im Verlauf des SOL-Unterrichts. Mit der qualitativen Vertiefung in Form der Interviewstudie konnten Unterschiede in den Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler gefunden werden, die zur Präzisierung der quantitativen Ergebnisse beitragen und diese teilweise auch erklären. So zeigte sich, dass Unterschiede in der Wahrnehmung und der Motivation beim selbst organisierten Lernen gekoppelt sind mit spezifischen Vorstellungen der Schülerinnen und Schülern von Lehren und Lernen.

 

Welches sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Schlüsse, die sich aus Ihren Erkenntnissen für die Schulpraxis ziehen lassen?

Der Typenvergleich macht deutlich, dass Schülerinnen und Schüler in Abhängigkeit von ihren persönlichen Lernvoraussetzungen und subjektiven Vorstellungen sehr unterschiedlich mit dem selbst organisierten Lernen umgehen. Dies bedeutet, dass Lehrpersonen diese individuellen Differenzen berücksichtigen und die Lernenden – in Abhängigkeit von ihren individuellen Voraussetzungen – erst zur Selbstorganisation ihres Lernens befähigen müssen. Die Schule als Institution und die Lehrkräfte als handelnde Personen tragen dafür Verantwortung, dass das selbst organisierte Lernen zum realistischen Ziel des gymnasialen Unterrichts werden kann und nicht bloß als Unterrichtsmethode eingesetzt wird. Die Lehrpersonen sollten dabei nicht nur die technischen Aspekte des selbst organisierten Lernens in Form geeigneter Lernstrategien vermitteln, sondern auch die subjektiven Lernauffassungen und -zugänge der Lernenden berücksichtigen. Lernen sollte den Schülerinnen und Schülern als ein zwar herausfordernder, aber spannender, lebenslanger Pfad vermittelt werden, der zu einer Veränderung der Person und der Sicht auf die Welt führen kann und damit nicht nur auf die Schule beschränkt ist. Im Einstiegszitat in der Einleitung meiner Dissertation heißt es: „Serious students […] may be ones for whom learning is an important part of self-concept“ (Bereiter 1990, S. 616). Lehrpersonen, die durch die Schaffung einer interessanten, förderorientierten, angstfreien und ergebnisoffenen Lernatmosphäre erreichen, Schülerinnen und Schülern zu dieser Einsicht zu verhelfen und damit das Vertrauen in die eigenen Lernfähigkeiten stärken, tragen dazu bei, dass das gymnasiale Bildungsziel der Vermittlung grundlegender Kenntnisse für ein lebenslanges Lernen erreicht werden kann.

 

Darum bin ich Autor bei Budrich

Mit war es wichtig, dass die Ergebnisse meiner Dissertation im Open Access veröffentlicht werden, damit sie der Allgemeinheit im Sinne von «Open Science» ohne Kosten zugutekommen. Ich habe deshalb eine Open-Access-Publikationsförderung beim Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) beantragt und erhalten. Budrich Academic Press war der ideale Partner für die Veröffentlichung im Open Access, da der Verlag bereits viel Erfahrung damit hat. Die Betreuung während des Lektorats und der Erstellung der Druckvorlage waren optimal, wofür ich mich an dieser Stelle nochmals herzlich beim Verlag bedanken möchte. Ich kann die Zusammenarbeit mit dem Verlag Barbara Budrich daher sehr empfehlen.

 

Kurzvita in eigenen Worten

MAnn im Hemd mit Brille lächeltRobert Hilbe studierte Erziehungswissenschaft und Germanistik an der Universität Bern und war Assistent an der Abteilung Pädagogische Psychologie. Seit 2015 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Pädagogischen Hochschule des Kantons St. Gallen in der Schweiz in verschiedenen Forschungs- und Entwicklungsprojekten im Bereich Sprachen tätig, u.a. im SNF-Projekt „Study Abroad for Multilingualism“.

 

 

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