„Am Ende sind die Leserinnen und Leser nicht mehr dieselben.“ – Interview mit Andreas Böss-Ostendorf, Autor von „Wie Seelsorge wirken kann“

Interview mit Andreas Böss-Ostendorf, Autor von "Wie Seelsorge wirken kann"

Ist es eine Herausforderung für viele Seelsorgende, den Wert ihrer Arbeit besser einzuschätzen? Gibt es Aspekte der Seelsorge, die künftig noch stärker in den Fokus rücken sollten? Wir haben ein Interview mit Andreas Böss-Ostendorf, Autor von „Wie Seelsorge wirken kann“, geführt.

 

Über das Buch

Seelsorge wird bei Notfällen, Katastrophen oder in Krisen geleistet. In Krankenhäusern, Altenheimen, Schulen, Betrieben, Gefängnissen, Universitäten, Flüchtlingsunterkünften oder als Telefonseelsorge ist sie Teil des gesellschaftlichen Care-Systems. Sie wird als Disziplin der sozialen Arbeit genutzt und anerkannt. Aber es besteht auch eine gewisse Skepsis: Seelsorge? Kann nicht schaden – aber ob sie auch hilft? Wie wirkt Seelsorge überhaupt?

 

Interview mit Andreas Böss-Ostendorf

 

Lieber Andreas Böss-Ostendorf, worum geht es in Wie Seelsorge wirken kann?

Um die Beantwortung der Frage: Wie kann Seelsorge wirken?

Wenn über Notfälle und Katastrophen berichtet wird, heißt es oft: „Seelsorger und Seelsorgerinnen sind im Einsatz.“ Das scheint beruhigend zu wirken. Warum eigentlich? Kann Seelsorge in der Not und in unfassbaren Situationen wirklich helfen? Und wenn ja wie? Das Buch beschreibt 10 Wirkweisen der Seelsorge und begründet sie fachlich. Darüber hinaus lädt es dazu ein, nach weiteren Wirkfaktoren in der Praxis zu suchen.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch zu schreiben? Gab es einen „Stein des Anstoßes“?

Wenn Seelsorger oder Seelsorgerinnen gefragt werden: „Was machen Sie eigentlich in der Seelsorge?“ klingen die Antworten meistens sehr allgemein: da sein, zuhören, beistehen. Seit den 1990er Jahren wird in der Psychotherapie über „Wirkfaktoren“ gesprochen. Das brachte mich auf die Idee, nach Wirkfaktoren in meiner seesorglichen Arbeit zu suchen. Und tatsächlich stieß ich auf konkrete Wirkweisen, die ich sammeln und beschreiben konnte.

Ein Buch zu schreiben bedeutet für mich vor allem, sich auf den Leseprozess anderer Menschen einzulassen und ihn möglichst in Gang zu halten. Ein Thema zu behandeln und viele Informationen zu präsentieren, dafür gibt es effektivere und einfachere Möglichkeiten im Internet. Ich möchte über die geschriebenen Worte Kontakt zu den Lesenden aufnehmen und mit ihnen, wenn möglich, in einen Dialog treten und Wandel bewirken. Das kann ein Buch wie kein anderes Medium. Ein fassbarer Gegenstand, in diesem Fall 221 Gramm schwer, begleitet eine Person in ihrem Alltag. Immer wieder kann sie das Buch aufschlagen, darin lesen, etwas reinschreiben, über die Gedanken des Autors nachdenken und eigene Ideen dazu entwickeln. Am Ende sind die Leserinnen und Leser nicht mehr dieselben. Der Schreib- und Leseprozess eines Buches erinnert mich an das, was ich auch als Seelsorger tue: Sinnschöpfung durch Interaktion und das Teilen von Gedanken.

 

Sie schreiben, dass Ihr Buch der Selbstvergewisserung der Seelsorgenden dient, den Wert ihrer Arbeit besser einzuschätzen. Ist dies Ihrer Einschätzung nach derzeit noch eine Herausforderung für viele Seelsorgende?

Sie treffen mit dieser Frage den Nagel auf den Kopf, denn zurzeit gibt es viele Veränderungen im Bereich der Seelsorge, die verunsichern können: Seelsorge ist kein geschützter Begriff, es gibt keine Qualitätsstandards für die Ausbildung und den Dienst von Seelsorger*innen, die Kirchen können ihr seelsorgliches Angebot aus verschiedenen Gründen nicht mehr im gewohnten Maße aufrecht erhalten, Seelsorge ist nicht mehr auf Religionen begrenzt, der Kreis der Seelsorgenden erweitert sich um viele ehrenamtliche Seelsorger*innen. Zu jedem dieser Aspekte könnte man ein eigenes Buch schreiben und das geschieht ja auch. Ganz bewusst habe ich den Lesenden die Diskussion der Umbrüche im Bereich der Seelsorge erspart, sondern bin gleich zu den Wirkweisen der Seelsorge gekommen. Wie auch immer Seelsorge praktiziert wird: Auf die Wirkweisen kommt es an.

Ganz konnte ich den Leser*innen die fachliche Diskussion über das Format Seelsorge aber nicht ersparen. Es gibt nämlich ein Buch im Buch. Jede Wirkweise hat ein kleingedrucktes Hintergrundkapitel, in dem Leser*innen grundlegende Fachinformationen und weiterführende Literatur finden können.

 

Gibt es Aspekte der Seelsorge, die Ihrer Einschätzung nach künftig noch stärker in den Fokus rücken könnten?

Mein Hauptanliegen in diesem Buch ist, die Aufmerksamkeit auf die Wirkweisen der Seelsorge zu richten. Wenn ich erkennen kann, was jetzt gerade in diesem Gespräch wirkt, entdecke ich auch, was Seelsorge ausmacht. Das könnte für alle in der Seelsorge Tätigen hilfreich sein.

Wichtig wurde mir, dass Seelsorge ohne Absichten dem Gegenüber begegnet, dass man sich auf die Situation einlässt. Beim Schreiben ist mir die Bedeutung der symbolischen Interaktion und der Perspektivenwechsel in den Gesprächen aufgefallen und wie Lebensdeutung mit Spiritualität und Religion zusammenhängt. Diese Aspekte habe ich so noch nicht gelesen.

Was mir durch den Schreibprozess und durch die Gespräche mit den Leser*innen der Diskursversion besonders klar wurde ist, dass die eigentlichen Seelsorger*innen die Menschen sind, denen ich begegne. Sie machen sich Sorge um ihr Leben, um ihr Dasein und ihre Seele. Ich bin der, der mit ihnen Kontakt aufnimmt und ein Gespräch führt, sodass sie allmählich ihre Balance und Identität wiederfinden.

 

Darum bin ich Autor bei Budrich

Ich schätze am Barbara Budrich Verlag die sorgfältige Projektbegleitung. Ein Buch entsteht ja nicht dadurch, dass ein Text gedruckt wird, sondern dass sich aus einer Idee ein Text formt, der zu einem Buch wird.

Die Mitarbeiter:innen des Verlages rücken die Leserinnen und Leser in den Vordergrund. Für mich als Autor ist das immer eine Herausforderung. Meine am Schreibtisch entworfenen Gedanken werden manchmal ordentlich durcheinandergewirbelt: Das Lektorat hinterfragt Titel, Gliederung und Sprachstil. Ich werde aufgefordert, kurze, prägnante Buchbeschreibungen zu formulieren. Die Korrektorin kritisiert einzelne Formulierungen im Text und das ganz zu Recht. Der Grafiker hat andere Vorstellungen vom Umschlag. Aber am Ende entsteht ein Buch, das besser geworden ist als in meiner Vorstellung. Darum bin ich gerne Autor bei Budrich.

 

Kurzvita von Andreas Böss-Ostendorf in eigenen Worten

Zuerst habe ich Theologie in Frankfurt an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen studiert und war anschließend Seelsorger in einer Kirchengemeinde mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendarbeit. Mich faszinierte die menschliche Entwicklung und so studierte ich nochmal an der Goethe-Universität Frankfurt Diplompädagogik.

Mit diesem Abschluss wechselte ich in die Hochschulseelsorge und entwickelte 1995 zusammen mit Kollegen ein Prüfungscoaching-Konzept. Die Ausbildung zum Gruppenanalytiker am IGA Heidelberg ermöglichte mir, Selbsterfahrungsangebote für Hochschulangehörige durchzuführen. Mit Holger Senft schieb ich ab 2001 den Prüfungs- und Lerncoach „Beat it“ (Campus 2005).

Barbara Budrich, die damals ihren Verlag gründete, brachte uns auf die Idee, einen Ratgeber für Hochschullehrer:innen zu schreiben, in dem wir beschreiben, wie Hochschullehre gestaltet werden müsste, damit Studierende gut lernen können. Daraus ist die Einführung in die Hochschullehre im Barbara Budrich Verlag (2010, aktuell in der 3. Auflage 2018 erhältlich) entstanden.

2012 wechselte ich die Stelle und wurde Referent für Sozialpastoral in der Katholischen Stadtkirche Frankfurt. Ein Schwerpunkt war die Koordination der Flüchtlingshilfe 2015-2018. Die sogenannte „Flüchtlingswelle“ löste eine Welle von ehrenamtlicher Hilfe aus, die seelsorglich begleitet wurde. Bald nachdem ich 2018 in die Krankenhausseelsorge wechselte, beschäftigte ich mich mit der Frage nach den Wirkfaktoren der Seelsorge. Meine berufliche Laufbahn verlief immer zwischen Praxis und Theorie oder anders ausgedrückt: zwischen Aktion und Reflektion.

 

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Cover "Wie Seelsorge wirken kann. Impulse für die Praxis"Andreas Böss-Ostendorf:

Wie Seelsorge wirken kann. Impulse für die Praxis

 

 

 

 

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