„Grundlegende Wechsel im Wahlsystemtyp sind rar.“ – Interview mit Dieter Nohlen, Autor von „Wahlrecht und Parteiensystem“

Interview mit Dieter Nohlen, Autor von "Wahlrecht und Parteiensystem" (8. Auflage)

Inwiefern formen Wahlrecht und Wahlsystem die Parteiensysteme? Lassen sich gesetzmäßige Beziehungen feststellen? Welche Bedeutung kommt den gesellschaftlichen und politischen Kontexten zu? Wir haben ein Interview mit Dieter Nohlen, Autor von „Wahlrecht und Parteiensystem“, geführt.

 

Über das Buch

Wahlrecht und Parteiensystem thematisiert vor allem Wahlsysteme in Geschichte und Gegenwart in ihren Auswirkungen auf Parteiensysteme, und, wie es der Untertitel verheißt, auf zwei Ebenen. Auf der theoretischen Ebene wird eine allgemeine Wahlsystematik entfaltet: sie enthält das Begriffs- und Funktionsverständnis von Wahlsystemen, einzelne ihrer Elemente, deren Zusammenwirken, Klassen von Wahlsystemen sowie deren Auswirkungen und Bewertungen anhand dargelegter Kriterien. Auf der empirischen Ebene werden die in der Welt anzutreffenden Wahlsysteme erhoben und einige von ihnen, die als Beispiele für Typen von Wahlsystemen dienen können, einer genaueren Untersuchung unterzogen. All das läuft im Schlusskapitel darauf hinaus, Theorie und Empirie miteinander zu verknüpfen und den multifaktoriellen Zusammenhang von Wahlsystem und Parteiensystem anhand verschiedener spezifischer Fragestellungen systematisch darzustellen.

 

Interview mit Dieter Nohlen

 

Lieber Dieter Nohlen, worum geht es in Wahlrecht und Parteiensystem?

Im Grunde geht es um die Auswirkungen von Wahlsystemen auf Parteiensysteme, eine klassische Frage der Politikwissenschaft, die aus verschiedenen Perspektiven ganz unterschiedlich beantwortet wurde. Bestimmten Wahlsystemen maß man gelegentlich entscheidende Bedeutung für die Struktur und das Schicksal von Demokratien zu. Meine Schrift klärt die theoretischen Zusammenhänge, etwa den Aufbau von Wahlsystemen, die Wirkung einzelner Elemente, die Bedeutung historischer und gesellschaftlicher Faktoren für die Wirkweise von Wahlsystemen, etc. Sie klärt Klassifikationsfragen. Wählen wir zum Bundestag nach personalisierter Verhältniswahl oder nach einem Mischsystem? Zu welcher Antwort neigt das Bundesverfassungsgericht? Mit welchen Folgen? Die Schrift beschreibt und ordnet die Wahlsysteme weltweit und untersucht vertieft einzelne Länder, deren Wahlsysteme als Vertreter von Wahlsystemtypen hervorstechen, beispielsweise Frankreich, Irland, Spanien.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, die 1. Auflage dieses Buches zu schreiben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?

Angesichts meiner bis dato bereits jahrzehntelangen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Gegenstand und umfangreichen Publikationen wollte ich eine handlichere Schrift für ein breiteres Publikum vorlegen, die gleichzeitig so etwas wie die Summe meiner Forschungsergebnisse bieten würde.

 

Inwiefern unterscheidet sich die 8. Auflage konkret von der vorherigen?

Weltweit finden unentwegt Wahlreformen statt. Welche Bedeutung kommt ihnen zu? Ich habe strikt zwischen Reformen unterschieden, die den Wahlsystemtyp wechseln und solchen, die nur Anpassungen der bestehenden Wahlsysteme an veränderte Umstände bedeuten (etwa Reformen der Wahlkreise an demographische Veränderungen). Die achte Auflage hält die Wahlreformen nach, die im letzten Jahrzehnt stattgefunden haben, und bewertet deren Tragweite. Eine meiner weitverbreiteten Thesen lautet, dass grundlegende Wechsel im Wahlsystemtyp rar sind. Dort, wo sie allerdings diskutiert oder sogar durchgeführt werden, erwecken sie meine besondere Aufmerksamkeit. In der achten Auflage ist deshalb beispielsweise der Beitrag zu Italien erheblich erweitert worden.

 

Gibt es besondere Herausforderungen bei den Neuauflagen von Wahlrecht und Parteiensystem? Wie begegnen Sie diesen?

Nein, eigentlich nicht, heute viel weniger als in den ersten Jahrzehnten meiner Beschäftigung mit Wahlsystemen, als die reine Informationsbeschaffung viel Aufwand erforderte. Schön daran war, dass ich in etliche Länder reisen konnte, um mir vor Ort die notwendigen Informationen zu beschaffen. Heute setze ich mich vor den Computer. Herausfordernd ist gelegentlich nur, dass für die international vergleichende Analyse entscheidende Daten nicht digital geliefert werden und knifflige Recherchen notwendig machen, um etwa historische Zeitreihen fortschreiben zu können. Im Übrigen hat die Politikberatung vor Ort meinen Erfahrungshorizont erweitert, was sich in den jeweiligen Aktualisierungen der Schrift niederschlägt, freilich die Schrift immer umfangreicher hat werden lassen.

 

Darum bin ich Autor bei Budrich

Mit Budrich verbindet mich eine lange Kooperation, beginnend in Zeiten, als der Verlag noch Leske + Budrich hieß und ich mit dem Vater der heutigen Besitzerin persönlich zusammenkam, um Buchprojekte zu besprechen. Aber auch in den neueren Zeiten habe ich mich im Verlag Barbara Budrich als Autor immer sehr wohl gefühlt, wovon auch die kontinuierlichen Neuauflagen von Wahlrecht und Parteiensystem zeugen.

 

Kurzvita von Dieter Nohlen in eigenen Worten

Interview mit Dieter NohlenDieter Nohlen, Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult.,  studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Romanistik an den Universitäten zu Köln, Montpellier und Heidelberg, promovierte dort 1967 in Politikwissenschaft bei Dolf Sternberger über den spanischen Parlamentarismus im 19. Jahrhundert und habilitierte sich an der Universität Tübingen bei Klaus von Beyme 1973 zum Thema „Chile. Das sozialistische Experiment“. 1974 wurde er an die Universität Heidelberg berufen, 1990-1992 war er dort Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät. Nohlen erhielt viele Auszeichnungen, u.a. den Max Planck Forschungspreis (1990), das Ehrendiplom der Universität Panthéon Paris II für Wahladministration (2005) sowie mehrere Ehrendoktorwürden von Universitäten in Argentinien, Mexiko und Peru. Sein thematischer Schwerpunkt ist die vergleichende Analyse politischer Systeme, angereichert durch zwischenzeitliche Forschungen zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Entwicklungsländer. In diesem breiteren Spektrum hat Nohlen viele Handbücher und Lexika (etwa das Handbuch der Dritten Welt (8 Bände, 3 Auflagen) vorgelegt, in den letzten beiden Jahrzehnten freilich hauptsächlich auf Spanisch und in der spanisch-sprachigen Welt publiziert.

 

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Cover "Wahlrecht und Parteiensystem. Zur Theorie und Empirie der Wahlsysteme 8. Auflage"Dieter Nohlen:

Wahlrecht und Parteiensystem. Zur Theorie und Empirie der Wahlsysteme

8., aktualisierte Auflage

 

 

 

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© Foto Dieter Nohlen: privat | Titelbild gestaltet mit canva.com